Erich Sauer
Schriften von Erich Sauer
Das Morgenrot der Welterlösung
Zweiter Teil: Die Uroffenbarung
3. Kapitel: Das Frührot des Heils3. Kapitel: Das Frührot des Heils
Einem sonnigen Morgen hatte der Anfang der Menschheit geglichen. Aus der Ewigkeit kommend, hatte die Zeit das Glück gleichsam in Händen getragen. Im Paradiesessegen hatte Gott Himmel und Erde vereint.
Doch dann kam die Sünde. Wie ein nachtschwarzer Gewittersturm brach sie verheerend herein und vertrieb all diesen Morgenglanz aus der Geschichte der Zeit. Fortan stand die Erde unter dem Schatten des Todes.
Folgenschwer war auch das göttliche Gericht. Der Mensch hatte in seinem Ungehorsam das Königsein Gottes verneint und den Herrscher des Alls von dem Thron seines Herzens gestoßen. Sünde ist Aufruhr gegen Gott, Empörung gegen den Höchsten, Rebellion des geschöpflichen Einzelwillens gegen die göttliche Weltordnung. Nun trat das menschliche Ich an die Stelle des abgesetzten Gottes und wurde der König auf dem Thron. Nach Gottes Plan hatte der Mensch gewissermaßen ein geistlicher Kopernikaner sein sollen, der, gleich einem Punkt auf der Kreislinie, von Gott als seiner Sonne und seinem Mittelpunkt abhängt. Anstatt dessen war er nun in den Irrtum des ptolemäischen Systems gefallen und stellt sein eigenes Ich in den Mittelpunkt seines Lebens, um den sich fortan alles andere, Gott und Welt, drehen müsse. Darum hat ihn auch Gott an sein Ich hingegeben. Nun ist der Mensch gänzlich gefangen unter seinem Ich. Er erwartet sein Glück, seine Erlösung von seinem Ich. Er rechtfertigt sein Ich. Er rühmt sein Ich, und alle seine Gedanken kreisen um sein Ich.
Und zu dem Ich gesellt sich die Welt, die der Mensch in seiner Verblendung Gott vorgezogen hatte. Mit dem Ich besteigt gleichzeitig die Welt in ihm den Thron, und Gott gibt den Menschen auch hin an die Welt. Und da das Ich und die Welt nicht imstande sind, den leeren Platz Gottes in ihm auszufüllen, setzt dieser rasende Hunger der Menschenseele ein, der sie selbst zerquält, der Hunger nach Ichgeltung und Welt, nach Besitz und Genuß. Gerade dieser maßlose, unersättliche Hunger ist immer wieder ein Beweis, daß einst Gott das Menschenherz befriedigt hatte, daß das Menschenherz auf Gott angelegt ist.”
Auch im einzelnen verhängt Gott über den Sünder das Gericht.
Das Weib wurde gerade in ihrem höchsten Beruf, im Mutter- und Weibsein, erfaßt (1. Mose 3,16). Ihr kleinerer Kreis von Familie und Haus stand fortan unter dem Druck von allerlei Nöten.
Den Mann traf die Strafe in seinem männlichen Beruf, in dem größeren Umkreis seiner Arbeit und seines Broterwerbs (1. Mose 3,17-19). In dem Mann aber wurde zugleich der menschliche Beruf an sich betroffen, da ja Adam, als Haupt auch des Weibes, zugleich der Vertreter des Allgemein-Menschlichen war. Mühsal der Arbeit, Krankheit, Leiden und Tod sind von nun an das traurige Los aller Menschen. Mit dem Augenblick des Sündigens (1. Mose 2,17!) war der geistliche Tod und mit ihm auch - unter dem göttlichen Gericht - das Aufhören der leiblichen Todeslosigkeit eingetreten. Nachdem sich der Geist von seinem Zentrum, Gott, losgesagt hatte, rissen sich nun auch, infolge des Strafurteils Gottes, die leiblichen und seelischen Lebenskräfte von ihrem Zentrum, dem Geiste, los, und das Ende dieser Trennung von Leib, Seele und Geist ist der leibliche Tod (Röm 6,23). Fortan ist das „Leben“ nur ein allmähliches Sterben, und die Geburt ist der Anfang des Todes. 101
Da aber Adam, als der Stammvater der Menschheit, zugleich auch ihr organischer Stellvertreter war, setzte sich Tod und Verderben auch auf alle seine Nachkommen, auf das ganze, von ihm stammende Menschengeschlecht fort. Der Fall war universal (Röm 5,12-21; 1Kor 15,21).
