Schriften von Erich Sauer
Das Morgenrot der Welterlösung
Dritter Teil: Die vorlaufende Heilsoffenbarung
D. Das Gotteszeugnis der Prophetie
8.Kapitel: Die Propheten Gottes (Die prophetischen Namen)8.Kapitel: Die Propheten Gottes (Die prophetischen Namen)
Gesetz und Verheißung — das sind die beiden Hauptsäulen der alttestamentlichen Offenbarung. Das eine ist das Königliche, das andere das Prophetische. Das Bindeglied zwischen beiden ist der Tempel. Der Priesterdienst ist Gesetz und Verheißung zugleich.
So entfalten sich diese zwei zu einer heilsgeschichtlichen Dreieinheit, und damit wird die ganze Geschichte Israels zu einer Hinführung auf den Messias, der - als der dreifach Gesalbte - Prophet, Priester und König zugleich ist.
Darum hatte Israel auch drei theokratisch führende Stände:
Die Fürsten (Könige, Richter und Älteste) waren die politischen Führer des Volkes; die Priester und Propheten bezogen sich auf das Innere und Ewige. Hierbei waren die Priester die ständigen, durch Geburt bestimmten Hüter der schriftlich niedergelegten Gottesoffenbarung (vgl Heb 7,16), während die Propheten die gelegentlichen, nicht durch Geburt, sondern durch persönliche Berufung bestimmten Träger der sich fortsetzenden Gottesoffenbarung waren (1Sam 10,12).
Vier Namen sind die Hauptbezeichnungen der alttestamentlichen Propheten. Sie zeigen uns zugleich, wie die Menschen beschaffen sein müssen, die Gott als seine Zeugen gebrauchen will:
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Propheten sind “Sprecher”. 254 Sie sind Dolmetscher, 255 Ausleger, 256 „Hervorsager" 257 „Mund” (Jer 15,19 M.) Gottes. Sie stehen zum HErrn in einem ähnlichen Verhältnis wie Aaron zu Mose. „Dein Bruder Aaron soll dein ‚Prophet' sein" (2. Mose 7,1; 2), und „du wirst ihm zum ‚Gott' sein" (2. Mose 4,15; 16).
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Der Geist des HErrn „treibt” die Propheten (2Pet 1,21), legt seine Worte in ihren Mund (5. Mose 18,18; Jer 1,9), redet durch sie (2Sam 23,2). Ihre Zunge ist „der Griffel eines fertigen Schreibers" (Ps 45,2) und ihre Botschaft „Aussprüche Gottes" (1Pet 4,11). Darum heißt es auch über 3808 mal 258 im Alten Testament, dieser Bibel des HErrn Jesu und seiner Apostel: „So spricht der HErr!“
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Propheten sind “Seher”. 259 Sie müssen erst ihre Botschaft „geschaut" haben, ehe sie sie weitergeben können (1Chr 29,29; Jes 30,10). Darum heißt diese - auch wenn sie ganz oder fast ganz ohne „Visionen" ist - dennoch ganz allgemein und schlechthin „Gesicht" (so bei Jesaja Kap. 1,1). Verschieden sind hierbei die Formen der prophetischen Schau.
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Die Wahrnehmung durch den äußeren Sinn. Der Prophet bleibt „im Leibe" (vgl. 2Kor 12,2; 3); er ist nicht „im Geiste" (vgl. Off 1,10 wörtl. ). Er hört und sieht mit seinen körperlichen Sinnen (4. Mose 12,8):
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Mose sieht und hört am feurigen Busch (2. Mose 3);
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Samuel hört, aber sieht nicht (1Sam 3);
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Daniel sieht, aber hört nicht (Dan 5,25);
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Abraham sieht und hört (1. Mose 18).
