Erich Sauer
Schriften von Erich Sauer
Das Morgenrot der Welterlösung
Dritter Teil: Die vorlaufende Heilsoffenbarung
E. Die Heilszubereitung der Völkerwelt
12. Kapitel: Die Fülle der Zeit12. Kapitel: Die Fülle der Zeit
„Da aber die Zeit erfüllet ward, sandte Gott seinen Sohn" (Gal 4,4).
Wir stehen im Jahre 323. Wie ein fliegender „Pardel" (Dan 7,6) hatte Alexander das Perserreich, den kraftlos gewordenen „Bären" (Dan 7,5) und „Widder" (Dan 8,7), zu Boden gerannt. Im Frühjahr 334 hatte er mit nur 35 000 Mann seinen Siegeszug unternommen; im Herbst 331 lag das Perserreich in Trümmern. Schon richtete Alexander seine Blicke nach Westen. Da raffte ihn plötzlich in Babylon im Gartenpalast Nebukadnezars der Tod hinweg (Dan 11,3; 4a). Das „große Horn war zerbrochen“ (Dan 8,8), sein Reich fiel auseinander (Dan 8,8; 22).
Dennoch ist Alexander von bleibender welt- und heilsgeschichtlicher Bedeutung. Denn nicht zufrieden damit, das Morgen- und Abendland nur politisch und militärisch erobert zu haben, bestand sein Plan vielmehr gerade darin, sie auch kulturell zu verschmelzen und gleichsam zu einer einzigen Nation zu verbinden.
30 000 Perser drillte er nach griechisch-mazedonischen Militärregeln. Die griechische Sprache führte er als Weltverkehrssprache ein. Griechische Theater, Schulen und Sportplätze wurden fast überall im Alten Orient errichtet, und mit ihnen zogen griechischer Geist und griechische Denkart immer mehr in den Orient ein.
Umgekehrt nahm Alexander persische Sitten in das Griechentum hinüber. Am königlichen Hofe wurden orientalische Trachten und persisches Zeremoniell, namentlich Königsverehrung, eingeführt. Alexander selbst heiratete die baktrische Fürstentochter Roxane, die „Perle des Morgenlandes“.
Seinem Beispiel folgten 80 seiner Generäle sowie 10 000 seiner mazedonischen Soldaten, die dafür, mit reichen Hochzeitsgeschenken versehen, im persischen Susa 325 ein fünftägiges, glänzendes Vermählungsfest feierten.
So entstand eine Kulturverbindung zwischen Morgen- und Abendland, der sogenannte „Hellenismus"; und auch in dieser Hinsicht glich Alexanders Reich dem Panther der danielischen Vision; denn der prächtigen Buntheit des Pantherfells entsprach nun die farbenreiche Mischung der europäischen und orientalischen Kultur.
Der Hellenismus ist also das Erzeugnis einer bewussten Politik. Er ist die persönliche Kulturschöpfung Alexanders. Gerade darin besteht seine für alle Zeiten unvergleichliche Bedeutung. Das hat auch das Volksbewußtsein, halb ungewollt, angedeutet, indem es Alexander, als dem Ersten aller Sterblichen, den Beinamen „Der Große” verlieh.
Alexanders Reich zerfiel gleich nach seinem Tode; aber sein eigentliches Lebenswerk blieb bestehen. Später, besonders seit dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert, traten die Römer sein Erbe an. Das Eigenartige aber ist, daß sie nicht etwa, wie man erwarten müsste, die Romanisierungspolitik in den Vordergrund ihrer Kulturarbeit stellten, sondern durchaus die Hellenisierung der Welt fortsetzten. So wurde das Römerreich zu einem verhältnismäßig einheitlichen Sammelbecken hellenistischer Kulturen. Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang erstreckte es sich, von den Gewässern des Nils bis hinauf an die Ufer des Tyne an der schottischen Grenze, von der Meerenge von Gibraltar bis an das Hochland von Iran. Und doch! Obwohl die Römer militärisch und staatlich die Herren der Welt waren, wurden sie von den ihnen geistig und philosophisch weit überlegenen Griechen überwunden.
So entstand die Umwelt des Urchristentums, die „Fülle der Zeit". Sie ist charakterisiert durch folgende sechs Grundzüge:
- Welt- Zentralisation,
- Welt- Kultureinheit,
- Welt- Handel und Welt-Verkehr,
- Welt- Friede,
- Welt- Entsittlichung,
- Welt- Religionsmischung.
I. Weltzentralisation
Der Römer kannte nichts Höheres als den Staat. Das Ideal seiner Männlichkeit bestand in der Hingabe an ihn. Diener des „ewigen Roms“ zu sein, war das höchste Ziel seines Ehrgeizes. Daher das Aufgehen des Menschen im Bürger.
