Erich Sauer
Schriften von Erich Sauer
Das Morgenrot der Welterlösung
Dritter Teil: Die vorlaufende Heilsoffenbarung
B. Das Geheimnis des Volkes Israel
4. Kapitel: Israels Abfallund Krisenweg4. Kapitel: Israels Abfallund Krisenweg
Israel ist Gottes Bundesvolk (Amos 3,2; Ps 147,19; 20), abgesondert zum Zweck der Verbreitung der Heilsbotschaft in der Völkerwelt. Diesem großen, zwei-einheitlichen Ziel seiner Berufung entsprechen auch alle Führungen Gottes in seiner GeschichteI. Israels Erziehung
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Göttliche Erziehung zur Absonderung (1900—586) „Gehe aus deinem Vaterlande und deiner Freundschaft“ - mit diesem Befehl Gottes an Abram beginnt die israelitische Geschichte. „Sie beginnt also mit Aussonderung, und jahrhundertelang gehen alle Wege Gottes mit Israel dahin, es auszusondern, es abzuschließen, seinen Volkscharakter zu befestigen.
Der „Zaun“ des Gesetzes (Eph 2,14; Ps 147,19; 20), das palästinensische Judentum, das Hebräische Alte Testament und der Tempel in Jerusalem - das sind die vier Hauptzeugen dieser Erziehung des Volkes.”
Dann aber, nach anderthalb Jahrtausenden, wendet es sich; und von nun an zielt - wiederum Jahrhunderte hindurch - alles darauf ab, Israel unter die Völker zu zerstreuen. Den Wendepunkt bildet die babylonische Gefangenschaft (606-536).
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Göttliche Erziehung zur Weltweite. Von der babylonischen Gefangenschaft an (606 bzw. 586) tritt
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neben das palästinensische Judentum das Judentum der Zerstreuung, die „Diaspora" (vergl. Jak 1,1; Apg 2,5-11);
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neben den Tempel die Synagoge, mehr der Lehre als dem Opferdienst gewidmet, aber in allen Städten und Ländern neue Mittelpunkte jüdischen Lebens schaffend;
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neben das Hebräische Alte Testament die griechische Übersetzung, die „Septuaginta" (LXX), dazu bestimmt, nicht nur den Juden der Zerstreuung, sondern auch den Heiden Gesetz und Propheten und die Töne davidischer Psalmen zu bringen.
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Das palästinensische Judentum mit dem Tempel und dem Hebräischen Alten Testament war eine im höchsten Maße zentralisierende Macht; dort hatten auch all die unzähligen, in der Heidenwelt lebenden Judengemeinden ihren Schwerpunkt. Die Diaspora dagegen mit der Synagoge und der Septuaginta war eine weithin auseinanderstrebende, sich ausdehnende Macht; durch sie wurde Israel ein Bote Gottes und Missionar in der Heidenwelt (Uhlhorn). 216
Und doch! Was geschah? In allem ist Israel dem Plan Gottes entgegen.
II. Israels Versagen
- Von der Gesetzgebung bis zur babylonischen Gefangenschaft t (1500-586) war Israels Hauptsünde der Götzendienst (2. Mose 32; Ri 2,17; 10,6; 1Kön 11,5; 2Kön 16,3; 4; Hes 8 u.v.a.). Das aber heißt: Gerade in der Periode, in der alles göttliche Erziehen auf Absonderung und Trennung von den Weltvölkern hinausging, betrieb Israel abgöttische Verbindung und Gemeinschaft mit ihnen (auch politisch: Jes 39; Hos 7,11). Der göttlichen Abgeschlossenheit setzte es fleischliche Aufgeschlossenheit, der Mittelpunktsziehkraft die Mittelpunktsfliehkraft, der heiligen Liebe die abtrünnige „Hurerei“ entgegen (Hes 16 u. 23; Hos 1-3; Jes 1,21). Darum lautet Gottes Urteil, nach jahrhundertelanger Geduld, über das sündige Jerusalem: „Zu meinem Zorn und zu meinem Grimm ist mir diese Stadt gewesen von dem Tage an, da man sie gebaut hat, bis auf diesen Tag, so daß ich sie von meinem Angesicht hinwegtun will“ (Jer 32,31).