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Die Wahrnehmung durch den inneren Sinn. Der Prophet ist „im Geiste" (Off 1,10), in der Verzückung (Ekstase). Nach außen hin ist er „verschlossenen", nach innen hin „geöffneten" Auges (4. Mose 24,3; 15). Im Innern „schaut" oder „hört" er. Durch inneres „Schauen" empfängt er die Bildoffenbarung („Vision"), zu der er jedoch oft einer Erklärung bedarf (Amos 7,7; 8,2; Sach 1,9; 4,4; Dan 8,15); durch inneres „Hören" gelangt er zur Wortoffenbarung, die ihm die Erkenntnis mehr direkt vermittelt.
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Die Wahrnehmung durch bloße Steigerung des natürlichen Geisteslebens. Hier steigert Gott entweder die Träume und macht sie zu Vermittlern göttlicher Botschaften (z.B. bei Pharao, Nebukadnezar, Joseph.), oder er steigert die Tätigkeit des Verstandes und erhebt seine Rede zu begeisterter Höhe, z. B. bei den Lobgesängen der Hanna (1Sam 2), der Maria (Lk 1), des Zacharias (Lk 1). Das eine ist das Mittelglied zwischen dem natürlichen Traumleben und der inneren Bild-Offenbarung, das andere die Zwischenstufe zwischen der „Predigt" und der inneren Wortoffenbarung.
So hat Gott „vielfältig und auf vielerlei Weise" zu den Propheten geredet (Heb 1,1); aber das Grundthema war immer das gleiche: die liebende Heiligkeit des HErrn und ihre sieghafte Verklärung in dieser Welt durch Gericht und Gnade bis hin zur Vollendung.
Von besonderer Bedeutung ist hierbei das „Gesetz der prophetischen Perspektive“. Für die Himmelswelt besteht nicht die Schranke der Zeit. „Vor den Augen des Ewigen ist alles Gegenwart." Bei seinem Austritt aus der Sphäre des Zeitlichen in die Sphäre des Göttlichen tritt darum der Prophet zugleich ein in die Sphäre des Überzeitlichen und steht nun als „Sprecher“ des Ewigen königlich über allem Zeitbegriff. So kann er zwar die Zukunft als zukünftig ansehen (z.B. Jes 9,6), aber im selben (!) Satz zugleich auch als gegenwärtig (V.5b), ja sogar als vergangen (V.5a; bes. Jes 53).
„Die Weissagung rückt gar oft zeitlich Entlegenes ganz nahe aneinander und fliegt — bei aller Festhaltung an ihrer geschichtlichen Verankerung — nicht selten über die ganze, zwischen dem Jetzt und dem Dereinst dazwischen liegende, vielleicht mehr als Jahrtausende lang währende Zeitkluft hinweg. 260
So entsteht die prophetische „Perspektive". Sie ist des Propheten Vollkommenheit und Unvollkommenheit zugleich. Ereignisse der näheren und ferneren Zukunft rücken zusammen wie die Gipfel der Berge für den Wanderer im Hochland. Judas Rückkehr aus Babel und Israels Sammlung in der Endzeit (Jes 49,8-12; 43,5-7; 27,12; 13), Christi Kommen in Niedrigkeit und sein Erscheinen in Herrlichkeit (Jes 61,1-3) werden in einem Bilde zusammengeschaut; denn das erste ist das Vorbild des anderen, und das zweite ist die Vollendung des ersten. 261
Daß aber zum mindesten zwei Jahrtausende dazwischenliegen, wird nirgends gesagt; ja, als die Propheten über die „Zeiten und Zeitpunkte nachforschten“, wurde ihnen sogar durch eine besondere „Offenbarung" ihr Nichtverstehen dahin „verständlich" gemacht, daß sie dies gar nicht zu wissen brauchten; denn sie täten ihren Dienst „nicht für sich selbst", sondern für die Geschlechter eines kommenden Zeitalters (1Pet 1,10-12).