Infolge der geistseelisch-leiblichen Fortpflanzung der Menschheit besteht ein geheimnisvoller, organischer Zusammenhang zwischen jedem einzelnen und der gesamten menschlichen Art, und dadurch mit Adam als dem Stammvater und Urbild des Ganzen. Jeder einzelne ist ein Teil seiner Vorfahren und ein teil seiner Nachkommen, ein Durchgangspunkt des Blutstroms seiner Eltern und Ahnen. „Die Seele alles Fleisches ist im Blute“ (3. Mose 17,11; 14; Apg 17,26).
Daher die Betonung der Stammbäume in der Schrift (z. B. 1. Mose 5; 1Chr 1-9) und die Bedeutung der Vererbungsgesetze in Familie und Volk. Daher auch die artgemäßen Gleichheiten und Verschiedenheiten der Nationen und Rassen und der gleichartige und dennoch unterschiedliche Erbgrund des Denkens und Empfindens von Volk zu Volk, das heißt, von Seele zu Seele. Daher auch die Übertragung der Unvollkommenheiten und Charakterfehler der Ahnen, das Weitergehen des Bösen von Generation zu Generation, das radikale, zentrale, totale Verderben aller, die Wurzelkrankheit der Menschenseele, das Verlorensein jedes einzelnen, das Vergiftet sein des Gesamtorganismus, das heißt, die Erbsünde. „Da ist keiner, der Gutes tue, auch nicht einer” (Ps 14,3 vgl. Ps 51,7; Joh 3,6; 1. Mose 8,21 vgl. Heb 7,9-10)
Die Gesamtheit aller natürlichen Menschen bildet eben einen rassisch gegliederten, ungeheuren Organismus, und jeder einzelne ist — schon durch seine bloße Geburt — unentrinnbar ein Glied desselben. Er ist „ in" Adam (1Kor 15,22). Die Menschheit ist nicht eine bloße Zusammenzählungssumme vieler getrennter Einzelpersönlichkeiten, sondern ein einziger, ungeheurer „Leib", der, seinem Ursprung und Wesen nach, nur den einen, ins Milliardenfache vermehrten und differenzierten Stammvater Adam darstellt. Daher auch die Allumfassenheit des Falls und die Ausnahmslosigkeit der Sünde (Röm 5,12; 3,10-12; 23); daher auch die Notwendigkeit der Wiedergeburt jedes einzelnen (Joh 3,3) und der Menschwerdung Christi als des Heilands und Erlösers (Röm 5,12-21).
Die Natur. Indem aber Adam durch seinen Ungehorsam die Herrschaft des Schöpfers über sich verneint hatte, hatte er zugleich auch seine eigene Herrschaft über die Schöpfung zerrüttet. Zwar blieb seine Herrschaft als solche bestehen - denn der herrscherberuf des Menschen gehört mit zu seinem unverlierbaren Gottesbild - 102; aber die Ausübung dieser Herrschaft stürzt den gottgelösten Menschen in immer neue Nöte. Was ihm zum Segen werden sollte, wird ihm zum Verderben, 103 und gerade aus der Höhe seiner Berufung ergibt sich ein desto tieferer Sturz.
