Erich Sauer
Schriften von Erich Sauer
Das Morgenrot der Welterlösung
Dritter Teil: Die vorlaufende Heilsoffenbarung
C. Warum gab Gott das mosaische Gesetz?
6. Kapitel: Der Todesweg desGesetzes6. Kapitel: Der Todesweg desGesetzes
,,Der Buchstabe tötet” (2Kor 3,6).
Das Gesetz ist ein Organismus und darum eine unteilbare Einheit. „So jemand das ganze Gesetz hält und sündigt an einem, der ist’s ganz schuldig” (Jak 2,10; Gal 3,10).
Falsch ist darum jede Unterscheidung eines Moral„gesetzes" und eines Zeremonial„gesetzes", weil dadurch der Eindruck entsteht, als gäbe es zwei Gesetze, von denen das eine - etwa das „Zeremonial"gesetz - im Werk Christi erfüllt sein könnte, das andere aber nicht. 226
Dennoch ist das Gesetz, wie jeder Organismus, in Glieder einteilbar; und in diesem Sinne hat es drei gliedhafte Gruppen von Verordnungen: die Sittenbestimmungen, die Gottesdienstbestimmungen die Sozialbestimungen. Von diesen haben besonders die ersten zwei heilsgeschichtliche Bedeutung. 227
Durch Gesetz wird Erkenntnis bewirkt (Röm 3,20), und zwar:
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Erkenntnis der Sünde - als Zielverfehlung, Übertretung, Empörung.
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Selbsterkenntnis des Sünders - seine Sündhaftigkeit, Kraftlosigkeit, Verlorenheit.
I. Erkenntnis der Sünde
Diese verläuft in drei Stufen. Die Sünde ist:
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Zielverfehlung. 228 In absolutem Sinne gibt es „Sünde" nur gegen Gott. „Gegen dich, gegen dich allein habe ich gesündigt” (Ps 51,6). Aber der Sünder ist blind (Eph 4,18; 19), sein Gewissen ist trughaft (Apg 23,1; 1Tim 1,13; 1Kor 4,4), und er erkennt nicht das göttliche Ideal. Darum muß es ihm unzweideutig durch Offenbarung kundgetan werden. Dies geschieht durch das Gesetz. Es ist die auf der Schaubühne der Weltgeschichte als Musterbeispiel gegebene Kundgebung des göttlichen Willens für das moralische Verhalten der Menschen. 229 Erst so wird offenbar, was „Zielverfehlung" ist. Aber die Sünde ist mehr. 230 Sie muß schonungslos entlarvt werden. Sie ist
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Ungehorsam, Übertretung, Gesetzlosigkeit (Röm 5,19; Heb 2,2; 1Joh 3,4). Darum darf das Gesetz das Ideal nicht nur beschreiben, sondern muß es vorschreiben, muß es fordern, muß gebieten, muß verlangen, daß der Mensch es erfüllt, muß eben „Gesetz” werden.
Damit aber wird der Charakter der Sünde gesteigert. Denn wo es keine Grenzlinie gibt, kann man auch nicht von Grenz„überschreitung" reden. „Wo kein Gesetz ist, da ist auch keine Übertretung” (Röm 4,15). Aber wo es sie gibt, ist, im Falle der Nichtbefolgung, auch letztere vorhanden. Zwar gab es schon vor Mose immer wieder von Fall zu Fall „Gebot" und „Übertretung" (Röm 5,14; 18; 1Tim 2,14); aber erst seit Mose gab es eine ununterbrochen fortlaufende, Jahrhunderte hindurch wirkende systematische Erziehungsinsitution für Sünden- und Übertretungserkenntnis in Wort (bes. 2. Mose 20) und Symbol (Heb 10,3; 9,7).
So bezog sich das Gesetz zwar nicht auf das Vorhandensein der Sünde, wohl aber auf ihre Zurechnungsmöglichkeit. „Sünde wird nicht zugerechnet, wenn kein Gesetz da ist” (Röm 5,13). Das Gesetz machte die Sünde zwar nicht; aber es machte die „Sünde" zur „Übertretung". Damit aber wird eine mildere Beurteilung der Sünde unmöglich. „Das Gesetz bewirkt Zorn" ( Röm 4,15).