Nebukadnezar kam. Jerusalem wurde zerstört und das Reich Juda in die Gefangenschaft weggeführt (586). Doch dann geschah das jüdische Wunder. In Babel wird Israel von Babel geheilt. Gerade Babel, „die Mutter aller Hurerei und Abgötterei“ (Off 17,5), wird die Heilanstalt für das hurerische Volk! Gerade hier, in der Zentralstadt aller Greuel auf Erden (Off 17,5), wird das jüdische Volk vom babylonischen Götzenwesen befreit, und mit neuen Aufgaben und Zielen kehrte der gläubige Überrest Israels aus der Gefangenschaft zurück (538).
Aber dann ging Israel den umgekehrten Irrweg.
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Von der babylonischen Gefangenschaft (538) an liefen alle Wege Gottes mit Israel darauf hinaus, es für seine weltweite Völkermission vorzubereiten. Aber was tat das Volk jetzt? Es sonderte sich ab, und in hochmütiger Selbstüberhebung verachtete es die Heiden als unreine „Hunde“! Besonders unter der Führung der „Pharisäer", der „Abgesonderten", 217 erreichte diese fleischliche Betonung der Vorrechtstellung ihren Höhepunkt. 218 Jetzt setzte Israel - genau umgekehrt wie vorher - dem göttlichen Universalismus einen selbstgerechten Nationalismus, der Weltverbundenheit eine religiöse Weltzurückgezogenheit, der Völkermission die Volkszentralisierung entgegen; und wie es vordem, als Gott die Absonderung gewollt hatte, die Verbindung betrieb, so pflegte es nunmehr, als Gott die Verbindung wollte, die Absonderung. So waren sie ein Volk, allezeit halsstarrig und widerstrebend (Apg 7,51). „Leute, deren Herz immer den Irrweg will" (Ps 95,10).
Den Höhepunkt seiner Sünde aber erreicht Israel zur Zeit Christi. In dreifacher Steigerung - in der Ablehnung der Botschaft vom Himmelreich (Mt 23,37), in der Ermordung des Messias auf Golgatha (Apg 7,52) und in der Zurückweisung des Zeugnisses von der Auferstehung (Apg 4,2; 3; 21; Apg 7,51; 58; 13,46; Apg 28,25-28) - begeht Israel die Sünde aller Sünden: die Verwerfung des Sohnes Gottes.
Und fortan steht es unter dem göttlichen Gericht.Nun sind auch die beiden „Pole" seines Wesens zu Disharmonien geworden, und in ziemlich regelmäßigem Wechsel schwankt Israels Geschichte zwischen ausgesprochener Anpassung an die Völker, unter die es zerstreut ist, und entschiedener Betonung seiner Rasse-Eigenart.
In jedem Fall aber mußte ein solches Verhalten zum Zusammenbruch führen.
III. Israels Niedergang
Abwärts ging Israels Weg. In drei großen Stufen vollzog sich sein Niedergang. Zuerst hatte das Volk
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Die direkte Gottesherrschaft : Von Mose bis Samuel (1500-1100). Am Sinai zum „Volke“ geboren, hatte die Nachkommenschaft Abrahams Gott selbst zum König. „Ihr sollt mir ein Königtum von Priestern und eine heilige Nation sein“ (2. Mose 19,5; 6; 2. Mose 15,18). „Das Gesetz hat uns Mose verordnet ...; so ist er (Gott) König in Jeschurun 219 geworden" (5. Mose 33,5). Mose, Josua und die vierzehn Richter bis Samuel einschließlich waren nichts anderes als jeweilig Beauftragte des HErrn zur Durchführung bestimmter, längerer oder kürzerer Einzelaufgaben. Ein irdisches Königtum gab es nicht. Gideon lehnte es ausdrücklich ab (Ri 8,23), und der einzige, der es aufrichtete - Abimelech, sein Sohn - tat es im Widerspruch zu Gott und ging elend zugrunde (Richter 9).