Und noch mehr. Auch die irdische Schöpfung in sich wird betroffen. „Ist das Haupt bei Gott, so sind es die Glieder auch. Fällt die Krone der Schöpfung in den Staub, so werden auch die Untertanen mit in den Sturz hineingerissen” (A. Köberle). Dies fordert der organische Zusammenhang von Geist und Natur. Aus ihm folgt, beim Eintritt des Falls, eine „Verklammerung von geistiger und leiblich-irdischer Not, von innerem und äußerem Schaden, von Weltschuld und Weltleid, von Menschheitssünde und seufzender Kreatur”. 104 Aus der Pflanzenwelt hatte der Gegenstand der Versuchung, aus der Tierwelt das Werkzeug des Versucher gestammt. So bleiben sie nun beide, das Pflanzen- und Tierreich, um des Menschen willen gebannt (1. Mose 3,17), und die Schöpfung, die durch den Menschen ihrer Erlösung und Vollendung hatte entgegengeführt werden sollen, 105 bleibt weiterhin der Nichtigkeit unterworfen. So bietet sie noch heute jenen rätselhaften Zwitterzustand dar, der in seinem Widerstreit von Glück und Unglück, Weisheit und Unvernunft, Zweckmäßigkeit und Zerrüttung sowohl den Gottesglauben wie auch die Gottesleugnung unmöglich zu machen scheint. 106 Jubel und Jammer, Güte und Grausamkeit, Lebensfreude und Todesweh — das alles durchzuckt nun den Organismus der Erdwelt. Jetzt gleicht die Natur einem großartigen Tempel in trümmerhaftem Zustand, dessen tiefsinnige Inschriften von feindlicher Hand boshaft karikiert worden sind.107 Und der Mensch, der Beherrscher der Erde, ist doppelt entartet: „Entweder wird er, in seiner Bestialität, zu einem Satan für das Geschöpf; oder aber, er kniet anbetend in knechtischer Furcht vor dem Geschöpf. Naturvergötterung beginnt, wo die Gotteserkenntnis verschwindet" (Kroeker), und der „Herr" wird beides: sowohl Sklave als auch Tyrann.
Durch die Schöpfung aber klingt, wie ein leises Gebet, ein schmerzvolles Sehnen. Sie gleicht „mit ihrem von Wehmut angehauchten Zauber einer Braut, die, schon ganz geschmückt für die Hochzeitsstunde, eben an dem dazu bestimmten Tage den Bräutigam hat sterben sehen. Da steht sie nun, noch den frischen Kranz auf dem Haupt, im Brautschmuck; aber ihre Augen sind voll Tränen". 108
Und doch ist sie nicht ohne Hoffnung ihrem Seufzen unterstellt (Röm 8,20). Einer gefangenen, aber harrenden Jungfrau gleich, die am Gestade des Meeres mit erhobenem Haupte nach dem Befreier aus fernem Lande ausspät, so sehnt sie „in hochgespannter Erwartung" ihre Erlösung aus der Knechtschaft der Nichtigkeit herbei. 109
„Wir wissen, daß die ganze Schöpfung zusammen seufzt und in Geburtswehen liegt bis jetzt” (Röm 8,22). Was aber soll sie denn gebären? — Den neuen Himmel und die neue Erde!
Dann aber wird all ihre Sehnsucht gestillt, und ihr stummes Gebet wird erhört sein. „An jenem Tage, da werde ich erhören, spricht der HErr. Ich werde den Himmel erhören, und dieser wird die Erde erhören. und die Erde wird erhören das Korn und den Most, und sie, sie werden Jisreel erhören" (Hosea 2,21; 22 Elb.).
Aber gerade der Erde Leid dient mit zur Erlösung des Menschen. Denn gerade dadurch, daß sie ihm das nicht bieten kann, was er von ihr erwartet, löst sie ihn selber von seinen falschen Hoffnungen und nährt seine Sehnsucht nach dem verlorenen Paradiese. So sollen seine Enttäuschungen am Irdischen den Menschen frei zu machen helfen für das Verlangen nach dem Himmlischen, damit er am Ende das Bekenntnis ablegen kann:
„Siehe, zum Heile ward mir bitteres Leid” (Jes 38,17).
