Erich Sauer
Schriften von Erich Sauer
Das Morgenrot der Welterlösung
Zweiter Teil: Die Uroffenbarung
2. Kapitel: Sünde und Gnade2. Kapitel: Sünde und Gnade
Groß war der Mensch in seinem Fall. Noch größer war Gott in seinem Erbarmen (Röm 5,20). Auch dem Sünder gegenüber blieb die göttliche Liebe bestehen (Joh 3,16).
Trotzdem brachte der Sündenfall eine Veränderung aller Weltverhältnisse mit sich. Neue Grundsätze wurden erforderlich, die von nun an die ganze Geschichte der Menschheit beherrschten.
I. Der Grundsatz der Erlösung
Ohne Fall wäre das menschliche Werden ein allmählicher Aufstieg gewesen. Es hätte wohl eine Heilsgeschichte, aber keine Erlösungsgeschichte gegeben. Alles wäre geradlinige Aufwärtsentwicklung gewesen. Nun aber trat an die Stelle der Entwicklungsfähigkeit des Menschen die Möglichkeit und Notwendigkeit seiner Erlösung. Hinfort handelt es sich nicht mehr um Evolution der in ihm ruhenden Kräfte, sondern um Revolutionen des Geistes in göttlichen Liebes- und Neuschöpfungstaten. Die heilsgeschichtliche Bedeutung des Sündenfalls liegt also in der Umwandlung des entscheidenden Grundprinzips aller Menschheitsentwicklung.
In der Tat, der Mensch war nicht hoffnungslos gefallen. Er blieb erlösbar, und Gott wurde ihm zum Erlöser. Zwei Tatsachen begründen diese Möglichkeit. Der Mensch hatte die Sünde nicht selber erfunden. Sein Fall hatte nicht darin bestanden, daß er von innen heraus, von sich aus, nur auf Grund völlig eigener Inspirationen gehandelt hatte, sondern auf Grund einer Versuchung von außen. Sonst wäre er allerdings ein selbsteigener Urgrund der Sünde und damit ein Teufel geworden. Und wie er das Böse weder vor noch in seinem Fall produziert hatte, so hatte er nach seinem Fall sich mit ihm auch nicht identifiziert. Sogleich empfand er die Sünde als etwas ihm Fremdes und machte einen Unterschied zwischen sich und dem Bösen. Dies beweist sein sofortiges Schamgefühl und das Bedecken seiner Blöße durch Feigenblätter (1. Mose 3,7; 10).
Wohl war dieser erste Versuch zur Überwindung des Bösen vergeblich: aber er war doch ein unverkennbarer Beweis, daß der Mensch nicht in Schamlosigkeit und Gemeinheit untergehen wollte, daß er sein Gewissen, gegen das er gehandelt, nun nicht noch mit Bewußtsein ertötete. Damit aber werden jene Feigenblätter geradezu eine Verkörperung und ein Symbol seiner Flucht vor dem Bösen, und das Schamgefühl wird eine noch unbewußte Abwehr des Fleischesdienstes im Gefühl der Schuld und Ohnmacht und somit die erste Gegenwirkung gegen die Macht der Sünde, indem der Mensch, da er das Böse nicht zu überwinden vermag, ihm doch wenigstens zu entfliehen sucht. 87
II. Der Grundsatz der göttlichen Selbstrechtfertigung
Aber die Sünde macht blind, und der Mensch kann sein Verderben nicht einsehen (Eph 4,18; Off 3,17). Er glaubt an das Gute in sich und vergöttlicht sein eigenes Wesen (2Thes 2,3; 4). „Die Menschheit ist die Gottheit von unten gesehen." Solange er das glaubt, wird er niemals die Erlösung ergreifen (Mt 9,12).
Darum muß er Gelegenheit bekommen, seine Kraft nach allen Seiten hin zu versuchen, um letzten Endes dann doch zur Erkenntnis seiner Ohnmacht zu gelangen. Der menschliche Zusammenbruch muß die göttliche Methode des Wiederaufbaus werden. Daher die vielen Jahrtausende im Heilsplan und die Vielgestaltigkeit der Offenbarungsgeschichte in Zeitaltern und Äonen.