Aber noch schärfer steigert sich der Kampf. Die Sünde wird als
- Empörung entlarvt. Denn durch das bloße Vorhandensein des Gesetzes fühlt sich das Böse gereizt, nun erst recht sich zu äußern. 231 Am Verbot entbrennt die Begierde (Röm 7,8). Die Sünde „lebt auf" ( Röm 7,9); sie erwacht aus dem Tod (Röm 7,8b), wird zur „Lust" und zur Tat (Röm 7,8), und die Sünde äußert sich in Sünden (Röm 7,5). So ist das Gesetz die „Kraft der Sünde", die das Böse von innen nach außen treibt (1Kor 15,56); und die Sünde selbst ist wie das Feuer in einem zwar nicht rotglühenden, aber glutheißen Eisen, das zunächst ruhig und unbemerkt brennt, doch wenn es mit \Wasser besprengt wird, dagegen zischt und revoltiert. So ist eine Vermehrung von Sünden die Folge des Gesetzes.
Aber gerade darin kommt die Sünde dem Gesetz gleichsam zu Hilfe. Denn nun hat das Gesetz auch vermehrte Gelegenheit, seinen Dienst als Aufdecker der Sünde zu vollführen. Je mehr also die Sünde gegen das Gesetz sündigt, desto mehr sündigt sie, in ungewolltem Dienst für das Gesetz, gegen sich selbst; und so wird durch das Gesetz jeder Ausbruch des Bösen in den Dienst des Guten gestellt, und Satan muß gegen sich selbst arbeiten.
Das aber hat die Sünde nicht gewollt! Sie hat das göttliche Gesetz als „Anlass" (Röm 7,8; 9) Handhabe mißbrauchen wollen, den Menschen in um so größeres Elend zu stürzen! Nicht nur die menschliche Schwachheit, sondern geradezu „das Gebot, das mir zum Leben gegeben war, dasselbe erwies sich mir zum Tode; denn die Sünde, durch das Gebot Anlaß nehmend, betrog mich und tötete mich durch dasselbe … Gereichte mir nun das Gute zum Tode? Das sei ferne! Sondern die Sünde,… indem sie durch das Gute mir den Tod bewirkte” (Röm 7,10-13). Das aber heißt: gerade die Lebensgabe Gottes hatte die Sünde in eine Mordwaffe umwandeln wollen, gerade den Herrscherstab des Höchsten in einen Dolch, gerade die „Augensalbe" zum Sehen in Gift! Mit dem Heiligen hatte sie den Menschen ermorden wollen! Gerade das Heilige sollte der Sünde dienen und Gottes Offenbarung ein Werkzeug Satans werden!!
Aber gerade hier erweist sich die Oberregierung Gottes in ganz besonders sieghafter Weise. Denn nun wird das Wesen der Sünde erst recht entlarvt: sie ist Empörung gegen Gott, Feindschaft gegen den Höchsten, Revolutionär im Reich des Geistes und, ihrer Absicht nach, Thronräuber des göttlichen Weltregiments!
Gott aber hat das alles zugelassen, auf dass die Sünde nicht nur als „Sünde", sondern als „überaus sündig" erschiene ( Röm 7,12; 13). „Das Gesetz kam daneben ein, auf dass die Übertretung überströmend würde" (Röm 5,20). Indem also das Böse versuchte, das Gute sich dienstbar zu machen (Röm 7,13), hat umgekehrt das Gute das Böse in seinen Dienst gestellt, und Gottes Geduld führte für die Sünde nur zu verschärftem Gericht.
II. Selbsterkenntnis des Sünders
Aber noch dunkler wird der Weg, der zum Ziele führt. Indem das Gesetz das Schuldige der Sünde offenbart, zeigt es zugleich die Schuld des Sünders. Die Sünde ist ja nicht „eine”, sondern „seine” Schuld, und Tat und Täter gehören zusammen. Erst dadurch wird die Botschaft des Gesetzes persönlich. Als Erstes wird
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Die Sündhaftigkeit des Sünders offenbar, und mit der Erkenntnis der Todschuld verschwindet der Lebensgenuß. Das Gesetz hat, bei gleicher Tat, die Verantwortlichkeit des Täters ungeheuer gesteigert. Es hat dadurch den Sünder unter den „Fluch” gestellt (5. Mose 27,26; Gal 3,10). „Das Gesetz bewirkt Zorn” (Röm 4,15).
