Schriften von Erich Sauer
Das Morgenrot der Welterlösung
Dritter Teil: Die vorlaufende Heilsoffenbarung
C. Warum gab Gott das mosaische Gesetz?
5. Kapitel: Der Sinn des Gesetzes5. Kapitel: Der Sinn des Gesetzes
„Warum nun das Gesetz?" (Gal 3,19)
Warum kam Christus nicht schon zur Abrahamzeit (um 1900)? Sagt uns das Neue Testament nicht klar, daß es beim Heil allein auf den Glauben ankommt? Und war nicht der Glaube in Abraham schon da, und zwar sogar schon in sehr entwickeltem Maße (Römer 4)? Die Bedingungslosigkeit der Gnade, die Rechtfertigung, das Opfer, die Auferstehung, der Messias, die himmlische Stadt? Ist da eine Gesetzesperiode von 1500 Jahren nicht überflüssig, ja unnötig aufhaltend und geradezu ein Rückschritt?
Dort unmittelbar inniges Glaubensleben - hier äußerlich mittelbare Formen; dort ruhig erhabene Schlichtheit - hier kaum zu übersehende Kompliziertheit; dort Vorwalten des Wortes und der Verheißung - hier Vorherrschaft der Forderung und des Symbols.
Aber das Schlichte ist doch edler als das Komplizierte, und das Wort ist doch unmittelbarer als das Symbol; die Verheißung ist doch schöpferischer als das Gebot und die Innerlichkeit höher als die Form!
Und dennoch gab Gott das Gesetz so majestätisch mit Donnern und Blitzen, unter Bergbeben und Posaunenhall (2. Mose 19,16-19; Heb 12,18)! Und dennoch ließ er die im Schatten des Todes dahinschmachtende Menschheit noch anderthalb Jahrtausende auf das Kommen des Erlösers warten (Jes 9,1; 2; 60,1-3; Lk 1,78; 79)! Hierfür muß es gewichtige Gründe geben. Welche aber sind diese?
Die Antwort der Schrift ist, daß der Hauptsinn des Gesetzes in der Ausgestaltung der Erlösererwartung durch Offenbarmachung der menschlichen Sündhaftigkeit bestehe, und daß dadurch das Gesetz ein „Zuchtmeister auf Christum" sei, und zwar auf ihn als den Heiland der Sünder (Gal 3,19; 24; Röm 3,20; 7,7 ff). Um aber diese seine Aufgabe zu erfüllen, tritt es in eine besondere Beziehung zu Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart und - was die letztere betrifft - nach aussen, oben, unten und innen. Es ist
im Hinblick auf die Vergangenheit - eine Hinzufügung,
im Hinblick auf die Zukunft - eine Einschaltung,
im Hinblick auf seine Gegenwart - eine Unterweisung,
und zwar
nach aussen hin - ein Zaun,
von oben her ein - Zügel,
nach unten hin - ein Riegel,
nach innen hin - ein Spiegel.
I. Das Gesetz als Hinzufügung
Nicht etwa „beiseitegesetzt" hat es den Abrahamsbund und ist „an seine Stelle" getreten, sondern ergänzt hat es ihn und ist neben ihn gestellt. Es wurde „hinzugefügt" (Gal 3,19; Röm 5,20) und konnte - schon rein als 430 Jahre später Gekommenes - das längst vorher rechtskräftig Gewordene naturgemäss nicht umstossen (Gal 3,15-17). Bei aller Bedeutung darum, die das mosaische Gesetz hat, kommt ihm dennoch keine grundlegende Bedeutung zu. Grundlegend sind für Israels Geschichte allein die Verheißungen des Abrahamsbundes. Darum geht auch Paulus in seiner Rechtfertigungslehre nicht auf Mose, sondern auf Abraham zurück (Röm 4; Gal 3,9; 14) und der Hebräerbrief kann eine ganze Reihe von Glaubenshelden aus der Gesetzeszeit nennen (Heb 11).
