Erich Sauer
Schriften von Erich Sauer
Das Morgenrot der Welterlösung
Dritter Teil: Die vorlaufende Heilsoffenbarung
C. Warum gab Gott das mosaische Gesetz?
7. Kapitel: Der Lebenswegdes Gesetzes7. Kapitel: Der Lebenswegdes Gesetzes
„Das Gesetz erquickt die Seele" (Ps 19,8)
Darstellung des Reichsgottesverhältnisses zwischen Israel und Gott und Sachweissagung auf das Werk Christi - das war der zweifache Sinn des israelitischen Gottesdienstes. Das eine ist seine sinnbildliche, das andere seine vorbildliche ( typologische) Bedeutung.
Ein Sinnbild ist eine sichtbare Hülle eines Unsichtbaren, eine stoffliche Einkleidung einer höheren Wahrheit, ein Abdruck und Ausdruck eines Geistigen und Übersinnlichen.
Ein Vorbild („Typus") ist ein prophetisches Sinnbild, eine Person, Sache, Einrichtung oder Begebenheit, die auf Christum und sein Erlösungswerk hinweist, ein „Schatten der zukünftigen Güter" (Heb 10,1; 9,11; Kol 2,16; 17), eine Vorausdarstellung der "himmlischen Dinge" (Heb 9,23).
Das Sinnbild gilt also seiner Gegenwart, ist rein alttestamentlich und bezieht sich auf Israel; das Vorbild redet von Christus, zeigt hin auf die Zukunft und ist messianische Prophetie. Das Sinnbild bleibt im Gesetz; das Vorbild schaut auf die Gnade; es ist ein Stück Evangelium im Alten Bunde, ein Stück Neues Testament mitten im Alten Testament. 235
Auf diese Weise offenbart der alttestamentliche Gottesdienst ein
Doppeltes.
I. sinnbildlich: die alttestamentliche Gottesgemeinschaft,
II. vorbildlich: die neutestamentliche Gottesgemeinschaft,
und zwar von letzterer:
a) durch die Opfer –
die neutestamentliche Heilsgrundlage,b) durch die Stiftshütte –
das neutestamentliche Heilsweltbild,
den neutestamentlichen Heilsmittler,die neutestamentliehe Heilsgemeinschaft.
Diese seine Aufgabe vollführt er durch die Erfüllung von vier Gruppen bildhafter Bestimmungen:
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Die Stätte des Gottesdienstes: Allerheiligstes, Heiliges, Vorhof, 236
-
Die Personen des Gottesdienstes: Hoherpriester, Priester, Leviten, 237
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Die Handlungen des Gottesdienstes: Opfer, 238 Reinigungsvorschriften, 239
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religiöse Gebräuche 240
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Die Zeiten des Gottesdienstes: Sabbat, sieben Hauptfeste, Sabbatjahr und Halljahr.
A. Die alttestamentliche Gottesgemeinschaft
Durch dieses vierfache Band vereinigt sich der HErr mit seinem Volke. Die Sittenbestimmungen hatten den Abstand gezeigt, der zwischen dem Heiligen und dem Sünder besteht; der Hauptzweck des Gottesdienstes aber war die Gemeinschaft. Zwar war auch in den Opfern ein alljährliches „Erinnern an die Sünde" (Heb 10,3) - und insofern standen sie auf derselben Linie wie die Sittengesetze - ; dennoch war gerade ihr Hauptsinn eine gewisse Vergebung von Sünden (3. Mose 4,20; 5,10), 241 und, als deren Folge, ein dementsprechender Verkehr mit dem Höchsten.
Darum hießen die Priester auch die „Nahenden" (3. Mose 10,3); und die Stätte des Gottesdienstes hieß „Zelt der Zusammenkunft", 242 das heißt „Zelt, in dem Gott mit Israel zusammenkommt" (2. Mose 33,7; 40,34). 243 Darum war der Deckel der Bundeslade der Mittelpunkt und das allerheiligste Gerät des ganzen Kultus. „Daselbst will ich mit dir zusammenkommen und mit dir reden — von dem Sühndeckel herab zwischen den beiden Cherubim auf der Lade des Zeugnisses" (2. Mose 25,22).