Damit aber hat das Leben für ihn aufgehört, überhaupt noch „Leben” zu sein. „Als ich noch ohne Gesetz war, da ,lebte’ ich; als aber das Gebot kam, lebte die Sünde auf; für mich aber kam — der Tod” (Rom. 7,9; 10). Nun bleibt für die Seele nur noch ein unheilvolles Ahnen, ein furchtvolles Erwarten des gerechten Gerichts. Das Gesetz, der „Buchstabe”, hat „getötet” (2Kor 3,6) und, obwohl „heilig” in seinem Charakter, „gerecht” in seinem Urteil und „heilsam” in seiner Absicht (Rom. 7,12), hat es sich dennoch als „Dienst des Todes und der Verdammnis” erwiesen (2Kor 3,7; 9). Es hat den Todeszustand des Sünders bewirkt, ohne ihn zu verschulden.
- Die Kraftlosigkeit des Sünders. 232 Doch da erwacht in dem Menschen das „Wollen” (Röm 7,18), sein besseres Ich, die „Vernunft” (Röm 7,25). Sie kämpft gegen das Böse, „bejaht freudig" das Gesetz (Röm 7,16), ja hat „Wohlgefallen" an Gottes Gebot nach dem „inneren Menschen" (Röm 7,22).
Der Sieg scheint leicht. Das Gute „liegt nahe bei” (Röm 7,18) 233. Und doch! Das Ergebnis ist - dauernde Niederlage (Röm 7,15; 16). Zuletzt begreift sich der Mensch selber nicht mehr. „Mein ganzes Tun ist mir unbegreiflich” (Röm 7,15). Er erkennt: nicht er hat seine Handelungen zu bestimmen, sondern die in ihm wohnende Sünde. Er ist nicht einmal Herr in seinem eigenen Hause (Röm 7,17; 20). Er ist innerlich zerrissen - denn was er will, das tut er nicht, und was er nicht will, das tut er (Röm 7,15; 16); er ist unfähig zu allem Guten (Röm 7,18; Apg 15,10), „verkauft" unter die Sünde (Röm 7,14). Auch die Sünde ist ein „Gesetz“, und er, der Mensch, ist ihr Sklave. In dem Festungskrieg 234 um die Stadt „Menschenseele”, der zwischen den beiden geistigen Reichen „Gesetz Gottes“ und „Gesetz der Sünde“ geführt wird, gelingt es stets dem „Gesetz in den Gliedern“ - dieser auf das Kampfgebiet der Persönlichkeit abgesandten Heeresabteilung des Sündengesetzes -, den Sieg davonzutragen über das „Gesetz der Vernunft“, dieser Heeresabteilung des Gesetzes Gottes. So wird die Seele stets für die Sünde erobert (Röm 7,23), und dies geschieht derartig zwangsläufig, daß dieser Sieg selber wiederum als „Gesetz“ bezeichnet werden muß (Röm 7,21). Das „Gesetz Moses“ aber kann nicht helfen (Röm 8,3), sondern nur, wie ein Spiegel, das Chaos beleuchten. So aber entsteht in dem Menschen die Erkenntnis seiner
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Verlorenheit. Seine Hoffnung verzweifelt und seine Verzweiflung hofft, und, an allem Inneren zuschanden geworden, blickt er nach aussen und oben und ruft: „Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes?” (Röm 7,24.)
Das war es aber gerade, was das Gesetz gewollt hatte: die Erkenntnis der Notwendigkeit, Heiligkeit und Göttlichkeit eines Erlösers. Mit seinem Kommen kann es darum verschwinden. Christus ist, als das „Ziel" des Gesetzes, zugleich auch sein „Ende" (Röm 10,4).