Dennoch war diese Hinzufügung nötig. Denn bei aller Erhabenheit und Tiefe des Abrahamsbundes fehlte ihm doch die genügende Betonung der Sünde. In dieser noch gar zu geringen Entfaltung der menschlichen Verlorenheit und Unfähigkeit zur Selbsterlösung lag seine Hauptunvollständigkeit; und doch ist gerade ihre Erkenntnis die wichtigste Voraussetzung für das Erleben von Golgatha! Darum mußte er ergänzt werden, und das geschah durch das Gesetz.
Fortan zerfällt die gesamte vorchristliche Heilsoffenbarung in zwei Hauptabschnitte: den Verheißungsbund und den Bund des Gesetzes. In jenem steht das Positive, in diesem das Negative im Vordergrund. Bei Abraham ist es der Segen (Gal 3,9; 14), bei Mose der Fluch (Gal 3,13), bei Abraham das Leben (Röm 4,17-25; Heb 11,19), bei Mose der Tod (2Kor 3,6; Röm 7,9; 10). Der Mosesbund gipfelt in der Kreuzigung (Gal 2,19; 20; 3,13), der Abrahamsbund in der Auferstehung (Heb 11,19; Röm 4,17; 19; 23-25). Das Gesetz ist Karfreitag, die Verheissung Ostern.
Aber sie beide gehören zusammen. Denn der Sünder soll erlöst werden, und dazu ist Erneuerung und Wiedergeburt nötig. Wiedergeburt aber hat menschliche Bekehrung zur Voraussetzung, und Bekehrung ist zweierlei: Abkehr und Hinkehr, ein „Nein" zu sich selbst und ein „Ja" zu Gott, oder, neutestamentlich ausgedrückt, eben Buße und Glauben. Erst hier offenbart sich uns der eigentliche Sinn der alttestamentlichen Vorgeschichte:
Jahrhunderte hindurch spricht Gott das Wort „Glaube" in die
Heilsgeschichte hinein — das ist der Sinn des Abrahamsbundes.
Er ist eine zwei Jahrtausende lang währende Erziehung zum
Glauben. UndJahrhunderte hindurch spricht Gott das Wort „Buße" in die
Heilsgeschichte hinein — das ist der Sinn des mosaischen Gesetzes.
Es ist eine anderthalb Jahrtausende lang währende Erziehung zur
Buße.„Tut Buße" und „Glaubet an das Evangelium" (Mk 1,15),
sagt Christus und umschließt somit alle beide zu erlösender Einheit.Das ist der neutestamentliche Sinn des Alten Testaments
II. Das Gesetz als Einschaltung
Es wurde hinzugefügt, „bis daß“ der Same käme, auf den sich die Verheißung bezieht (Gal 3,19). Dieses „bis" zeigt an, daß das Gesetz nur etwas Zeitweiliges und Vorübergehendes ist, das zu dem „Samen" in einem nur vorbereitenden Verhältnis steht, in ihm selber sein Ziel hat und mit seinem Kommen verschwindet. „Christus ist des Gesetzes Ende” (Röm 10,4).
Darum sprach schon Jeremia in der Zeit des „alten" Bundes von dem Kommen eines „neuen" (Jer 31,31-34), und David, der „Prophet" (Apg 2,30), weissagte ein ewiges Priestertum des Messias. „Du bist Priester in Ewigkeit nach der Weise Melchisedeks” (Ps 110,4).
Da aber David schon wußte, daß dieser, sein „HErr" (Ps 110,1), zugleich auch sein Sohn sein würde (Mt 22,41-45; 1Chr 17; 2Sam 7) und folglich, als Isais Sproß (vgl. Jes 11,1), auch ein Nachkomme Judas (1Chr 5,2), so bezeugt in ihm schon das Alte Testament den Übergang des Priestertums vom Stamm Levi auf den Stamm Juda und damit eine Änderung des priestertums überhaupt (Heb 7,11-17).
Und da ferner das Priestertum die Grundlage der ganzen Gesetzesordnung ist und diese eine zusammenhängende, unzerteilbare Einheit darstellt (Jak 2,10), findet „mit der Änderung des Priestertums auch notwendig eine Änderung des Gesetzes statt" (Heb 7,12), und so bezeugt schon im Alten Bunde in David der Psalmsänger und in Jeremia der Prophet, daß das Gesetz nur eine vorübergehende Einschaltung ist. So faßt sich das Alte Testament selber auf.