Das Gericht über die Schlange. Am deutlichsten zeigt sich das Frührot des Heils in dem Urteilsspruch über die Schlange (1. Mose 3,15). Hier beweist das „Urevangelium", wie die durch das Dunkel des Zornes hindurchstrahlende Gnade den Fluch über die Schlange zur Verheißung für den Menschen gestaltet hat.
In dem Augenblick, wo der Sünder, auf das Strafurteil wartend, als Angeklagter vor Gott stand, konnte ihm natürlich keine u n mittelbare Verheißung gegeben werden. Dennoch mußte ihm, dem Hörenden und Zitternden, das Gerichtsurteil des Verderbens über seinen Verderber zum Hoffnungsstrahl für ihn selber werden. Zwar war also die „Vorderseite des Urevangeliums Gericht; aber die Rückseite bedeutete Verheißung für die Menschheit."
Zunächst ist jedoch der Sinn der Weissagung noch dunkel; denn wenn Satan durch die Schlange dargestellt war, so konnte der Schlangen„same” doch nichts anderes sein als die Gesamtheit aller dämonischen und menschlichen Wesen, die, als gottfeindliche „Otternbrut” (Mt 3,7; 12,34; 23,33), auf der Seite des Teufels stehen würden - also nicht ein einzelner , sondern eine Vielheit von Wesen. Dann aber forderte die Harmonie der gleichlaufenden Gegenüberstellung, daß auch der Weibessame nicht nur eine Einzelperson, sondern ebenfalls eine Vielheit von Nachkommen sei, nämlich die Gesamtheit aller derer, die sich gläubig auf den Boden der dem Weibe gegebenen Verheißung stellen würden. Nur indirekt konnten die ersten Menschen ahnen, daß auch die Nachkommenschaft des Weibes dereinst in einer Einzelpersönlichkeit gipfeln würde; denn wenn es in dem Schlußsatz der Weissagung heißt, daß der Weibessame nicht nur dem Schlangensamen, sondern geradezu dessen Haupt, der Schlange selbst, den Kopf zertreten werde, so ließ sich daraus unter Umständen die Erkenntnis gewinnen, daß auch er selbst einst in einem Haupt, einer Einzelperson, seinen Gipfelpunkt erreichen werde.
Erst heute sehen wir, rückwärts schauend und belehrt durch die Auslegung späterer Weissagungen (bes. Jes 7,14; Mt 1,21-23; Micha 5,2; Gal 4,4), daß Gott hier zum ersten Male - wenn auch nicht ausschliesslich, so doch einschliesslich, ja vornehmlich - von Christo, seinem Sohne, gesprochen hat (Röm 16,20; 1Joh 3,8b). Dieser ist, als der Mittelpunkt der Menschheit, zugleich Zentrum des Weibessamens. Erst von hier aus verstehen wir auch, warum Gott nicht von einem Mannessamen, sondern von einem Weibessamen gesprochen hat (vgl. Mt 1,18), und gleichzeitig eröffnet dies Weissagungswort vom Fersenstich und vom Kopfzertreten jene wundersame Reihe von göttlichen Aussprüchen, welche die für Christus bestimmten Leiden 110 und seine darauffolgenden Verherrlichungen 111 im voraus bezeugten (1Pet 1,11). Der Doppelcharakter aller späteren prophetischen Perspektive — nämlich das erste und zweite Kommen Christi in einem Bilde zusammenzuschauen (z. B. Jes 61,1-3 vgl. Lk 4,17-20) — ist somit schon hier vorhanden; und in diesem Sinne ist das Urevangelium, nicht nur die Urwurzel, sondern auch das Urbild aller Messiasprophetie.