Die Grundidee des mosaischen Opferdienstes ist also nicht nur Sühnung, sondern Versöhnung, nicht bloße Vergeltung durch richterliche Gerechtigkeit, sondern verhältnismäßige Wiederaufnahme des Gemeinschaftsverkehrs durch erlösende Liebe. Diese Versöhnung aber ermöglicht das mosaische Opfer durch „Zudecken" der Sünde. 244 Hinwegnehmen zwar kann es sie nicht; denn „unmöglich kann das Blut von Stieren und Böcken Sünden hinwegnehmen“ (Heb 10,4; 11) - das vermag allein das Opfer Christi (Heb 9,26) - ; aber, im Hinblick auf Golgatha, die aus Schwachheit 245 geschehenen Sünden zudecken, und sie also gleichsam aus den Augen des HErrn verschwinden lassen: das war ihre Aufgabe und, infolge ihrer Beziehung auf das Kreuz, ihre Kraft. 244 )
So besaß denn vor Golgatha die Gesamtmenschheit nur die „Nachsicht" Gottes (Röm 3,25; griech. paresis); Israel dagegen hatte, aufgrund seiner Opfer, eine gewisse 11 ) Vergebung von Sünden (griech. aphesis; Ps 32,1) und eine verhältnismäßige 11 ) Gottesgemeinschaft. Darum „jubeln" (Ps 32,11; 33,1; 68,4) schon im Alten Testament die Propheten und Psalmsänger über die Segnungen und Lebenswirkungen des Gesetzes. Ihnen war das Gesetz nicht nur Aufdeckung der Schuld und Hinführung zur Verzweiflung ( vgl. Röm 7!), sondern „Herzensfreude" (Ps 19,8), „Wonne" (Ps 119,47; 36,9), „Glückseligkeit" (Ps 32,1).
„Erkenntnis der Sünde“, sagt Paulus (Röm 3,20). - Von „Krönung mit Gnade“ spricht David (Ps 103,4).
„Der Buchstabe tötet“, sagt der Apostel (2Kor 3,6). - „Das Gesetz ist erquickend“, sagt der Psalmist (Ps 19,8).
„Ich elender Mensch!“ heißt’s im Römerbrief (Röm 7,24). - „Glückselig der Mann!“ sagt der Psalter (Ps 1,1; 32,1).
Vom „Fluch“ spricht der ehemalige Pharisäer (Gal 3,13). - „Der HErr segne dich!“ sagt der Hohepriester (4Mo 6,24).
Und doch reden sie beide von dem selben Gesetz! Und doch haben sie alle beide recht! Denn das Gesetz ist wie eine Magnetnadel mit ihren zwei Polen: ein Zeiger auf Christum als das einige, außer ihm liegende Ziel und doch zugleich in sich selber eine Einheit von zwei Gegensätzen: in den Sittenbestimmungen liebende Heiligkeit, im Gottesdienst heilige Liebe; in den Moralgesetzen der Abstand, in den Zeremonialgesetzen die Gemeinschaft; in den Verhaltungsmaßregeln das Bindende, in den Priesteranordnungen das Befreiende; dort die Herrschaft, hier die Erlösung; dort das „Aufdecken", hier das „Zudecken"; dort Sühne, hier Versöhnung. Kurz: die Moralgesetze sind Gerichtshalle und Königspalast; die Zeremonialgesetze sind Tempel.
Und doch gehören sie beide zusammen, wie die Pole des Magneten. 246 Denn es gibt nur ein Gesetz Israels (Jak 2,10) mit nur einem Mittler , Mose, und nur einem Ziel, Christus.
Dieser aber bringt die Erfüllung von beidem: in bezug auf die Moralgesetze die „Gnade", die Vergebung der Sünden, in bezug auf die Zeremonialgesetze die „Wahrheit", das Wesenhafte statt der Schatten (Kol 2,17; Heb 10,1). So ist „das Gesetz durch Mose gegeben; aber die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesum Christum geworden“ (Joh 1,17).