Hierbei hat jede Periode des Heilsplans notwendig zugleich die Offenbarung des menschlichen Versagens zum Ziel, und die buntschillernde Verschiedenartigkeit des Ganzen hat darin mit ihren erzieherischen Grund, daß jede dieser Haushaltungen den Bankrott des natürlichen Menschen von einer anderen Seite aus darlegen soll. So werden schließlich alle Seelenkräfte des einzelnen und alle Gesellschaftsformen der Gesamtheit als unzureichend erwiesen, und Gottes Heilsplan in Christo erscheint nicht nur als der einzige, sondern geradezu als der einzig mögliche und notwendige. Damit aber steht Gott vor seiner ganzen Schöpfung im Himmel und auf Erden als gerechtfertigt da, daß er gerade diesen Heilsweg bestimmte. Die Heilsgeschichte wird somit zu einer geschichtlichen Selbstrechtfertigung Gottes 88 und der Offenbarungsverlauf zu seinem eigenen Notwendigkeitsbeweis. Wie geschrieben steht: „Auf daß du (Gott) gerechtfertigt seiest mit deinem Richterspruch und als Sieger dastehest, wenn man mit dir rechtet” (Röm 3,4 Alb.).
III. Der Grundsatz des menschlichen Zusammenbruchs
In der Tat, restloser konnte der Mensch seinen Absturz nicht zeigen, als er getan hat und noch tun wird.
Gibt Gott ihm die Selbstbestimmung,
so gerät er in Zügellosigkeit: 89
im Zeitabschnitt der Freiheitsprobe.
Gibt Gott ihm die Obrigkeit,
so betreibt er Unterdrückung: 90
im Zeitabschnitt hinter Noah.
Gibt Gott ihm die Verheißung,
so versinkt er in Unglauben: 91
im Zeitabschnitt der Patriarchen und der Folgezeit.
Zeigt Gott ihm seine Ungerechtigkeit 92
so versteigt er sich in Selbstgerechtigkeit: 93
im Zeitabschnitt des Gesetzes.
Gibt Gott ihm den Christus,
so erwählt er sich den Antichrist: 94
im Zeitabschnitt des Evangeliums.
Gibt Gott ihm den König,
so folgt er dem Rebellen: 95
im Zeitabschnitt des Tausendjährigen Reiches.
So ist der Mensch dauernd in Auflehnung gegen Gott und — wie Israel im Kleinen — so ist die Menschheit im Großen ein Volk, „dessen Herz immer den Irrweg will” (Ps 95,10). Kein Wunder, daß darum alle Haushaltungen mit göttlichem Gericht enden:
Der Zeitabschnitt des Paradieses - mit der Austreibung aus dem Garten;
Der Zeitabschnitt der Freiheitsprobe - mit dem Flutgericht;
Der Zeitabschnitt des Gesetzes - mit der Zerstreuung der Juden;
Der Zeitabschnitt der Gemeinde - mit der antichristlichen Trübsal;
Der Zeitabschnitt des Herrlichkeitsreiches - mit Vernichtung und flammendem Untergang (Off 20,9).
Aber dann, wenn alle nur erdenkbaren Möglichkeiten erschöpft sind und das Weltreich alle seine Kräfte zerarbeitet hat, wird das Gottesreich triumphierend erscheinen (Off 11,15), und im neuen Himmel und auf der neuen Erde wird Gerechtigkeit ewiglich wohnen (2Pet 3,13).
IV. Der Grundsatz des heiligen „Überrests”
96Sollte aber dieses Endziel erreicht werden können, so durften die dazwischenliegenden Gerichtskatastrophen niemals totale sein. Sonst wäre der Zusammenhang des Kommenden mit dem Vergangenen verloren gewesen, und das neu in Erscheinung Getretene wäre ein Selbständiges und Anderes geworden, nicht aber die Fortsetzung und Weiterführung des Bisherigen. Das aber hätte nichts anderes bedeutet als die unverhüllte Bankrott-Erklärung Gottes vor aller Welt, daß alle seine bisherigen Erziehungsgrundsätze mit der Menschheit zusammengebrochen seien.
Darum mußte stets ein „Überrest“ aus den Gerichten gerettet werden (Jes 10,21; 22; 11,11; Hes 5,1-4 bes. 3; 1Kön 19,18; Röm 1,1-10), um somit die Grundlage für die Weiterentwicklung zu werden. Mitten im Todesgericht mußte stets über dem Bösen immer wieder ein Neuleben begründet werden. Nur so konnte die Einheit des Ganzen bewahrt und die Zukunft organisch mit der Vergangenheit und Gegenwart verbunden werden.