Die irdischen Organe des himmlischen Königs waren die Propheten (5. Mose 18,15), die Priester (5. Mose 33,8-11) und die Helden („Richter", „ Heilande", Heilbringer: Ri 3,9 Luth.); und auch die Führerstellung dieser Männer beruhte auf keinerlei äußeren Rechtstiteln, etwa Geburt (vgl. Richter 11,1!), Wahl oder Machtstellung, sondern allein auf der inneren Berufung durch Gott (Ri 2,16; 3,15 u. a.). Eine ständige, äußere Zentralregierung hatte man nicht, wohl aber einen Zentralaltar; denn die Einheit des Volkes lag in seiner Abstammung und in seinem Glauben; und die Stiftshütte in Silo war der gemeinsame Mittelpunkt des Gottesdienstes, der sichtbare Ausdruck dieser Einheit (Jos 18,1; 10; 19,51; 1Sam 1,3; 4,3).
Aber diese ganze Verfassung war zu „schlecht", weil sie zu gut war. Nur in einem gottergebenen Volke konnte sie Frucht bringen. Im andern Fall mußte sie sich gleichsam als „königslose“ Zeit auswirken. Und gerade so war es bei Israel (Ri 18,1; 19,1; 21,25). Daher schließlich der Wunsch nach einem sichtbaren König (1Sam 8).
Damit aber begann die zweite Periode:
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Die indirekte Gottesherrschaft : Von Saul bis Zedekia (1100—586). Nur widerstrebend gewährte der
HErr die Bitte. Denn vom Gesichtspunkt des Königtums Gottes aus war ein irdisches Königtum ein Rückschritt, ja geradezu eine „Verwerfung” des HErrn (1Sam 8,7). Dennoch hielt Gott an seinem Königsrecht fest. Noch Jahrhunderte später wird er von den Propheten und Psalmsängern als der wahre „König” Israels gepriesen. „Der HErr ist unser Richter, der HErr unser Feldherr, der HErr unser König” (Jes 33,22 vergl. 6,5; 43,15; Jer 10,10, Ps 2,6; 5,3; 10,16 u. a.).
Daraus aber ergab sich die eigenartige Stellung des israelitischen „Königs“. Da der eigentliche König der HErr ist, sind die irdischen Könige nur „Vize"könige, nur erbliche Statthalterdynastie mit Königstitel, weshalb auch die Wahl nicht (demokratische) Volkswahl war, sondern allein in Gottes Hand ruhte (5. Mose 17,15), der sie durch Prophetenmund verkünden ließ (1Sam 10,1; 16,1; 1Kön 19,16). Dem Volk selbst stand nur das Recht der „Einsetzung“, das heißt, der öffentlichen Anerkennung zu (1Sam 11,15; 2Sam 2,4; 5,1 ff). Der König war eben nichts anderes als „Fürst über das Erbteil des HErrn" (1Sam 10,1) und darum ganz und gar König „von Gottes Gnaden“. Und da ferner das geistliche Amt in Israel dem himmlischen Könige näherstand als das weltliche, standen die Propheten in Israel, reichsgottesgeschichtlich, über den Königen und waren deren Berater, Gewissen, Auge, Ohr, Wächter und Kontrolle.
Aber auch innerhalb dieser an sich schon viel niederen Gottesherrschaftsperiode ging es mit Israel bergab, und zwar wieder in drei Unterstufen.