Dies alles aber beweist, daß es durchaus falsch wäre, das Alte Testament nur als überwundene Vorstufe zum Neuen aufzufassen. Auch die alttestamentlichen Heiligen hatten ein gewaltiges Glaubensgut, das das Alte Testament unmittelbar in sich selber trug. „Der Heilige Geist war des Gesetzes verborgene Seele“ (vgl. 1Pet 1,11; Heb 3,7; 2. Mose 31,3). Nur dadurch konnte auch der Psalter der alttestamentlichen Gemeinde das Gesangbuch des neutestamentlichen Urchristentums werden (1. Kor.. 14,15; 26; Eph 5,19; Kol 3,16).
Das Alte Testament ist eben beides: vom Ziel aus gesehen, untergeordnet unter das Neue, und doch, was es selber betrifft, in sich selbständig. Das Alte Testament ist ohne das Neue „ein Gebäude ohne Spitze"; das Neue ist ohne das Alte „ein in der Luft stehendes Haus" (Kübel).
So bleibt dem Alten Testament sein Recht und dem Neuen sein Vorrecht. Das Neue ist im Alten verhüllt, aber doch schon enthalten; das Alte ist im Neuen enthüllt und zugleich herrlich entfaltet. 247 „Das Alte Testament ist die Knospe, in der alle Pracht schon vorhanden ist, aber verschlossen; das Neue Testament ist die volle Blume, die aufgebrochen ist, die ihre Pracht zeigt und ihren süssen Duft geniessen lässt. Altes und Neues Testament ist ein und dasselbe und doch jedes anders."
B. Das neutestamentliche Heil im Alten Testament
Die entscheidende Grundaussage des Alten Testaments ist: „Der HErr, dein Gott, ist ein einiger Gott." Im Gegensatz zu den vielgötterischen Religionen des Alten Orients, besonders Ägyptens und Mesopotamiens, und den ebenfalls vielgötterischen Religionen des klassischen Altertums, besonders Griechenlands und Roms, strahlt diese Erkenntnis im Leuchtkreis der alttestamentlichen Gottesoffenbarung immer heller und heller auf. Zugleich wird an dieser Stelle mit der Endlichkeit und Sündhaftigkeit der gefallenen Menschennatur voller Ernst gemacht.
Gott ist der Ewige, und wir sind die Zeitlichen. Er ist der Heilige, und wir sind die Sünder. Er ist der Lebendige, und wir sind die Todverfallenen. Soll aber dennoch eine Verbindung zwischen Ihm und uns stattfinden, so muß er selbst ganz von sich aus, durch eine Setzung von der Ewigkeit her, an irgendeiner Stelle in der raumzeitlichen Welt diese Verbindung herstellen.
Dies geschieht in der alttestamentlichen Bundesschließung. Fortan ist an Verbindungspunkt da, auf dem die Gottheit mit der Menschheit „zusammenkommt" (2. Mose 25,22), eine „Sinnmitte des Weltgeschehens", die aller Geschichte erst Lebensbestand und Ziel gibt, ein Zeit-Ewigkeits-Schnittpunkt, an dem der Sünder in die Gegenwart des Heiligen tritt. Dieser aber muß, soll der Sünder hier nicht vernichtet werden, vor allem ein Doppeltes in sich bergen, ein Verneinendes und ein Bejahendes, einen Abbruch des Alten und eine Einführung des Neuen, nämlich Entsündigung und Heiligung, Vergebung und Neubeherrschung, Versöhnung und Führung oder, alttestamentlich ausgedrückt, Deckung und Weisung, Kapporeth und Thora, Versöhnungsdeckel und Gesetzestafeln. Diese beiden waren darum auch mit der Bundeslade, diesem symbolischen Zentralgerät des alttestamentlichen Gottesdienstes, auf das wesenhafteste verbunden (2. Mose 25,17-22; Heb 9,4). 248
„Dieser Mittelpunkt, den das Weltgeschehen damit bekommen hat, ist ein wandernder Punkt, der mit dem Fortgang der Geschichte weitergeht. Er wandert mit Israel, solange es ein Nomadenvolk ist, durch die Wüste. Er läßt sich dann, nachdem Israel ansässig geworden ist, im Tempel nieder. Dann aber tritt an die Stelle des steinernen Tempels, der der Zerstörung geweiht ist, das „geistliche Haus“ der Gemeinde, das aus „lebendigen Steinen“ aufgebaut ist (1Pet 2,5). So geht der lebendige Mittelpunkt, die Sinnmitte des Weltgeschehens, durch die Geschichte. Christus bleibt bei seiner Gemeinde bis an der Welt Ende” (Karl Heim).