Dies ist die Bedeutung der Frommen in der Welt. Sie sind der Träger jedes Neuanfangs im Gericht und damit der gesamten Einheit des Heilsplans. Erst durch die „kleine Herde” empfängt die große Heilsgeschichte ihre feste Geschlossenheit und ihren organischen Zusammenhang. Erst sie, die Geringen der Welt, sind die menschliche Grundlage für die Durchführbarkeit der Erlösung. Ohne sie würde jede Offenbarungsgeschichte in Stücke zerfallen. Scheinbar ein entbehrlicher Faktor im Weltgeschehen, sind gerade sie „der große Mitarbeiter Gottes, durch den die Welt in ihrem Fortbestand und in ihrem letzten Wesen bestimmt wird. Ihr Wandel mit Gott rettet die Zukunft der Welt". 97 Damit aber werden gerade sie zu den Trägern der Geschichte überhaupt und, in der Schrift, zu den Trägern der Weltchronologie. 98
So ziehen sich durch alle Zeitalter diese zwei Linien hindurch: das Heranreifen der großen „Welt” zum Wettersturm des Gerichts und die Zubereitung der „kleinen Herde” zur Herausrettung aus Elend und Not.
Wie ein Felsen im Meer steht dieses Volk in der Völkerwelt da. Auch die Pforten des Totenreichs werden es nicht überwinden (Mt 16,18); denn mit seinem Bestand steht und fällt alle Hoffnung der Welt, und hinter aller Hoffnung steht ewig die Bundestreue des Erlösers.
Mag darum auch immer wieder die Eiche der Weltkultur durch die Axt des Gottesgerichts gefällt werden müssen: immer wieder bleibt dennoch dieser „Wurzelstock" übrig, der „heilige Same", aus dem neues Leben ersprießt (Jes 6,13 vgl. 11, 1), die „kleine Herde", die das ewige Reich empfängt (Lk 12,32). So flammt aus der Nacht des Gerichts immer wieder das Frührot des jungen Tages hervor, und in den Wetterwolken des Zornes erscheint strahlend der Regenbogen des göttlichen Erlösers (vgl. 1. Mose 9,13).
V. Der Grundsatz des Zweiten vor dem Ersten
Aber dazu erwählt sich Gott stets das Geringe (1Kor 1,26; 27). Nur so wird der eitle Selbstruhm des Sünders zerstört. Darum ist es auch geradezu ein durchgehender Grundzug der ganzen Geschichte der Erlösung, daß Gott immer wieder den Jüngeren dem Älteren voranstellt, das Kleinere vor das Größere setzt und das Zweite vor dem Ersten erwählt:
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nicht Kain, sondern Abel und dessen Ersatz Seth,
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nicht Japhet, sondern Sem,
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nicht Ismael, sondern Isaak,
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nicht Esau, sondern Jakob,
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nicht Manasse, sondern Ephraim (1. Mose 48,14)
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nicht Aaron, sondern Mose (2. Mose 7,7),
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nicht Eliab, sondern David (1Sam 16,6-13),
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nicht der erste König, sondern der zweite,
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nicht der Alte Bund, sondern der Neue (Heb 8,13),
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nicht Israel, sondern die Gemeinde. 99
So nimmt Gott immer wieder „das Erste hinweg, auf daß er das Zweite aufrichte” (Heb 10,9). Er erwählt sich das Schwache der Welt, auf daß er das Starke zu Schanden mache (1Kor 1,27). Er beruft sich die Letzten und macht sie zu Ersten, und die Ersten werden die Letzten sein (Mt 19,30). Und dies alles geschieht, „auf daß sich vor ihm kein Fleisch rühme”, sondern: „Wer sich rühmt, der rühme sich des HErrn” (1Kor 1,29; 31).
VI. Der Grundsatz der fortlaufenden Reformation
Und doch! Was geschah? Aus den begnadeten Anfängen von Leben und Kraft ging stets ein Geschlecht voller Abfall hervor. Was die Väter im Glauben errungen, war meist bei den Kindern in der dritten Generation schon verloren (Richter 2,7), und das zum Babel gewordene Jerusalem mußte schließlich- genau wie die einstige „Welt" - dem Gericht des Verderbens verfallen. 100
Sollte aber dennoch der göttliche Plan nicht versagen, so mußte notwendig innerhalb dieses verflachten, inzwischen groß gewordenen Kreises — dessen Väter die Träger einer früheren Reformation gewesen waren — nunmehr ein neuer und kleinerer Kreis berufen werden, der jetzt der Träger der Offenbarung wurde, so daß nun in ihnen die Reformation der Vergangenheit gleichsam eine neue Reformation erlebte. Und da sich dies im Verlauf der Zeit immer wieder vollzieht, ist die ganze Geschichte der Erlösung geradezu von dem Grundsatz einer fortlaufenden Reformation beherrscht, und die Heilsgeschichte gleicht einer Kurve mit den stärksten Zickzackbewegungen im einzelnen, die aber als Großes und Ganzes dennoch unaufhaltsam nach oben geht.