So sehen die Propheten die „Gipfel“ - oft drei oder vier hintereinander -, sie erkennen auch deutlich, daß „Täler“ dazwischenliegen; aber wie „breit“ diese sind und was sie im einzelnen in sich bergen, erkennen sie nicht. Sie verstehen, daß die „Leiden“ des Messias den „Herrlichkeiten“ vorangehen müssen (1Pet 1,11; Lk 24,25; 26), daß also eine „Zwischenzeit“ beide voneinander trennt; - darum weissagen sie auch in dieser Reihenfolge 262 -, aber wie lange diese Zwischenzeit währt und was sie des genaueren bedeutet - den Bau der Gemeinde -, das bleibt ihnen ein „Geheimnis“ (Eph 3,2-10; Kol 1,26; Röm 16,25; Mt 13,17). Sie weissagen von der Endzeit, vom Reich des Messias, vom neuen Himmel und der neuen Erde (Jes 65,17; 66,22); aber daß das messianische Reich aus zwei Abschnitten besteht, aus tausend Jahren auf der alten (Off 20,2; 4-7) und aus Ewigkeiten auf der neuen Erde (Off 21,1; 22,5), und daß Weltgericht, Weltuntergang und Verklärung dazwischenliegen (Off 20,9-15) - das sehen sie nicht. Darum schildern sie die neue Erde mit den Farben des Herrlichkeitsreiches der alten (Jes 65,17; besonders V. 20 „Tod“), und das Bild des Tausendjährigen Reiches fließt mit dem Bild der Vollendung in eins zusammen.
So sagt denn der HErr Jesus zu seinen Jüngern: „Wahrlich, ich sage euch: Viele Propheten und Gerechte haben begehrt zu sehen, was ihr sehet, und haben’s nicht gesehen, und zu hören, was ihr hört, und haben's nicht gehört. Aber selig sind eure Augen, daß sie sehen, und eure Ohren, daß sie hören“ (Mt 13,17; 16).
- Propheten sind „Wächter“ 263. „Auf meine Warte will ich treten und auf dem Wachtturm mich aufstellen und will ausspähen, um zusehen, was er zu mir sagen wird" (Hab 2,1; Jes 21,8).
Von hoher Warte aus haben sie ein Auge für die Gegenwart. „Wächter habe ich über euch gestellt und euch gemahnt: Merkt auf den Schall der Trompete" (Jer 6,17). Als Menschen der Geschichte reden sie in geschichtlich bedingter Form zu Menschen der Geschichte. Als Glieder ihrer Gegenwart wenden sie sich, von ihrer Zeitlage ausgehend, an ihre Zeitgenossen. Darum sind sie zugleich auch die Warner des Volkes, die Mahner der Nation (Hes 3,17), die „Kontrollbeamten" der Statthalterkönige, das „Gewissen" der Gesamtheit und als solche seine Hüter und Hirten” (Sach 10,2; 3; 11,3; 16; 17; Hes 34,2).
Als „Wächter" aber spähen sie auch aus in die Zukunft und schauen Gericht (Jes 21,5-12) und Vollendung. „Horch, deine Wächter lassen ihre Stimme erschallen und jubeln allesamt! Denn Auge in Auge sehen sie voll Freude, wie der HErr nach Zion zurückkehrt" (Jes 52,8; 62,6; 7). Als das Ganze aber sind sie des Volkes Berater, Gewissen, Auge, Ohr und Kontrolle.
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Propheten sind „Menschen Gottes“ (1Tim 6,11; 1Kön 13,1). Sie sind gottgeweihte Persönlichkeiten, „heilige Männer“ (2Pet 1,21 Luth. ; Mt 13,7). Ungeheiligte Propheten 264 sind Ausnahmen und nie Gottes ständige Diener. Denn Gott will das Herz und nicht nur den Mund, den Arbeiter und nicht nur seine Arbeit. „In denen, die mir nahen, will ich geheiligt und vor dem ganzen Volke verherrlicht werden" (3. Mose 10,3; Jes 52,11).