Damit aber wird klar, daß diese ganze Entwicklung ein einziger, großer Zusammenhang ist, eine einzige, von Anfang bis zu Ende hindurchgehende, göttliche Versöhnungstat. Die Christusoffenbarung ist die Vollendung dessen, was mit dem Abrahamsbund begann. Darum heißt Jesus auch „der Christus", das heißt der vom Alten Testament geweissagte, von Israel erwartete, schon unter diesem Namen von den Propheten des Alten Bundes, beschriebene, gottgegebene „Gesalbte" (Ps 2,2; 1Sam 2,10; Dan 9,25). Sein Christustitel drückt seine unzerreissbare Einheit mit der alttestamentlichen Gottesoffenbarung aus.
Aus dieser Einheit des jahrtausendelangen Zusammenhangs folgt, daß Gott schon in der alttestamentlichen Zeit gewisse Vorausdarstellungen des kommenden Heils geben konnte, gewisse Tat- und Sachweissagungen, Ämter und Einrichtungen, Geschichtsführungen und Einzelereignisse, die auf Christum und sein Erlösungswerk hinzielten. Darum erkennen der HErr selbst und seine Apostel dem Alten Testament auch vielfach einen solch vorbildlich-weissagenden Sinn zu, der, bei aller Festhaltung der zeitgeschichtlichen Beziehung, dennoch, vom Ziel aus gesehen, das eigentlich Wesenhafte war (Kol 2,17; Heb 10,1).
So ist die eherne Schlange ein Vorbild auf das Kreuz (Joh 3,14), der Prophet Jona auf die Auferstehung (Mt 12,40), das Manna in der Wüste auf Christus als das Lebensbrot (Joh 6,31-35).
Vor allem sind es die alttestamentlichen Opfer- und Priestereinrichtungen, die hier in Betracht kommen. In ihnen ist das Werk Christi schon vor Christus sinnbildlich vorausdargestellt. Sie waren Abbilder von ihm als dem Urbild; sie waren Vorbilder von ihm als dem Ziel (Heb 8,5; 9,23-25).
Ja noch mehr. In den alttestamentlichen Opfern war das Werk Christi sogar schon zu ihrer Zeit geradezu wirksam. Sie waren sinnbildliche Handlungen mit tatsächlicher Heilswirkung, nicht nur Vorausdarstellung, sondern Herstellung einer gewissen Gemeinschaft mit dem Heiligen, nicht nur Symbol, sondern Sakrament (3. Mose 4,31).
Dabei hatte jedoch keine dieser Priesterhandlungen ihren Wert in sich selber (Heb 10,4). Sie empfingen alle ihre Kraft nur von dem einen Opfer von Golgatha. Sie waren kraftlos und doch wirksam, arm und doch reich machend, unvermögend und doch Segen spendend, gleichsam „Wechsel" einer Reichsbank, die in sich selbst nur Papier sind und doch - im Blick auf den Tag ihrer Einlösung - schon vor dem Fälligkeitstermin als Barzahlung gelten. Jesus Christus hat dann durch seinen Opfertod am Kreuz alle diese „Wechsel“ des Alten Testaments vollwertig „gedeckt“. 249
I. Das mosaische Opfer
Die Haupthandlung des israelitischen Gottesdienstes ist das Opfer. Seine Grundidee besteht aus vier Haupterfordernissen:
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Die Fehlerlosigkeit des Opfers weist hin auf die Heiligkeit des HErrn Jesu. Seine Freiheit von der (Erb-)Sünde durch seine wunderbare Geburt und seine Freiheit von allen (Tat-)Sünden durch seinen heiligen Wandel (1Pet 1,19).