Verkörpert wurde diese Staatsidee in ihrer Spitze, im Kaiser. Er war der einigende Gipfel des Ganzen, der „erste Bürger des Staates“ 326. Vom Cäsar in Rom aus gehen die Befehle nach allen Seiten. Ein Wille regiert die ganze Mittelmeerwelt. Auch der himmlische Königssohn wurde Römischer Reichsuntertan (Mt 22,21).
Und doch steht auch dieser Wille unter dem Willen des Höchsten. Von der Zentrale der Mittelmeerwelt geht ein rein politischer, Völker bewegende Befehl aus (der Schatzungsbefehl des Kaisers Augustus, Lk 2,1); aber letzten Endes ist er doch nur ein Mittel in der Hand des Herrn aller Herren, um ein altes Weissagungswort im Lande Juda in Erfüllung zu bringen, das kleine Städtchen Bethlehem-Ephrata, die Stadt Davids (Micha 5,1; Lk 2,1-7). Wie berührt sich doch hier das Große und das Kleine und in dem Kleinen das Allergrößte!
II. Weltkultureinheit
Es hat räumlich ausgedehntere Reiche gegeben als das römische, Reiche von größerer Seelenzahl; aber nie wieder hat es je vorher oder nachher in der Geschichte ein Reich gegeben, das so, wie das römische, alle Kulturvölker seiner Zeit in sich vereinigt hätte. Es war ein gewaltiges Ineinanderfließen der Kulturen, ein großartiger Ausgleichungs- und Verschmelzungsprozeß, der durch die Hellenisierung und Romanisierung des Orients und die Orientalisierung des Abendlandes zustande kam.
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Die drei HauptstRömungen. Im wesentlichen war der Hellenismus des Römerreiches ein Zusammenfluss von drei Hauptsrömungen: dem Griechentum mit seiner Kunst, Wissenschaft und Philosophie, dem Römertum mit seinem Militär-, Staats- und Rechtsleben und dem Orientalentum mit seinen Religionen und Geheimkulten. Damit war, zwar noch kein lebendiger, organischer Universalismus geschaffen - dieser scheiterte schon daran, daß dem Altertum, abgesehen von der stoischen Philosophie, im allgemeinen der Begriff der „Menschheit” fehlte -; aber es war doch das Bewusstsein sehr vieler zum Weltbewußtsein erweitert und die Welt für den Universalismus der Heilsbotschaft Christi vorbereitet.
- Das Weltmissionsgriechisch. Von noch größerer Bedeutung war die Einheit der Weltverkehrssprache. Denn trotz des Fortbestehens der Volkssprachen und Heimatdialekte (Apg 14,11; 21,40) wurde das Griechische doch so in der ganzen Welt verstanden, daß man es schlechthin „die Allgemeine“ (Sprache, griech. Koine) nannte. Damit aber fiel für die bald auftretende, urchristliche Mission eine der Hauptschwierigkeiten — das Sprachenlernen — weg, und der Siegeslauf des Evangeliums konnte mehr als doppelt so schnell vorwärts gehen, als es sonst möglich gewesen wäre. Dies gilt besonders von den Großstädten und unter ihnen namentlich von den Küstenstädten. Paulus aber war Großstadt- und in erster Linie Hafenstadtmissionar. Und so wurde durch diese ganze Entwicklung das Weltgriechisch der Kaiserzeit, unter Gottes Fügung, dazu vorbereitet, das „Weltmissionsgriechisch" d327es Evangeliums und des Neuen Testaments zu werden.
III. Welthandel und Weltverkehr
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Der Weltverkehr. Auf dem Marktplatz jeder Stadt stand ein Meilenstein, der die Entfernung von Rom angab. Auf dem Markt des „ewigen Roms“ selbst, als dem Mittelpunkt der Welt, stand - von Augustus errichtet - ein goldener Meilenstein, der die Hauptstadt als das Herz dieses riesigen, pulsierenden Völkerorganismus bezeichnete. Zwischen Alexandria und Kleinasien bestand tägliche (!) Schiffsverbindung. 328 In 4 Tagen fuhr man von Spanien, in 2 Tagen von Afrika nach Rom-Ostia (Plinius). 329 Bekannt ist die Grabinschrift eines phrygischen Kaufmanns, der die Reise von Hierapolis (bei Kolossä in Kleinasien) nach Rom (je über 2000 km) nicht weniger als 72mal gemacht hat.