Zuerst hatten sie
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das Einheitsreich unter den drei Königen Saul, David und Salomo (1050—950); dann, seit der Reichsteilung (975 bzw. etwa 940),
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das Doppelreich, das gespaltene „Israel-Juda" (bis zur assyrischen Gefangenschaft, 722), und schließlich nur noch
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das Restreich „Juda", die südlichen zwei Stämme (722—586). Mit deren letztem Könige Zedekia zerbrach endlich das sichtbare Königtum überhaupt, und von da an hatte Israel nur noch das letzte:
- Die außer Kraft gesetzte Gottesherrschaft: Von 586 v. Chr. bis zur Aufrichtung des Messiasreiches. Mit Nebukadnezar begannen die „ Zeiten der Heiden" (Lk 21,24). Seit der Zerstörung Jerusalems stand Israel unter der Herrschaft der Weltvölker. Daran konnte auch der heldenhafte Freiheitskampf der Makkabäer nicht vieländern [168-141 (63)]. Wie ein Spielball ging Palästina aus einer Hand in die andere: die Babylonier, die Perser, die Griechen (Mazedonier), die Ptolemäer (Ägypter), die Seleukiden (Syrer) und dann, nach den Makkabäern, die Römer waren die Herren des Landes. Zuletzt aber wurde Israel sogar außer Landes verwiesen (besonders seit dem Aufstand des falschen Messias Bar-Kochba, 132-135 n. Chr.) und irrt seitdem, infolge des Strafgerichts Gottes, nach dem Zeugnis des Alten (!) Testaments selber, als verachteter Fremdling unter den Völkern umher. Nicht nur sind sie „zum Schimpf und zum Hohn, zur Spottrede und zum Fluchwort an allen Orten" (Jer 24,9), 220 sondern Mose weissagte: „Du wirst unter jenen Völkern zu keiner Ruhe kommen, und für deine Fußsohle wird es keine Stätte der Rast geben, sondern der HErr (!) wird dir dort ein immer zitterndes Herz und vor Sehnsucht verschmachtende Augen und eine geängstigte Seele geben. …Am Morgen wirst du sagen: Ach, wäre es doch erst Abend! , und am Abend wirst du wünschen: Ach, wäre es doch schon Morgen! , infolge der Angst deines Herzens, die du empfinden wirst, und infolge des Anblicks der Schrecknisse, die dir vor Augen stehen" (5. Mose 28,65; 67). Und der HErr selbst, der Gott des Alten (!) Testaments spricht: „Wie ein Feind (!) habe ich dich geschlagen mit grausamer Züchtigung wegen der Größe deiner Schuld. .. Wegen der Menge deiner Sünden habe ich dir dies Leid angetan” (Jer 30,14; 15). Und Jeremia klagt: „Schonungslos hat der HErr verwüstet alle Wohnstätten Israels.... Der HErr ist wie ein Feind (!) geworden. Er hat Israel vernichtet" (Klgl 2,1-5; vgl. Jes 63,10). So aber wird das jüdische Volk durch das Zorngericht Gottes selbst, mit ewiger „Schmach" und „Schande" belegt (Jer 23,39; 40), ja, zum „abschreckenden Beispiel des Unglücks für alle Reiche der Erde! " ( Jer 24,9 M.)
Und doch! „Gottes Gnadengaben und Berufung sind unbereubar.“ (Röm 11,29.) Die „Feinde“ bleiben dennoch „Geliebte“ (Röm 11,28). Die „Wurzel” ist heilig (Röm 11,16), und um Abrahams, „seines Freundes", willen (Jes 41,8; 5. Mose 7,8) hält Gott auch im Gericht an seinen Verheißungen fest: „Selbst auch dann, wenn sie in dem Lande ihrer Feinde sind, werde ich sie nicht verwerfen und sie nicht verabscheuen, ihnen den Garaus zu machen, meinen Bund mit ihnen zu brechen; denn ich bin Jahwe, ihr Gott“ (3. Mose 26,44; 45).
IV. Israels Bewahrung
In drei großen Hauptnotzeiten erlebt Israel Gottes Bewahrung: im ägyptischen, assyrisch-babylonischen und Römischen Exil.
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Die ägyptische Not (um 1500 v. Chr.) war Schmach Christi (Heb 11,26!). Was der Pharao tat, war, ohne daß er es wusste, 221 ein Kampf der „Schlange" gegen den „Weibessamen" (1. Mose 3,15). Denn mit der Ausrottung der Juden wäre das Kommen des Erlösers unmöglich gemacht worden, da die Verheißung vom Weibessamen und Schlangenzertreter seit Abraham gerade an dies Volk gebunden war (1. Mose 12,1-3; Joh 4,22; Gal 3,16). So steht gleich zu Anfang der jüdischen Entwicklung hinter aller Staats- und Volksgeschichte die „Reichs"geschichte. Israel litt in Ägypten um des Messias willen; und der Hebräerbrief bezeugt durch den Ausdruck „Schmach Christi”, daß der Prophet 222 Mose schon damals diesen übergeschichtlichen Hintergrund auch möglicherweise in etwa geahnt hat.