Als „Menschen Gottes" sind sie aber auch selbsteigene Persönlichkeiten; denn Gott will nicht Beiseitesetzung, sondern Verklärung, nicht Ausschaltung, sondern In-Dienst-Stellung des menschlichen Wesens, nicht Sklaven, sondern Freunde (Joh 15,15; Am. 3,7), nicht Medien, sondern eben „Menschen“.
So haben wir die ländliche Bildersprache des Hirten Amos (Am 7, 14: 2,13; 3,4-6), die Völkerprophetien des Ministers Daniel (Kap. 2; 4; 7; 8; 11), die Aufforderung zum Tempelbau durch den Priester Sacharja, die Schilderung des zukünftigen Priesterdienstes ebenfalls durch einen Priester, den Propheten Hesekiel (Hes 1,3 vgl. Kap. 40-48). Und was das Charaktermäßige betrifft, so haben wir den Donnerstil der Choleriker Amos und Jesaja, den Klageton des melancholischen Hosea oder Jeremia, den Psalmstil des poetischen Habakuk (Kap. 3). Zuweilen sind sogar die Personennamen der Propheten gleichsam Überschrift und Motto ihrer Botschaft: Jesaja, der „Evangelist" des Alten Bundes, heißt ,,Der HErr gibt Heil", Hesekiel, der Mose des Wiederaufbaus, „Der HErr stärkt" und Daniel, der Prophet der Weltgeschichte und des Weltgerichts, ,,Richter ist Gott".
Auch ihre Gottesbotschaft ist oft zeitgenössisch bedingt. Die alttestamentliche Prophetie ist keine reine Luftlinie. Vielmehr werden an vielen Punkten Ereignisse und Personen der Gegenwart oder der nächsten Zukunft mitberührt. Aus einer bestimmten Lage heraus reden die Propheten zu Menschen in einer bestimmten Lage. Ihrer Umwelt entnehmen sie oft Formen und Farben der Darbringung ihrer Botschaft. Alles ist geschichtlich bedingt und doch zugleich ewigkeitsdurchdrungen. Alles ist menschlich und göttlich, zeitlich und überzeitlich zugleich.
Sie reden von der assyrischen Not und weissagen zugleich den großen Immanuel (Jes 7-12; Mt 1,23); sie reden von dem Auszug aus Ägypten und der Wehklage zu Rama bei der Wegführung nach Babel und weissagen zugleich die Jugendgeschichte des Messias (Hos 11,1 vgl. Mt 2,15; Jer 31,15 vgl. Mt 2,17; 18). Sie reden von der Rückkehr aus Babel und verheißen darin gleichzeitig Israels Sammlung beim Anbruch des Friedensreiches (Jes 11,11-16). Sie reden vom kommenden Gottesreich der Endzeit und malen darin gleichzeitig die Herrlichkeit der neuen Erde und der Vollendung (Jes 65,17; 66,22; 54,11; 12 vgl. Off 21,1; 18-21).
So weissagen sie Weissagungen voraus. Mit Worten verheißen sie Tatprophetien. Sie weissagen Ereignisse, die selber in sich wieder Weissagungen sind und die, wenn sie "erfüllt" worden sind, als Schattenbilder and Unterpfand der Erlösung erst selber wieder „voll" erfüllt werden müssen. Dies alles gehört mit zur geschichtlichen Verankerung ihrer Ewigkeitsbotschaft. 265
Der heilige Schreiber gleicht eben in der göttlichen Inspiration weniger einem Rohr oder einem Kanal, aus welchem sich der hineingeflossene Strom wieder nach außen ergießt, ohne etwas von der Eigenart seiner Zuleitung in sich aufgenommen zu haben; sondern er gleicht einem Blasinstrument, das, je nach seiner Art — Flöte, Horn oder Trompeter —, derselben Melodie desselben Spielers eine bestimmte, ihm eigentümliche Klangfarbe mitteilt; oder er gleicht einer Schreibfeder, die der Schrift genau desselben Schreibers und desselben Textes, je nach ihrer eigenen Dicke oder Dünne, ein oft gar sehr verschiedenes Aussehen gibt.