Ohne diesen großartigen Weltverkehr wäre die rasche Missionstätigkeit des Urchristentums undenkbar gewesen. Besonders der Seeverkehr war für sie bedeutsam; denn die urchristliche Mission war zu großem Teil Hafenstadt-Mission, besonders bei Paulus. „In der Hauptsache ist die Welt des Apostels da zu suchen, wo der Seewind weht." 330
Aber auch die Landverbindungen waren von größter Bedeutung. Selbst die entferntesten und einsamsten Länder waren durch Straßen und Brücken geöffnet. Ein schon damals ziemlich vollendetes, durch Mauern und Kastelle geschütztes Netz wohl gebauter Straßen verbreitete sich über das ganze Reich. „Alle Wege führen nach Rom.“ Auf diesen kaiserlichen Heeres- und Poststraßen wanderten dann später die Boten des Evangeliums, der Welt die frohe Kunde bringend von dem erschienenen Erlöser. Allein Paulus ist im ganzen zu Wasser und zu Lande über 25 000 Kilometer gereist.
- Die jüdische Diaspora. An dem Weltverkehr beteiligten sich naturgemäß auch die Juden. Viele von diesem, noch im vierten vorchristlichen Jahrhundert im Westen fast völlig unbekannten Volk siedelten sich außerhalb Palästinas an. So entstand die „Diaspora" (Zerstreuung). Schon Alexander der Große hatte in das von ihm erbaute Alexandrien 10 000 Juden gezogen; der König Ptolemäus Lagi und seine Nachfolger siedelten dort sogar über 100 000 Juden an. In der Apostelzeit wohnten in Rom ungefähr 50 000 Juden. Am stärksten waren sie in Babylonien und Ostsyrien vertreten; in Ägypten machten sie ein Achtel der ganzen Bevölkerung, in Alexandrien, der Hauptstadt, sogar fast die Hälfte aus. 331Beinahe der ganze Kornhandel lag dort in ihrer Hand (vgl. Apg 2,9; 10!).
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Das Proselytentum. Durch das Diasporajudentum fing Israel an, in der Völkerwelt bekannt zu werden. Auch seine Religion trat den Heiden entgegen. Manche fühlten sich von dem schlichten, hehren Glauben an den einen Gott angezogen, ja, die Juden selbst trieben geradezu Mission unter ihnen, sogar die Pharisäer, die „Abgesonderten", diese eifrigsten Vertreter ihres Nationalismus (Mt 23,15). Die Gewonnenen nannte man „Hinzugekommene" (griech. Proselyten; Luth. „Gottesfürchtige" Apg 2,11; 8,26-40; 10,1; 2). Ein voller Proselyt wurde durch Beschneidung und Untertauchtaufe in das Judentum aufgenommen.
An das Diasporajudentum knüpfte auch Paulus überall an (Apg 13,5; 14,1; 17,1; 10; 18,4; 19,8 u.a.). Ohne die schlichte Synagoge oder die jüdische Gebetsstätte (Proseuche; Apg 16,13) ist die missionarische Praxis des Apostels kaum mehr denkbar. Damit aber hat der seit Alexander dem Großen aufgekommene Weltverkehr die Grundlage für eine der allerwichtigsten Hauptmethoden der ersten christlichen Missionstätigkeit geschaffen.
- Der paulinische Weltmissionsausgangspunkt. Aber noch mehr. Dem durch den Weltverkehr geschaffenen Diasporajudentum verdankt Paulus indirekt sogar sein Missions-Ostmittelmeerzentrum. Waren es doch bekehrte Diasporajuden aus Cypern und Cyrene, durch deren Dienst die Christengemeinde in Antiochien entstand (Apg 11,20), während die Palästinajuden, aus Mangel an lebendigem Kontakt und Verständnis für die Heidenwelt, das Evangelium nur an Juden und Vollproselyten herantrugen (Apg 15,1-6). Das Antiochien des Paulus, ein Luxus- und Sündenzentrum der alten Welt, „die Stadt der Kneipen", Wie sich ein späterer Kaiser einmal ausdrückte: Gerade hier wurden die Jünger Jesu zum ersten Male „Christen" genannt (Apg 11,26)! Das Antiochia des Antiochus, des „kleinen Horns", des „Antichristen" des dritten Weltreiches (Dan 8,9-14; 11,21-45) — gerade hier war der Ausgangspunkt der Weltmission des Christentums! Welch eine Ironie der göttlichen Weltregierung (Ps 2,4)! Wahrlich, „das Licht leuchtet in der Finsternis" (Joh 1,5).
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Die Weltmissionsbibel. Seine Krönung aber erreicht dieser Gedankengang in der Septuaginta. Die außerhalb Palästinas lebenden Juden verlernten bald die hebräisch-aramäische Sprache, weil sie in hellenistischem Sprachgebiet lebten. Nach einigen Generationen machte sich für die Synagogengottesdienste darum das Bedürfnis einer griechischen Übersetzung der jüdischen Bibel bemerkbar. Im Verlauf mehrerer Jahrzehnte entstand denn auch wirklich eine solche.