Gott aber führte das Volk mit erhobener Hand und mit ausgestrecktem Arm aus dem „eisernen Schmelzofen” Ägyptens heraus (5. Mose 4,20; 2. Mose 6,6; Hes 20,5).
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Die assyrisch - babylonische Not (722 ff. und 606—536) war Schmach der Sünde (2Kön 17,7). Die Gefangenschaft kam, weil die Kinder Israel götzendienerisch „gehurt" (Hos 1-3; Hes 16 u. 23), sich mit „Greueln” beladen (Hes 8,13), das Land „mit Gewalttat erfüllt” (Hes 8,17) und sich also zu „gar nichts mehr tauglich” gemacht hatten (Jer 13,7). Und daß es gerade siebenzig Jahre waren, hing mit der Zahl der in den vorangegangenen Jahrhunderten nicht beachteten Sabbatjahre zusammen (2Chr 36,21 vgl. 3. Mose 26,34; 35). Dann aber berief sich Gott gerade in Babel - außer Daniel - den Propheten Hesekiel, „den Mose des Exils"; und in Kores, dem gewaltigen Kriegshelden, dem Begründer der persischen Weltherrschaft, schenkte er ihnen den lang ersehnten Befreier (Jes 44,28; 45,1-7; Esra 1,1-4; 5,13; 6,3).
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Die Römische Not war und ist Schmach für die Sünde aller Sünden, die Verwerfung des Messias. Darum ist sie auch die längste und härteste (5. Mose 28,49-68). Sie beginnt mit der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 und endet erst mit der Aufrichtung des Messiasreiches bei der Wiederkunft Christi. Denn das „Römische Reich" währt, prophetisch, bis an das Ende der Welt (Dan 2 u. 7). „Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder!“ (Mt 27,25.) Dieses von ihnen selbst gesprochene Wort steht wie ein flammendes Wahrzeichen des Gerichts über dieser Jahrtausende langen Geschichte. „Israel muß ja verstummen, wenn man es heute fragt: „Sage mir doch: Wie kann es nur sein, daß der Ewige die Väter nur siebenzig Jahre aus ihrem Lande in die Gefangenschaft nach Babel geschickt hat um all der Greuel und Abgötterei willen, womit sie Jahrhunderte hindurch das heilige Land verunreinigt hatten; - und nun ist Israel schon über 1800 Jahre versprengt unter alle Völker, und Jerusalem, des großen Königs Stadt, ist von den Heiden zertreten bis auf diesen Tag?! Was ist denn die große und schreckliche Blutschuld, die euch immer noch fernhält von den friedlichen Wohnungen im Lande der Väter? - Aber Israel will es ja nicht wissen!” -
Und doch ist gerade seine Messiasverfehlung die Urwurzel seines Unglücks. Der Kreuzeshaß der jüdischen Seele hat sie zum „quälenden Stachel in der Welt” gemacht. Fortan steht das jüdische Volk unter dem „Fluch der Kreuzesflucht”. „Daher die Rastlosigkeit und Friedlosigkeit des ewigen Juden, weil er mit der Gestalt Jesu Christi innerlich niemals fertig geworden ist. Die Flucht vor dem Kreuz hat ihn zum heimatlosen Flüchtling in der Welt gemacht. Die Empörung gegen das Kreuz hat ihn zum Anführer aller Empörung gegen Gott auf Erden werden lassen” (A. Köberle).
Aber auch hier ist gerade der Fortbestand des jüdischen Volkes ein Haupträtsel der Geschichte. 223 Die Gesetze, die das Werden vieler anderer Völker beherrschen, sind zum Teil geschichtsphilosophisch erklärbar.
Aber Israels Entwicklung spottet aller Erklärung. Denn Israel ist, trotz allem, Jahwes (Jehovas) Volk, und der HErr, sein Gott, ist ein verborgener Gott (Jes 45,15). Jeder Jude ist ein wandelndes Geheimnis.