III. Das Gesetz als Unterweisung
In bezug auf seine eigene, damalige Gegenwart ist das Gesetz Zaun, Zügel, Regel, Riegel und Spiegel.
Nach außen hin ist es der Zaun, der Israel von den Weltvölkern nennt (Eph 2,14; 15). Das Gesetz ist nicht allen Menschen, sondern nur Israel gegeben. „Er verkündete Jakob sein Wort, Israel seine Satzungen und Rechte. Keiner andern Nation hat er also getan” (Ps 147,19; 20). Der Sabbat ist das „Zeichen" zwischen Gott und Israel (2. Mose 31,13; 16; 17; Hes 20,12; 20).
Die Nationen aber haben „kein Gesetz” (Röm 2,14). Schon dies allein widerlegt alle Hineintragung des Gesetzes in das gegenwärtige Völkerevangelium der Gnade, wie gesetzliche Heiligung, Sabbatfeier, alttestamentliche Gottesdienstformen, besonderer Priesterstand, Priestergewänder, Weihrauch usw. Das mosaische Gesetz war niemals der Völkerwelt gegeben, weder der heidnischen noch der„ christlichen", sondern nur Israel.
Wohl aber ist Israel und sein Gesetz „Anschauungsunterricht in großartigstem Stil, auf der offenen Bühne der Weltgeschichte gegeben (1. Kor.. 10,11), also daß alle Völker aller Jahrhunderte es lesen können, indem sie vorübergehen." 224
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Von oben her ist das Gesetz der Zügel, mit dem Jahwe sein Volk Israel regiert. Für das rechte Verhalten ist es die Regel,
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nach unten hin, für die Sünde, der Riegel, der ihre Entfaltung zurückhalten soll (vgl. Gal 2,15; 1Petrr 4,3).
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Nach innen hin ist es ein Spiegel. (vgl. Jak 1,23; 25).
„Durch Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde” (Röm 3,20). Dies ist seine eigentliche Hauptaufgabe. Darum ist Heiligkeit des HErrn sein Grundgedanke. 225
Durch diese seine Wirkung nach innen hin aber weist es nach vorn, erweckt in dem Sünder den Schrei nach Erlösung (Röm 7,24) und wird dadurch ein „Zuchtmeister auf Christum" (Gal 3,24)
So ist das Gesetz ein Geschenk des erlösenden Gottes; und wie in der persönlichen Heiligung die Gnade das Gesetz ausschliesst (Röm 6-8; Gal 3,4), so schliesst sie in der Heilsgeschichte das Gesetz in sich ein.
224 Ströter, Israel, Zürich, 3. Aufl., S. 23.↩︎
225 Als der „Heilige" ist der HErr der Erhabene, Unnahbare, Eifernde, Vollkommene und Himmlische; und zwar treten diese fünf Grunderlebnisse seiner Heiligkeit im Alten Testament geradezu hintereinander in den Vordergrund:
1. Die Hoheitsheiligkeit, besonders in der Patriarchenzeit,
2. 3. die Unnahbarkeits- und Eiferheiligkeit, besonders in der Mosezeit (2. Mose 19,12; 13; 20,21. — 2. Mose 20,5; Jos 24,19),
4. die Vollkommenheitsheiligkeit, besonders bei den Schriftpropheten (bei Jes. 29mal: der „Heilige Israels", vgl. Jes 6,3), und
5. die Himmelsheiligkeit, besonders seit der babylonischen Gefangenschaft („Gott des Himmels"), vgl. Neh 2,20.
Das Neue Testament krönt schließlich diese Entwicklung, indem es in Christo
6. die Liebesheiligkeit offenbart (Joh 17,6; 25; 26).
So gibt es geradezu eine „Heilsgeschichte der Heiligkeitsoffenbarung" (vgl. Hänel, Das Wort Gottes und das Alte Testament, Gütersloh 1932).↩︎