So ist gleich das erste Verheißungswort das umfassendste und allertiefste. Die ganze Heilsgeschichte und Heilsordnung ist in ihm verborgen. „Allgemein, unbestimmt, dunkel, wie die Urzeit, der es angehört, wie eine Ehrfurcht gebietende Sphinx vor den Trümmern eines geheimnisvollen Tempels, liegt es an der Schwelle des verlorenen Paradieses." Erst spät 112 beginnt in der Prophetie seine Lösung anzudämmern. Aber erst der Sohn der Maria, der Jungfrau, der für uns alle den Fersenstich der Schlange erduldete, um ihr den Kopf zu zertreten für uns alle: erst er hat dies für alle Heiligen und Propheten schwere 113 Rätsel dieser Sphinx gelöst, indem er es erfüllt hat." Erst der Höhepunkt der Verheißung - der Immanuel selber - hat den Inhalt der Verheißung ans Licht gestellt. „ Erst das Neue Testament ist der Schlüssel zu dieser Hieroglyphe des Alten Testaments; erst das Evangelium ist die Auslegung des Urevangeliums."
Auf diese erste Ankündigung der Erlösung folgte alsbald
Die Bekleidung der Menschen mit Tierfellen. Zum ersten Mal tritt ein blutiger Tod eines unschuldigen Wesens zugunsten des gefallenen Menschen ein. Der Grundsatz des Opfers wird aufgerichtet (1. Mose 3,21). 114
Und wie die unzureichenden Feigenblätter Ausdruck und Anfang aller menschlichen Selbsterlösungsversuche gewesen waren, so sind nun die dem göttlichen Wort glaubenden und daraufhin von Gott selbst um den Preis eines unschuldig vergossenen Blutes bekleideten ersten Menschen das Urbild aller derer, die sich im Glauben an das Opfer des Lammes Gottes ( Joh 1,29) haben umhüllen lassen mit den Gewändern des Heils und dem Schmuck ewiger Reinheit und Heiligkeit (Jes 61,10; Mt 22,11; 12; Kol 3,12; Gal 3,27). 115 Damit aber wird jene Bekleidung am Anfang der Menschheitsgeschichte eine sinnbildliche Weissagung auf die Mitte der Heilsgeschichte, auf das Kreuz von Golgatha, und zugleich ein Hinweis auf das selige Ende, wenn Gott einst seine Erwählten bekleidet haben wird mit dem neuen Auferstehungsleibe (Phil 3,20; 21; 2Kor 5,2-4; 1Joh 3,2) und dem hochzeitlichen Kleid der Verherrlichung (Off 19,8).
Die Austreibung aus dem Paradiese. Aber nur außerhalb des Paradieses konnte der Mensch sein Paradies wiederfinden. Denn Sünde ist Trennung von Gott. Gott aber ist der Urquell alles Lebens. Also ist Sünde Trennung vom Leben, das heißt geist-seelisch-leiblicher Tod (Röm 6,23).
Soll aber dennoch eine Erlösung bewirkt werden können, so muß die Sünde eine Sühnung finden, und diese muß, um der Gerechtigkeit willen, der Schuld entsprechen, also ebenfalls in der Trennung vom Schöpfer und Leben, das heißt im Tode bestehen (Heb 9,22). Nur so kann das wahre Leben wiederhergestellt werden. Die Erlösung muß darin bestehen, daß der Tod, dieser große Feind des Menschen, zum Mittel seiner Errettung gemacht wird (4. Mose 21,6; 9; Joh 3,14) und das, was die Strafe der Sünde ist, muss zugleich Ausweg aus der Sünde werden (vergl. 1Sam 17,51). Nur durch den Tod kann dem Tode der „Tod” bereitet werden. 116
Dann aber muß ein Sterben in der Menschheit überhaupt möglich sein, und auch daher die Notwendigkeit einer Austreibung aus dem Paradiese und eines Abgeschnittenwerdens der sündigen Menschheit vom Lebensbaum (1. Mose 3,13; 24). Ein weiteres Verbleiben im Paradiese und eine fortgesetzte Verjüngung seiner äußeren Lebenskraft hätte für den Menschen nichts anderes bedeutet als die Verewigung seiner Sünde, seine Verurteilung zur Unerlösbarkeit und damit ein nie aufhörendes Verderben. Eine leibliche Unsterblichkeit des Sünders wäre ein ewiges Sterben seiner Seele und das Paradies eine Hölle geworden. Darum ist die Ausweisung aus dem Garten, so negativ sie auch scheinen mag, dennoch positiv in ihrem Ziel. In allem Nehmen war Gott am Geben. Er überwies den Sünder dem leiblichen Tode, um ihn aus dem ewigen Tode zu retten; und so ist der Akt des Gerichts zugleich eine Gnadenhandlung erlösender Liebe.