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Die durch die Handauflegung ausgedrückte Einswerdung des Opfers mit dem Opfernden weist hin auf die Schuldübernahme durch den HErrn Jesus. In der Tat, schon am Jordan, als Christus, der Sündlose, sich der „Taufe der Buße zur Vergebung der Sünden“ unterwarf (Mk 1,4), vollzog er die sinnbildliche Bereitschaftserklärung, den Platz des Sünders einzunehmen, mit ihm eins zu werden und die Sünden der Menschheit zu tragen (Mt 3,14; 15), eine sinnbildliche Bereitschaftserklärung, die er am Kreuz dann geschichtlich zur Ausführung brachte (1Pet 2,24).
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Die Straferduldung erlitt Christus auf Golgatha, und so wird die Tötung des Opfers eine Weissagung auf das Kreuz (Heb 9,13; 14). „Ohne Blutvergießen geschieht keine Vergebung” (Heb 9,22).
So beziehen sich diese drei ersten Erfordernisse des Opfers auf das Werk Christi auf Erden, auf den „Christus für uns“, der in den Tagen seines Fleisches die Heilserwerbung vollbracht hat (Heb 5,1-9).
Aber das Erworbene muß zugeeignet werden, und dies geschieht nur durch den Glauben und die sich daraus ergebende, organische Einswerdung des Schuldners mit dem Bürgen (Joh 6,53). Darum muß der „Christus für uns“ auch „Christus in uns“ sein, und zu seinem Priestertum auf Erden muß sein himmlisches Priestertum hinzutreten. Gerade diese organische Einswerdung aber war durch
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Die Opfermahlzeit vorgeschattet. So sagt auch Christus: „Werdet ihr nicht essen das Fleisch des Menschensohnes und trinken sein Blut, so habt ihr kein Leben in euch” (Joh 6,53-57). Daher die Menschbleibung Christi in seiner leiblichen Auferstehung; daher die Sendung seines Geistes zum Zweck des Einswerdens mit seinen Erlösten; daher die Notwendigkeit der Wiedergeburt des einzelnen und der organischen Gemeinschaft zwischen dem „Haupt" und den „Gliedern".
So umfaßt das mosaische Opfer das ganze Werk Christi: von der Geburt bis zur Taufe, von der Taufe bis zum Kreuz und - über das Kreuz hinaus - bis zur Auferstehung und Geistessendung, ja bis zu seinem ewigen Hohenpriestertum nach der Weise Melchisedeks.
II. Die Stiftshütte
Israel hatte hintereinander drei Hauptstätten des Gottesdienstes: die Stiftshütte Moses in der Wüste und in Silo (1Sam 1,3; 1500—1000), den Tempel Salomos auf Morija (1Kön 6,1; 1000—586) und den Tempel Serubabels seit der Rückkehr aus der Gefangenschaft (Esra 3-6), ausgebaut durch Herodes (Joh 2,20; (536) 521 v. Chr. bis 70 n. Chr.). Alle drei gingen im wesentlichen auf denselben Bauplan zurück (2. Mose 25-27 und 30) und hatten denselben heilsgeschichtlichen Sinn. Die Aufgabe der Stiftshütte war zunächst
1. Ein Abbild des Weltalls
zu sein, und zwar vom Gesichtspunkt des Reiches Gottes aus. 250 Dies wird besonders klar an dem Gang des Hohenpriesters in das Allerheiligste am Großen Versöhnungstage, in Verbindung mit seiner neutestamentlichen Erfüllung in Christo (3. Mose 16; Heb 9,23; 24).