Diese Septuaginta (LXX) 332 nun wurde ein gewaltiges Mittel in der Hand Gottes, um das Werk der urchristlichen Verkündigung vorzubereiten und zu fördern. Durch sie wurde das Heidentum mit dem jüdischen Offenbarungsglauben bekannt. Sie haben Paulus und die anderen urchristlichen Missionare auf ihren Reisen dauernd benutzt; ja, die neutestamentlichen Schreiber geben fast alle ihre Zitate aus dem Alten Testament nach ihr. So wurde diese ursprünglich jüdische Übersetzung zur Weltmissionsbibel des Urchristentums, weshalb sie auch später, im zweiten Jahrhundert, von den Juden, aus Opposition gegen das Christentum, nicht mehr benutzt, ja sogar gehasst wurde.
Grundlegend für die Blüte des Verkehrs war der
IV. Weltfriede
Dieser war eine besondere Frucht des Cäsarentums. Seitdem die Römer die Herren des Erdkreises waren, verstummten die Leidenschaften der Völker immer mehr. Der viel gerühmte „Römische Friede" kehrte ein. 333 Wenn auch die Zeit des Augustus nicht völlig frei von Kriegen war, so konnte endlich dennoch der Janustempel in Rom, der Tempel des Kriegsgottes, nach über 200jähriger, ununterbrochener Kriegszeit 334, im Jahre 29 v. Chr. geschlossen werden. Was aber Krieg oder Friede unter den Völkern für die Weltmission bedeutet, davon legt jede Missionsgeschichte Zeugnis ab. So wurden auch hier die Wege für das Evangelium gebahnt.
V. Welt-Entsittlichung
Sittlich aber trug diese ganze Kulturwelt den Todeskeim in sich. Die Ströme von Gold, die, besonders seit Hannibals Besiegung (202), in die Welthauptstadt flossen, führten zu einem derartigen Luxus, daß Schmutz und Gemeinheit bald in der frechsten Weise ihr Haupt erhoben. Am meisten waren Aristokratie und Proletariat verkommen. Nach den Schilderungen eines Tacitus, Sueton und Juvenal können wir uns die Gesunkenheit der damaligen Geburts- und Beamtenaristokratie nicht schlimm genug vorstellen. Prasserei und Schlemmerei, Bestechung und Giftmorde, Gemeinheit und Unsittlichkeit, Unzucht und Ausschweifungen waren an der Tagesordnung, besonders in der Mitte des ersten Jahrhunderts. Genau so gesunken waren die untersten Schichten. Arbeitslos verkam das Proletariat in den hellenistischen Großstädten. „Panem et circenses!” „Brot und Spiele!" das war ihre Forderung an die Herrscher. Am Tage stand man untätig herum; am Abend ging man in das Amphitheater, diese scheußliche Vergnügungsstätte römischer Brutalität. So massenhaft war der Andrang zu den Tierhetzen, Gladiatorenkämpfen und vorgeführten Seeschlachten, daß die Kaiser Vespasian und Titus in Rom das riesige Amphitheatrum Flavium, das heutige „Kolosseum" 335, erbauen ließen, welches 54 000 Sitzplätze hatte und bei dessen Einweihung in 120tägigen Schauspielen nicht weniger als 12 000 Tiere und 10 000 Gladiatoren ihr Leben einbüßten.
Anders war es im Mittelstand. Hier bezeugen die Papyri doch noch viel Anstand und Sitte, inniges Familienleben und starke Religiosität. Allerdings war der Glaube an die Götter Griechenlands sowie an die italischen Gottheiten dahin; dafür aber wandte sich die Masse des Volkes den orientalischen Gottheiten zu, die damals in großer Zahl aus dem Fernen Osten vordrangen.
VI. Weltreligionsmischung
ist darum der letzte, entscheidende Hauptcharakterzug der römischen Kaiserzeit. Aus Ägypten, Persien, Babylonien und Kleinasien drangen orientalische Religionsgemeinschaften missionierend vor und bildeten religiöse Geheimgenossenschaften, die sogenannten „Mysteriengesellschaften".
Selten war eine Zeit so religiös wie die „Fülle der Zeit".Aus Ägypten kam die Verehrung der Isis und des Osiris (Serapis); aus Persien drang der Mithraskult vor, besonders im Heere. Ihm zur Seite stand der kleinasiatische Kybele-Kult mit dem Attisdienst. Aus dem Orient war auch die Kaiserverehrung gekommen.