So hatte sich dreifach die Tür des Paradieses geschlossen, im Gerich über den Mann, das Weib und die Schöpfung; aber dreifach hatte sich auch das Tor der Erlösung geöffnet:
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als Verheißung des Heils — im Urevangelium,
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als Vorausschattung des Heils — in der neuen Bekleidung der ersten Menschen und
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als Ermöglichung des Heils — in ihrer Ausweisung aus dem Paradiese.
Dreifach ist aber auch der innere Besitz, den der Mensch, nach dem Fall, auf den Weg seiner Geschichte mitnahm:
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im Blick auf die Vergangenheit — die wehmütige Erinnerung, die noch Jahrtausende später den geschichtlichen Hintergrund und äußersten Saum aller Völkerkunde vom verlorenen Paradiese bildet;
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im Blick auf die Gegenwart — den zuversichtlichen Glauben, der auf den Felsen und Stern der im Urevangelium gegebenen Verheißung schaut 117 und
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im Blick auf die Zukunft — die hoffende Sehnsucht, gleichsam als Tochter aus Erinnerung und Glauben geboren. Und nun schwebt dies Sehnen dem Wanderer wie ein himmlischer Engel auf dem Weg in der Wüste voran. Es zeigt ihm Oasen im Sande der Dürre, belebt seine Kraft, beflügelt seine Schritte und lenkt fröhlich seinen Blick auf das Ziel:
„Selig sind, die das Heimweh haben,
denn sie sollen nach Hause kommen. " 118
101 Vor dem Sündenfall war der menschliche Leib, wenn auch nicht gerade unsterblich, so doch zum mindesten nur sterbensfähig, nicht aber sterblich. Das Sterben war keine Unmöglichkeit, aber auch keine Notwendigkeit. Der Mensch besaß, um mit Augustinus zu reden, sowohl die Möglichkeit, nicht zu sündigen und nicht zu sterben (das posse non peccare et mori), wie auch die Möglichkeit, zu sündigen und zu sterben (das posse peccare et mori). Durch den Sieg in der Versuchung sollte er in die Unmöglichkeit, zu sündigen und zu sterben, emporsteigen (aus dem posse non peccare et mori in das non posse peccare et mori). Nach seiner Niederlage aber befindet er sich in der Unmöglichkeit, nicht zu sündigen und zu sterben, d. h. er muß sündigen. Er ist im non posse non peccare et non mori.↩︎
102 Vgl. S. 45, Anm. — Auch S. 74.↩︎
103 Man denke nur an die Auswirkungen vieler neuerer Erfindungen.↩︎
104 A. Köberle, Christentum und modernes Naturerleben, Gütersloh 1932, S. 57
— Hiermit stimmt auch die Erkenntnis der modernen Krankheitskunde und Psychotherapie überein: „Schwere seelische Lähmungen bewirken Parallelvorgänge im Physischen, wie auch seelische Befreiungen körperliche Hemmungen mit auflösen können" (Köberle, a. a. O. S. 60).↩︎
105 Vgl. Seite 49. 50.↩︎