So trägt jeder Prophet „den Stempel seiner Zeit als Mensch, gleichwie er den Stempel seines Gottes als Prophet trägt...Jeder ist in seiner Art ein „Mund" des HErrn; aber die Töne, die aus diesen Kehlen kommen, sind bald höher (so Jes 40-65), bald tiefer (so Jes 13-23). Verschieden sind die Stimmfarbe und die Stimmkraft der einzelnen; aber ihr Chor bildet eine wunderbare Harmonie; denn der Komponist ist nur einer" (Limbach) . 266
254 Hebräisch nabi (vgl. arabisch nabaa = sprechen).↩︎
255 „Interpres Dei".↩︎
256 Hermeneus theou (Philo).↩︎
257 Griechisch pro-phetes, nicht unbedingt = „Vorher"sager (vgl. englisch forth-teller, nicht immer = for-teller).↩︎
258 Nach Dr. Evans.↩︎
259 Hebräisch roeh (1Sam 9,9; 18; 1Chr 9,22; Jes 30,10).↩︎
260 Franz Delitzsch, Messianische Weissagungen, Berlin 1899, S. 48.↩︎
261 Ein besonders deutliches Beispiel hierfür ist Jesajas Weissagung vom kommenden Hall- und Jubeljahr (Jes 61,1-3), bei deren Verlesung der HErr in der Synagoge in Nazareth mitten im Satz abbrach, weil die Prophetie unvermittelt im selben Satz vom ersten zum zweiten Kommen des Messias übergegangen war und der HErr nur von seinem ersten Kommen reden wollte (Lk 4,18; 19). — Ein anderes Beispiel ist Mal 3,1-4.↩︎
Leiden: | Herrlichkeit: | |
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Ps 2,1-3 | Ps 2,4-12 | |
Ps 8,5; 6a | Ps 8,6b; 7 (Heb 2,5-9) | |
Ps 22,1-22 | Ps 22,22-32 | |
Jes 52,13 - 53,9 | Jes 53,10-12. |
263 Hebräisch zophim.↩︎
264 Wie Bileam (4. Mose 22-24) und Saul (1Sam 19,23). Vgl. Kajaphas (Joh-11, 51), auch Phil 1,15; 18↩︎
265 Man unterscheide also „Verbal"prophetien, d. h. „wörtliche" Prophetien (z.B. Micha 5,1; Jes 9,1; 2) und „typische" Prophetien. Eine typische Prophetie sagt verbal („wörtlich") einen Typus (ein „Vorbild") voraus. Sie hat eine doppelte Erfüllung: als Verbalprophetie ist sie in dem Eintreten des Typus erfüllt; als typische Prophetie ist sie erst dann voll erfüllt, wenn auch dieser Typus „erfüllt" ist, d. h. in der messianischen Heilsentwicklung (z. B. Hos 11,1 vgl. Mt 2,15).
In diesem Sinne ist die israelitische Reichsprophetie vielfach zugleich auch eine Weissagung auf die Heilszeit der Gemeinde. Erst diese Tatsache gibt uns den Schlüssel in die Hand, warum das Neue Testament gewisse altestamentliche Weissagungen, die sich im Sinne der alttestamentlichen Propheten fraglos auf Israel und die endgeschichtliche Zukunft bezogen, vergeistigend auf das gegenwärtige Zeitalter der Gemeinde anwendet (z. B. Röm 15,12 vgl. Jes 11,10 — 1Pet 2,10; Röm 9,25; 26 vgl. Hosea 1,10 — Apg 2,16-21 vgl. Joel, 3,1; 2 — 1Pet 2,9 vgl. 2. Mose 19,6), natürlich ohne ihre buchstäbliche, noch zukünftige Beziehung leugnen zu wollen (Röm 11,29; Apg 1,6; 7). Von Gottes Seite aus war eben mit diesen Weissagungen mehr gemeint, als dem alttestamentlichen Propheten selber bewußt war (1Pet 1,11; 12). Das bloße Vergeistigen ist darum zwar falsch — denn es nimmt Israel seine ihm von Gott zugesagten Verheißungen —; aber die bloße, buchstäbliche Zukunftsdeutung ist ebenso einseitig; denn sie wird der Art der neutestamentlichen Anführungen nicht gerecht. Das „Vergeistigen" ist geradezu zu großem Teil die Methode des Neuen Testaments. Man sollte das eine tun und das andere nicht lassen.