Und nun gab es eine Götter- und Götzenwanderung vom Orient her, eine Vermischung und Verschmelzung der Religionen und Kulte, wie sie in ihrer „babylonischen" Götterverwirrung geradezu einzigartig in der Menschheitsgeschichte dasteht. Staatsgötter, griechische Götter, Götter des Orients, Mischreligion und Mysterien flossen immer mehr zu einem einzigen, vielfach gefärbten, gewaltigen Hauptstrom zusammen. Das Morgenland eroberte religiös das Abendland. Rom wurde eine „Verehrerin aller Gottheiten“, oft schauerlich fratzenhafter, sinnlos verworrener Ungebilde krankhafter Phantasie. Die ganze Mittelmeerwelt glich einem riesigen Mischkessel. Ein unvergleichliches, west-östliches Religionschaos war entstanden. Die Religionen des Altertums machten geistig bankrott. Gerade darin aber offenbarten sie die Überwaltung des heilsvorbereitenden Erlösergottes.
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Göttergleichungen. Durch den Weltverkehr und die Völkervermischung seit Alexander dem Großen lernten die Völker einander kennen, auch wechselseitig ihren Glauben und Götterdienst. Da tauchte nun selbstverständlich die Frage auf: Wer von ihnen allen hat recht? Die Perser sagten, Ahura-Mazda sei der höchste Gott, die Griechen: Zeus, die Römer: Jupiter, die Babylonier: Marduk, die Ägypter: Ammon von Theben! Aber wie, wenn sie nun alle zugleich recht hätten? Wenn dies alles bei den einzelnen Völkern nur stets verschiedene Namen für ein und dieselbe Gottheit wären, wenn Ahuramazda = Zeus = Jupiter = Marduk = Ammon wäre, und ebenso bei den andern Gottheiten? So aber kommt es jetzt zu zahllosen internationalen Göttergleichungen, und mit der Untermischung und Verschmelzung der Göttergestalten tritt auch allmählich ein Zusammenfließen ihrer Verehrungsformen ein.
Damit aber entsteht auch in Religionsfragen der erste Ansatz zu einer Übereinstimmung der Völker, und das bisherige Landesschema - daß ein Gott an der Spitze aller andern Götter steht - fängt an, zu einem ähnlich gebauten Universalschema zu werden. An der Spitze des Ganzen denkt man sich immer mehr eine allgemeine Hauptgottheit, von der alle andern Götter nur Offenbarungsweisen und Einzelerscheinungen seien. Und so beginnt, über dem ganzen Heidentum der Kaiserzeit zwar noch nebelhafter und unklarer, 336 aber doch mehr oder minder deutlich erkennbarer Eingottglaube zu schweben, der, bei all seiner Verschwommenheit, dennoch eine Ahnung wird von dem einen, wahren,„ unbekannten" Gott Himmels und der Erde, den nun bald die Boten des Evangeliums der Völkerwelt verkündeten (vgl. Apg 17,23).
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Orientalische Geheimreligionen. Noch wichtiger als diese Göttergleichungen wurde die gerade jetzt hervortretende Missionstätigkeit der orientalischen Religionen. Schon daß diese Religionen vom Orient her kamen, war hochbedeutsam. Denn vom Orient kam auch das Christentum. Da hatte dieser Ursprung für die Leute der damaligen Welt durchaus nichts Befremdliches mehr an sich. Sie waren es gewöhnt, orientalische Missionare in das Abendland kommen zu sehen und ihrer Botschaft Gehör zu schenken.
Weiterhin war es die gleichartige Grundidee der meisten dieser orientalischen Religionen: der Glaube an einen sterbenden und wieder zum Leben gelangenden Naturgott, zu dem man durch Vergötterung des Verwelkens und Wiederauflebens der Pflanzenwelt oder des Aufgehens und Untergehens von Sonne, Mond und Sternen gelangt war. 337 Und obwohl dieser Glaube auf einer total anderen Grundlage aufgebaut war als das Christentum — nämlich auf der Vergötterung der Natur und insonderheit der Ausdeutung ihres Werdens und Vergehens am Himmel und auf Erden — nicht aber, wie das Evangelium, auf der wirklichen Offenbarung Gottes und den geschichtlichen Tatsachen des buchstäblichen Sterbens und Auferstehens des Erlösers (1Kor 15,13-19) —, so wurde dennoch, durch all jene Naturreligionen, das Heidentum mit darauf vorbereitet, die Botschaft von Jesu Tode am Kreuz und seiner Auferstehung zu vernehmen.
Die Hauptsache aber war, daß alle diese Religionen Erlösungsreligionen waren und damit der Trauerstimmung und Jenseitssehnsucht entgegenkamen, die - wie jede morsche Überkultur - auch die Römische Kaiserzeit durchzogen. In den Mithrasmysterien steigerte sich diese Weltscheu direkt zu selbstmörderischen Bußübungen.