106 ,,Die Welt ist so schön, daß wir Gott und unsere Schuld vor ihm darüber eine Zeitlang vergessen können, und die Welt ist so furchtbar, daß wir an Gott deswegen oft verzweifeln möchten" (A. Köberle). „Die Welt redet zu uns wie eine Offenbarung Gottes; sie starrt uns aber auch entgegen wie ein Rätsel Gottes" (Ph. Bachmann). Daher auch die Zwiespältigkeit des allgemein-menschlichen Naturerlebens und sein Schwanken zwischen Naturverherrlichung und Naturverachtung, Naturseligkeit und Naturentfremdung, Naturvergötterung und Naturpessi-mismus. Erst das Evangelium löst diese Spannung durch die Botschaft von der Naturverklärung, durch die Auflösung aller Dissonanzen, die in der Jetztzeit die Natur durchzittern, durch das Eintreten der Weltvollendung und das Kommen der Geistleiblichkeit.↩︎
107 Vgl. v. Gerdtell, a. a. O. S. 13↩︎
108 Schelling in seinen „Vorlesungen über die Philosophie der Offenbarung" (s. C. A. Flügge, Der Schriftforscher, 5. Aufl., Kassel, Heft 13, S. 7).↩︎
109 Röm 8,19. Das mit „ängstliches Harren" (Luther) wiedergegebene griechische Wort apokaradokia bedeutet eigentlich ein (durch griechisch apo) verstärktes Ausspähen mit erhobenem Haupte (kara = Haupt). Paulus vergleicht die Schöpfung einer menschlichen Gestalt, die in hochgespannter Erwartung Ausschau hält — ein sinnreiches Motiv für eine künstlerische Darstellung der Hoffnung.↩︎
110 Vgl. den „Fersenstich".↩︎
111 Vgl. das „Kopfzertreten".↩︎
112 Erst in der Immanuelsweissagung des Jesaja (Jes 7,14 vgl. Micha 5,2). also um 700 v. Chr., d. h. über 3500 Jahre nach der ersten Verkündigung des Urevangeliums selbst (um 4200 v. Chr.).↩︎
113 Mt 13,17; 1Pet 1,10-12.↩︎
114 Ebenso erklären Franz Delitzsch a. a. O. S. 192 f.), v. Hofmann, Keil, Haarbeck (Bibl. Glaubenslehre, Elberfeld 1930, S. 98), W. Vischer (Das Christuszeugnis des Alten Testaments, München 1935, S.82).↩︎
115 Ebenso Franz Delitzsch, a. a. O. S. 192 f., v. Hofmann u. a.↩︎
116 So hat Christus „durch seinen Tod" dem die Macht genommen, „der die Gewalt des Todes hat, dem Teufel" (Heb 2,14). Sein Tod am Kreuze hat die Feindschaft „getötet" (Eph 2,16).↩︎
117 Schon Adam glaubte an das Urevangelium vorn kommenden Weibessamen (1. Mose 3,15). Dies beweist der Name Eva (hebräisch Chawwa, Leben), den er seinem Weibe (Ischa, Männin, 1. Mose 2,23) sofort nach der Urverheißung, gerade unmittelbar vor der Austreibung aus dem Paradiese gab (1. Mose 3,20, Zusammenhang). „Im Tode versunken hat er seinem Weibe dennoch einen so stolzen Namen gegeben" (Calvin) und darin seinen Glauben an die Überwindung des Todes durch das Leben zum Ausdruck gebracht. So war es „eine Glaubenstat, daß Adam sein Weib Eva nennt" (Franz Delitzsch), und der neue Name seines Weibes war für den Menschen fortan das „Merkwort der verheißenen Gottesgnade" (mnemosymon gratiae Dei promissae, Melanchthon). Oder wie Luther es vom Urevangelium in seiner Art sagt: ,,Daran glaubt Adam, davon er zum Christen und selig geworden ist von seinem Fall." — Daß auch Eva sich glaubend auf den Boden des Verheißungswortes stellte, beweist ihr Ausspruch 1. Mose 4,1.↩︎
118 Jung-Stilling.↩︎