Ferner ist die alttestamentliche Weissagung, wenn sie von dem einst kommenden, sichtbaren Herrlichkeitsreich Gottes auf der alten Erde spricht, gar oft auch zugleich eine vorbildliche Weissagung auf die Endvo11endung auf der neuen Erde. Denn wenn sie das nicht wäre, ständen wir ja vor der schlechterdings unbegreiflichen Tatsache, daß sich die ganze alttestamentliche Reichsverheißung lediglich auf einen doch nur sehr kurzen Zeitraum von eintausend Jahren bezöge und von dem eigentlichen Endziel der Heilsgeschichte überhaupt nicht rede! Nein, sie ist zugleich „vorbildliche" Weissagung auf die Ewigkeit, und bei aller Buchstäblichkeit und Direktheit ihrer Beziehungen auf ihre Umwelt und das einst kommende Tausendjährige Reich muß gesagt werden: Ihr eigentlicher, wesentlicher Kern ist nicht das irdische Gottesreich der alten Erde (dieser erste Teil des kommenden Reiches Gottes), sondern die Ewigkeit, auf die jenes nur Einleitung und Vorstufe gewesen sein wird (dieser zweite und eigentliche Hauptteil des kommenden Reiches Gottes, die Nationen auf der neuen Erde und das dortige, neue Jerusalem, vgl. Je. 65, 17-25; 66, 22; siehe E. Sauer, Der Triumph des Gekreuzigten, S. 181 f.; 168).
So ist denn die alttestamentliche Prophetie heilsgeschichtlich vierfach auszulegen:
1. geschichtlich-zeitgenössisch — auf die alttestamentliche Umwelt der Propheten selbst;
2. geistlich-vorbildlich — auf die Zeit der Gemeinde;
3. buchstäblich-endgeschichtlich — auf Israel und die Weltvölker im kommenden Gottesreich der alten Erde;
4. ewigkeitlich — auf den neuen Himmel und die neue Erde.
Bis hin zur Vollendung ist eben alles erst Vorhalle. Das Alte Testament ist die Vorhalle zur Gemeindezeit; die Gemeindezeit ist die Vorhalle zum sichtbaren, irdischen Gottesreich. Aber auch das sichtbare, irdische Gottesreich ist nicht Endziel, sondern ebenfalls nur Vorhalle. Erst in der Ewigkeit, im neuen Himmel und auf der neuen Erde, ist der Königspalast der Vollendung geöffnet.↩︎
266 Die Geschichte der Prophetie durchläuft sieben Perioden:
1. Vorgeschichte: Adam—Mose,
2. Mose—Samuel,
3. Samuel—Schriftpropheten (Apg 3,24; Prophetenschulen),
4. Schriftpropheten: Joel—Maleachi (um 800 - 400),
5. das Schweigen Gottes: Maleachi - Neues Testament,
6. das Prophetentum Christi: Heb 1,1; 2,
7. die Gemeinde als der Prophet Gottes (1Pet 2,9).
Dann kommt die große Zeit der Erfüllung im messianischen Reich und folglich das Aufhören aller besonderen Prophetie: Heb 8,11, vgl. Sach 13,3-6. - Vgl. Limbach, Die Propheten Gottes, Basel 1906, S. 24 f↩︎