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Erlösungssehnsucht. 338 Daß aber ein solches Erlösungsbedürfnis gerade jetzt erwachte, hatte seine Ursache in der gerade jetzt durch Welteroberung, Weltverkehr und Weltentsittlichung bewirkten, tief eingreifenden Umwandlung der ganzen praktischen Lebensanschauung des Altertums. Gerade hier erkennen wir am meisten und am tiefsten, daß die Heidenwelt für die Botschaft des Evangeliums vorbereitet war, daß die „Fülle der Zeit” da war.
Das Altertum ist auf das Diesseits eingestellt. Die sichtbare Welt ist die Wirklichkeit, das Jenseits nur Schattenwelt; und im Diesseitigen geht sein Zug nicht nach innen, sondern nach außen. „Daher der Sinn für die Architektur und die Plastik, der Sinn für das Dekorative, die Bühnenlust, Schaustellungen aller Art, Prozessionen und Triumphzüge. Daher auch das Aufgehen des Menschen im Bürger."
Jetzt aber wird alles anders. Die große Umwandlung, die sich jetzt vollzieht, ist die Wendung von außen nach innen, vom Diesseits zum Jenseits. Vor allem waren es die Eroberung der Mittelmeerwelt durch Rom, das Verprassen der gewonnenen Schätze durch das Siegervolk, Ungerechtigkeit und Erpressung in den Provinzen, Materialismus und Entsittlichung in den oberen und unteren Schichten, Welthandel und Weltverkehr, welche schließlich naturgemäß eine Reaktion gegen all diesen äußeren Glanz und Tand hervorrufen mußten und ein Gefühl der Enttäuschung und Leere in den Herzen zum mindesten derer, die für das Edle und Wahre doch noch nicht ganz abgestumpft waren. Ist aber das Glück nicht im Diesseits zu finden, so richten sich die Blicke ganz von selbst um so sehnsüchtiger auf das Jenseits; und dieses ist nun nicht mehr jene finstere, freudlose Schattenwelt von früher, sondern umgekehrt, das Leben auf Erden ist Schatten, und dort ist das eigentliche, wahre Sein. Jetzt redet man immer mehr von dem Leibe als dem „Kerker“ der Seele, und der Tod wird als Befreiung gepriesen, als „Geburtstag der Ewigkeit“, wie Seneca 339 sagt!
Und mit dieser Wendung vom Diesseits zum Jenseits verbindet sich die Wendung von außen nach innen. Das Diesseitige war ja das Sichtbare, und das hatte versagt. Darum richtet sich der Blick mit dem Jenseitigen zugleich auf das Unsichtbare, und mit dem Unsichtbaren auf das Innere und mit dem Inneren in das eigene Herz; und das, was dort im Verborgenen schon immer vorhanden gewesen war, der innere Zwiespalt der Menschenseele, der Konflikt zwischen Gut und Böse, wird jetzt noch genauer geschaut und gar oft zum Gegenstand trüber Selbstbetrachtung. Das Sündenbewußtsein erwacht. Besonders im zweiten und dritten nachchristlichen Jahrhundert, nach den Orgien der ersten Kaiserzeit, kommt geradezu eine Art „Bußtagsstimmung” über die Mittelmeerwelt.
Mit der Wendung zum Unsichtbaren und Inneren aber verbindet sich der Zug zum Übersinnlichen, Geheimnisvollen und Mystischen; und das Gefühl des Enttäuschtseins in all dem bisher Erlebten muß diesem Mystischen den Charakter des Trübsinnigen und Melancholischen geben und beides unter Umständen bis zu Weltscheu und Weltflucht, bis zu Büßungen und Kasteiungen, ja bis zu Selbstpeinigungen und freiwilligen Selbstverstümmelungen steigern. Und das alles nur, um den Frieden der Seele zu gewinnen!
Darum auch die Hinwendung von Zehntausenden von Menschen zu den Göttern des Morgenlandes. Denn diese versprachen den Menschen die ersehnte Erlösung.
Lebenshemmung und Tod sollten im Dasein des einzelnen überwunden werden; und das schienen die orientalischen Religionen zu bringen; denn gerade die östlichen Götter waren nicht nur die Vergöttlichung des Sterbens und Vergehens in der Natur, sondern auch der sieghaften Überwindung des Todes und des aus dem Tode neu erstehenden Lebens! Und der Mensch ist doch Glied dieses selben, vergehenden und immer wieder erstehenden Naturganzen! Darum muß seine Erlösung in dem Anschluß an das Weltgesetz bestehen; das aber heißt — im Sinne der heidnischen Naturvergötterung — in der mystischen Vereinigung mit dem sterbenden und wiederauflebenden Naturgott.