VII. Der Grundsatz des heilsgeschichtlichen Fortschritts
Aber göttlicher Neuanfang ist nie bloße Rückkehr zum Alten. In jeder aus dem Zusammenbruch herausgeborenen Reformation lag zugleich ein keimhaftes Lebensprogramm für die Zukunft. Offenbarung und Entwicklung sind durchaus keine Gegensätze, sondern gehören zusammen. Auch im Bereiche der Bibel gibt es einen Aufstieg vom Niederen zum Höheren, aus der Dämmerung zur Klarheit (Mt 13,16; 1Pet 1,10; Joh 16,12). In Abram erkor sich Gott eine Einzelperson; in Jakob erwuchs eine Familie; am Sinai wurde diese zum Volk. Jetzt sammelt sich Gott ein übernationales Volk aus allen Völkern (Apg 15,14); im kommenden Gottesreich wird es eine universale Völkergemeinschaft sein (Jes 2,2-4; Jes 19,25), und zuletzt wird es einen neuen Himmel und eine neue Erde geben (Off 21,1).
Aber dies alles ist Gottes Werk, kein menschlicher „Fortschritt”, kein Aufstieg der Geschöpfe aus der Tiefe in die Höhe, sondern eine Herablassung des Schöpfers aus der Höhe in die Tiefe; keine Entwicklung menschlicher Kräfte bis zur Entfaltung höchster, idealer Humanität, sondern eine Hinführung zu göttlichen Ewigkeitszielen, durch mächtige Taten göttlichen Eingreifens in Liebe und Kraft. So wird denn durch göttliches Tun von oben nach unten das irdische Sein von unten nach oben geführt, bis zuletzt Gottes Herrlichkeit im Geschöpflichen erscheint und alles Irdische im Himmlischen verklärt ist (Mt 27,51; Joh 3,13).
87 Vgl. v. Gerlachs Bibelwerk zu 1. Mose 3,7.↩︎
88 Zu einer „historischen Theodizee".↩︎
89 Besonders in Lamech (1. Mose 4,23; 24).↩︎
90 Noch dazu in Nimrod, dem Hamiten, dem Gründer des urbabylonischen Weltreichs (1. Mose 10,6-12), dessen Rasse nach 1. Mose 9,25 der Segenlosigkeit anheimgegeben worden war, ja, in Kanaan sogar „Knechte aller Knechte" sein sollte!↩︎
91 Vgl. besonders das zehnmal ungehorsame und murrende Israel in der Wüste am Ende des Zeitabschnitts der patriarchalischen Glaubensverheißung.↩︎
92 Das Gesetz war ein Spiegel der Sünde (Röm 3,20; 7,7)↩︎
93 Vgl. besonders die Pharisäer (Röm 2,17-21).↩︎
95 Vgl. Gog und Magog: Off 20,7-10.↩︎
96 Vgl. J. Kroeker, Noah und das damalige Weltgericht, Wernigerode 1925, S. 147 ff.↩︎
97 Kroeker, a. a. O. S. 157; 158.↩︎
98 Geschichtliche Zahlenangaben in den Stammbäumen gibt das erste Buch Mose nur bei der erwählten Linie (besonders Seth-Noah: 1. Mose 5, und Sem-Abraham: 1. Mose 11.10 ff.; vgl. ferner 1. Mose 25,20; 37,2). In den Ahnentafeln der nicht erwählten Linien finden sich keine Geschichtszahlen (Kain: 1. Mose 4,17-24; die Völkertafel: 1. Mose 10; Ismael: 1. Mose 25,12-16; Esau:1. Mose 36,1-8). Für Gott ist eben nur die Geschichte der kleinen Herde „Geschichte".↩︎
99 Aus der Zeitschrift „Menetekel", 1931↩︎
100 Vgl. Kroeker, a. a. O. S. 147↩︎