V. Israels Hoffnung
In der Tat, „wenn nach dem Zeugnis der Prophetie (Jes 53; Lk 24,26; 27), Jesu Anrecht, der wahre Messias zu sein, erst durch Leiden und Verwerfung besiegelt werden musste, dann kann Israels Anspruch auf eben diesen Messias durch solche Verwerfung nimmermehr aufgehoben oder rückgängig werden. Vielmehr wird der HErr alle seine Versprechungen an Abraham und David einlösen; und dann wird der „Jakob“ in einen „Israel“, der „Dornstrauch“ (2. Mose 3,2) in einen fruchtbringenden „Feigenbaum“ (Hos 9,10) umgewandelt werden (vgl. Jes 55,13).
Und wie Israel jetzt ein gesteigerter Fluch ist, so wird es dereinst noch vielmehr ein gesteigerter Segen sein (Sach 8,13). „Wo die Sünde überströmend geworden ist, ist die Gnade noch überschwenglicher geworden” (Röm 5,20). Und wie im Verlauf der Geschichte alle Rassen der Welt an Israels Gericht mitgewirkt haben - die Hamiten im ägyptischen, die Semiten im assyrisch-babylonischen und die Japhetiten im römischen Exil -, so werden sie dereinst im Herrlichkeitsreich alle zusammen, gemeinsam mit Israel, gesegnet werden (Jes 2,2; 19,24; 25).
„O Tiefe des Reichtums sowohl der Weisheit als auch der Erkenntnis Gottes! Wie unausforschlich sind seine Gerichte und unausspürlich seine Wege! Ihm sei die Herrlichkeit in Ewigkeit! Amen” (Röm 11,35; 36).
216 A. a. O. S. 69.↩︎
217 Das Wort „Pharisäer" kommt von hebr. parasch, „trennen", „absondern", her.↩︎
218 In diesem Geiste wurde auch die pharisäische Proselytenmacherei betrieben: Mt 23,15.↩︎
219 D. h. der „Gerade", der Gerechte, d. i. Israel (vgl. 5. Mose 32,15) in seiner idealen Bestimmung.↩︎
220 Jer 25,18; 26,6; 29,18; 42.18↩︎
221 Vgl. Luthers Wort „Non agunt, sed aguntur"; vgl. „Sie glauben zu schieben und werden geschoben".↩︎
223 Trotz der zahlreichen Gerichtszeiten, in die Gott das ungläubige Israel immer wieder hineingeraten ließ, z. B.
August 70: Zerstörung Jerusalems. 1 100 000 Juden getötet.
132-135: Besiegung Bar Kochbas. 500 000 Juden getötet.
Mai—Juli 1096: 12 000 Juden im Rheinland getötet.
1. November 1290: Ausweisung aller (über 16 000) Juden aus England unter Androhung der Strafe des Aufhängens. Erst nach 370 Jahren wieder gesetzliche Zulassung.
20. April bis Herbst 1298: 100 000 Juden in Franken, Bayern und Österreich getötet.
September 1306: Vertreibung von 100 000 Juden aus Frankreich unter Androhung der Todesstrafe.
2. August 1492: Vertreibung von 300 000 Juden aus Spanien unter Androhung der Todesstrafe durch die Inquisition.
November 1648: Niedermetzelung von 12 000 Juden in Narol (Polen) durch die Kosaken.
1648-1658: Tötung von ungefähr 400 000 polnischen Juden im russisch-pol-nisch-schwedischen Krieg (vgl. Albrecht, Geschichte Israels, Gotha 1926, S.486; 500; 546; 555; 599).
1939-1945: Hinmordung Hunderttausender Juden während der Jahre des zweiten Weltkrieges.
Aus 2Sam 24,9 ergibt sich — da ungefähr der vierte Teil der Seelenzahl eines Landes streitfähig ist — für die Zeit Davids eine Gesamtbevölkerungszahl von ungefähr 5 Millionen. Heute aber leben etwa 11 Millionen Juden auf Erden.↩︎