Das Alte muß „sterben“ - daher die Bußübungen, Kasteiungen und Selbstpeinigungen; und das Neue muß „aufleben” - daher die heiligen Mahlzeiten, die mystischen Grade, die Taufen, 340 die geheimnisvollen Weihen. Überwindung des Todes, Wiedergeburt, Unsterblichkeit, ewige Seligkeit - das sind die Heilsgüter, auf die die orientalischen Geheimreligionen hinzielen. In aeternum renatus - „Auf ewig wiedergeboren” - so meinen es Weihinschriften und Grabsteine der Verehrer des persischen Gottes Mithras. „Seid getrost, ihr Frommen; denn da der Gott gerettet ist, so wird auch euch aus Nöten Rettung werden.” So sagt es eine Formel der kleinasiatischen Attisreligion. 341
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Die Erwartung der Völkerwelt. Dabei aber ist noch in weiten Kreisen die Ahnung verbreitet, daß bald die volle Erlösung anbrechen werde, und „auch in dieser Hinsicht richten sich die Blicke nach Osten. Von dort soll die Hilfe kommen. Oft kleiden sich die Ahnungen in ein heidnisches Gewand. Der Kreislauf der Zeiten, so heißt es, ist vollendet. Auf das Goldene Zeitalter ist das Silberne, auf dieses das Eiserne gefolgt. Nun ist auch dieses am Ablaufen. Dann wird der Kreislauf von neuem beginnen. Saturn wird abermals das Regiment übernehmen und das Goldene Zeitalter wird wiederkehren.
Teilweise aber tragen die Ahnungen auch jüdische Färbung, und man erkennt deutlich ihren Ursprung in der Weissagung Israels. Sueton und Tacitus berichten beide von einem weit verbreiteten Gerücht, der Orient werde mächtig werden, und von den Juden werde eine gewaltige Bewegung ausgehen. 342 Überaus merkwürdig klingen diese Ahnungen in dem vierten Hirtenlied des Römers Virgil. 343 Dort besingt der Dichter ein Kind, welches das Goldene Zeitalter zurückbringen wird. Vom Himmel steigt der Knabe hernieder. Dann waltet Friede auf Erden. Ohne Mühe spendet das Land seine Gaben. Die Rinder fürchten sich nicht mehr vor dem Löwen; dem Pflugstier wird das Joch abgenommen, und der Winzer arbeitet nicht mehr im Schweiße seines Angesichts." 344 Das ist aber nichts anderes als die Weissagung Jesajas vom kommenden Friedensreich (Jes 9,6; 11,6; 7)! Und - in der Völkerwelt draußen tönt, deutlich vernehmbar, das Echo der messianischen Prophetie.
Da aber klingt, von Osten her kommend, vom Sonnenaufgang her, aus schlichter Zeugen Mund, immer stärker und stärker werdend, die weltüberwindende Kunde:
Der Versöhner der Menschheit,
der Allheiland der Sünder,
der bewusst von Israel Erwartete,
die unbewußte Sehnsucht der Völkerwelt:
Christ ist erschienen!
So ist die ganze vorchristliche Heilsgeschichte eine Hinführung der Menschheit zum Welterlöser: das Volk Israel wurde offenbarungsgeschichtlich, die Völkerwelt staats- und kulturgeschichtlich vorbereitet.
Das Alte Testament ist Verheißung und Erwartung, das Neue ist Erfüllung und Vollendung. Das Alte ist Aufmarsch zum Gotteskampf, das Neue ist Triumph des Gekreuzigten. Das Alte ist Morgendämmerung und Morgenrot, das Neue ist Sonnenaufgang und ewige Tageshöhe.