So folgt aus dem alttestamentlichen Zweck des Gesetzes die neutestamentliche Freiheit (Röm 7; Gal 3). Der furchtbare Sterbensweg, den das Gesetz den Sünder geführt hatte, war in Christo zugleich auch ein „Sterben" des Sünders in bezug auf das Gesetz, „Ich bin durch das Gesetz dem Gesetz gestorben” (Gal 2,19; vgl. Röm 7,1-6; Kol 2,20; 21). Das Gesetz hatte den Sünder abwärts geführt bis zur Verzweiflung, zum Todesgefühl; aber gerade dadurch hat es ihn aufwärts geführt zur Lebensergreifung. Es war ein Weg der göttlichen Traurigkeit zur Seligkeit (2Kor 7,10). Jetzt, nach der Höllenfahrt der Selbsterkenntnis, kann die Himmelfahrt der Heils - und Christuserkenntnis beginnen. Von ihm des genaueren zu zeugen - das war der Zweck der Bestimmungen des Gottesdienstes.
226 Nur von Moral-„gesetzen” bzw. Zeremonial,,gesetzen" in der Mehrzahl ist es richtig zu sprechen (im Sinne von Einzelverordnungen, „Geboten" auf beiden Gebieten; vgl. Jak 2,8).↩︎
227 Die Sozialbestimmungen haben aber auch zum großen Teil heilsgeschichtlichen Sinn, nämlich oft als vorbildlich-prophetische Abschattungen neutestamentlicher Heilswahrheiten, z. B. die Sozialgesetze des Hall- und Jubeljahres (3. Mose 25; Lk 4,19), die Gesetze über Lösung durch einen Blutsverwandten (Büchlein Ruth), die Freistädte (Jos 20) u. a. m. In solchem Fall stehen die Sozialbestimmungen auf derselben Linie wie die Vorbilder der Zeremonialbestimmungen.↩︎
228 Das neutestamentliche Wort für „Sünde" (griechisch hamartia) bedeutet ursprünglich „Zielverfehlung". So ungefähr 100mal bei Homer (900 v. Chr.), wenn ein Krieger mit dem Speer seinen Feind nicht trifft (vgl. Ri 20,16 LXX!), oder bei Thukydides (150 v. Chr.), wenn jemand vom Wege abirrt. Erst später, seit Aristoteles (350 v. Chr.), wird es auf das geistige und moralische Gebiet übertragen.↩︎
229 Abgesehen von gewissen Zugeständnissen Gottes um der „Herzenshärtigkeit" der Menschen willen. Mt 19,8 vgl. Kp. 7; Das Überragende des Neutestamentlichen; - 3. Zugeständnisse↩︎
230 Auch mehr als "Unwissenheit" (Apg 17,30), "Irrtum" (Heb 9,7), Niederlage" (Röm 11,12), „Fall" (Eph 2,1 wörtlich).↩︎
231 „Verbotene Früchte schmecken süß."↩︎
232 der Röm 7 spricht an sich weder von der Erfahrung eines Christen nach Bekehrung (so Augustinus, Hieronymus, die Reformatoren) noch von Pauli Erfahrung unter dem Gesetz vor seiner Bekehrung (so z. B. Neander). Vielmehr spricht Paulus von sich, wie er sein würde, wenn er „in sich" betrachtet würde (Vers 25: autos ego, d. h. „ich, auf mich selbst, auf meine eigene Kraft gestellt", abgesehen vom Heiligen Geiste). ,,In sich" ist er stets in Römer 7; „in Christo" aber ist er stets in Römer 8. Es handelt sich in diesen beiden Kapiteln also nicht um zwei aufeinanderfolgende Erfahrungen, sondern um zwei Zustände und Betrachtungsweisen (ebenso z. B. v. Hofmann). Auch der wiedergeborene Christ kann unnormalerweise, seiner Erfahrung nach, zuweilen oder oft in Römer 7 sein, während er, seiner Stellung nach, immer in Römer 8 ist und, seinem Wandel nach, dauernd in Römer 8 leben sollte.↩︎
233 Griechisch parakeitai.↩︎
234 Daß Paulus in Röm 7,21-23 ein Bild aus dem Militärleben vorschwebt, beweisen seine Ausdrücke „entgegenstreitend" (antistrateuomenon) und „als Kriegsgefangenen fortschleppen" (aichmalötizonta). Im ganzen nennt Paulus in Röm 7,21 - 8,3 sechs Gesetze (siehe oben), zu denen das „Gesetz des Geistes des Lebens in Christo Jesu" als siebentes hinzutritt.↩︎