325 Dem einstigen Wohnsitz der Königin Esther (Esther 1,2).↩︎
326 Daher auch die hohe Bedeutung der Kaiserverehrung. Sie war der religiöse Ausdruck der im Kaisertum geschauten, politischen Staatseinheit, besonders seit Caligula (37-41) und Domitian (81-96). Ihr Hauptsinn lag im Politischen. Sie war die religiöse Anerkennung der inneren und äußeren Einheit des Weltreiches, die eigentliche Staatsreligion und daher auch der einzige, religiöse Zwang des in Glaubensfragen sonst so sehr toleranten Römerreiches. Der Kaiser galt als der „Gott und Allheiland des menschlichen Lebens" (so schon Cäsar), der ,.Gott aus Gott" (Augustus), „Gottessohn" (Augustus), „Herr und Gott" (Domitian), „Hoherpriester", „Heiland der Welt" (Augustus, Claudius, Nero), „König der Könige". Seine Erlasse hießen „Evangelien" (Augustus), seine Briefe heilige Schriften". Seine Ankunft hieß „Parusie" (adventus), seine Besuche Epiphanien". Durch dies Ganze wurde ein Zusammenprall mit dem Urchristentum unvermeidlich (Hauptgrund der Christenverfolgungen), und gleichzeitig wurde das Kaisertum des ersten Jahrhunderts ein Vorbild auf das Antichristentum der Endzeit (das erste „Tier" mit den „Namen der Lästerung" auf seinen mit Diademen geschmückten Häuptern; Off 13,1). Vgl. Deißmann, Licht vom Osten, Tübingen 1923, S. 287-324.↩︎
327 Deißmann.↩︎
328 Prof. Ramsay, Letters to the seven churches of Asia, S. 18,435.↩︎
329 Vgl. Lic. Hoennicke, Die Chronologie des Lebens des Apostels Paulus, Leipzig 1903, S. 3.↩︎
330 Deißmann, Paulus, Tübingen 1911, S. 25. — Man denke nur an Pauli Aufenthalt in den Hafenstädten Cäsarea, Troas, Ephesus, Athen, Korinth, Rom.↩︎
331 Von den fünf Quartieren Alexandrias waren zwei ganz von Juden bewohnt, und in den anderen drei wohnten ebenfalls noch zahlreiche Juden.↩︎
332 Man nennt sie „Septuaginta" (lateinisch = 70), weil sie, nach der jüdischen Überlieferung, von 72 (70) palästinensischen Schriftgelehrten in 72 (70) Tagen unter der Regierung des ägyptischen Königs Ptolemäus 11. Philadelphus (284-246) in 72 (70) Zellen hergestellt worden sein soll. In Wirklichkeit ist sie, als das Werk vieler Übersetzer, zwischen 250 und 100 v. Chr. in Ägypten (Alexandria) allmählich entstanden. Als letztes Stück ist, wie es scheint, der Prediger Salomo übersetzt worden (wohl erst im 1. Jahrhundert v. Chr.). — Vgl. A. Schlatter, Geschichte Israels von Alexander dem Großen bis Hadrian, Calw 1906, S. 50-52,↩︎
333 Die „Pax Romana".↩︎
334 Seit 236 v. Chr.↩︎
335 Der jetzt übliche Name „Kolosseum" ist erst im Mittelalter entstanden, und zwar in Anlehnung an die in der Nähe befindliche Kolossalstatue Neros (Colossus Neronis),↩︎
336 Theoretischer und pantheistischer↩︎
337 So feierte man im Frühling (am 22. - 25. März) in Kleinasien das Wiederbelebungsfest des Naturgottes Attis, an dessen Hauptfesttage, dem dritten, der Oberpriester dem Volke meldete: „Attis ist wiedergekehrt! Freuet euch seiner Parusiel!" Beim Verwelken der Frühlingsnatur, im glutheißen Sommer feierte man in Syrien die Totenklage für Tammuz-Adonis (Hes 8,14; 15). Vom 13. - 16. November, wenn der Nil fiel und das Korn, gleichsam zum Sterben, eingesät wurde, fand in Ägypten das Trauerfest des Nilgottes Osiris statt, und am 25. Dezember, dem (ungefähren) Tag der Wintersonnenwende, war der „Geburtstag", d. h. der Wiederbelebungstag des Sonnengottes Mithras in Persien, des Baal in Syrien u. a. Ähnliche Gottheiten waren in Griechenland Dionysos, Orpheus, Hyakinthos, ferner Melkart von Tyrus und Sandan von Tarsus (vgl.. Brückner, Der sterbende und auferstehende Gottheiland in den orientalischen Religionen, Tübingen 1920).↩︎
338 Dieser Abschnitt nach Uhlhorn, Der Kampf des Christentums mit dem Heidentum. Stuttgart 1924, S.55-67.↩︎
339 Stoischer Philosoph, Lehrer Neros, Bruder Gallions (Apg 18,12).↩︎
340 Z. B. in den Mysterien der kleinasiatischen Kybele (Magna Mater) die schaurigen Bluttaufen der „Taurobolien". Der Myste stellte sich in eine Grube, die oben mit Brettern zugedeckt war. Über den Brettern schlachtete man dann einen Stier, dessen Blut durch die Ritzen der Bretter auf den unten Stehenden herabfloß.↩︎
341 Brückner a. a. O. S. 23.↩︎
342 Beide Schriftsteller berichten um 120 n. Chr., es stehe in alten Büchern der Priester, daß Abkömmlinge aus dem Judentum sich der Weltherrschaft bemächtigen würden, und zwar Tacitus in Hist. V, 13 und Sueton in Vesp. 4.↩︎
343 Römischer Dichter (1. Jahrhundert v. Chr.).↩︎
344 Uhlhorn, a. a. O. S. 67.↩︎