Die Geräte der Stiftshütte waren „Abbilder der Dinge in den Himmeln“ (Heb 9,23). Christus aber ist nach Golgatha „nicht in ein von Menschenhänden hergestelltes Heiligtum eingegangen, das nur ein Abbild des eigentlichen Heiligtums ist, sondern in den Himmel selbst, um jetzt, uns zum Heil, vor dem Angesicht Gottes zu erscheinen“.
Das aber heißt: das irdische Heiligtum ist ein Abbild des Himmels; und wie der aaronitische Hohepriester am Versöhnungstage mit dem Blute vom Brandopferaltar des Vorhofs, durch das Heilige hindurch, in das Allerheiligste eintrat (3. Mose 16,11-14), so ist Christus, der Priester nach der Ordnung Melchisedeks, mit seinem eigenen Blute(Heb 9,12) vom „ehernen Altar“ von Golgatha, von der Erde hinweg, „durch die Himmel hindurch-geschritten” (Heb 4,14 M.), um dann im „Allerheiligsten“ des Weltalls, „über allen Himmeln“ (Heb 7,26; Eph 4,10), vor dem „Gnadenthron“ Gottes zu erscheinen (vgl. Heb 4,16).
So ist der Vorhof die Erde, wo Golgatha war; das Heilige ist der Himmel und das Allerheiligste der Thron Gottes.
Auf Erden will Gott zweierlei: Die Rechtfertigung und Heiligung der Erlösten. Darum standen im Vorhof zwei Geräte: der Brandopferaltar und das Reinigungsbecken (vgl. Eph 525; 26).
Im Himmel ist das Leben und das Licht und die Anbetung des Ewigen inmitten himmlischer Geister. Davon zeugen der Schaubrottisch (Brot des Lebens: vgl. Joh 6,48) und der Leuchter sowie der Rauchaltar (vgl. Ps 141,2; Off 8,3) und die Cherubimfiguren ringsum in Decke und Vorhang (2. Mose 26,1).
Aber „über allen Himmeln " ist der Thron Gottes selbst. Dort ist das Gesetz, das das Weltall regiert, gleichwie die Tafeln des Gesetzes sich im Allerheiligsten befanden (1Kön 8,9). Dort ist auch die Gnade, die die Sünden vergibt und den Herrschaftsthron Gottes zu einem Gnadenstuhl macht (2. Mose 25,17 Luth.; Heb 4,16; Röm 3,25), und dort ist, über allem, die Lichtherrlichkeit Gottes, die, wie die Wolke der Schechina, alles andere überstrahlt (2. Mose 40,34; 35; 1Tim 6,16).
Aber alle seine Liebespläne vollführt Gott in Christus, und darum wird die Stiftshütte zugleich ein Hinweis auf ihn, das heißt
2. Ein Vorbild auf den Welterlöser
In der Tat, in Christus, der als das Fleisch gewordene Wort, unter uns „zeltete" (Joh 1,14) 251 sind alle ihre Vorbilder erfüllt. 252 Er ist
- unsere Rechtfertigung — Brandopferaltar (1Kor 1,30),
- unsere Heiligung — Reinigungsbecken (1Kor 1,30). Er hat uns versetzt in
- himmlische Örter (Eph 1,3; 2,6) — das Heilige als Abbild des Himmels (Heb 9,24) und dort, in unserer himmlischen Stellung, ist er
- unser Licht — der siebenarmige Leuchter (Joh 8,12)
- unser Brot des Lebens — der Schaubrottisch (Joh 6,48) und
- unser betender Hoherpriester nach der Ordnung Melchisedek
— der goldene Rauchaltar (Heb 7,26; Ps 141,2 vgl. Joh 17). Zuletzt aber wird er uns in seine Gegenwart führen (Allerheiligstes) und dort, als das geschlachtete Lamm (Off 5,6-14)
- als die Erfüllung der Bundeslade mit dem blutbesprengten
Versöhnungsdeckel (Röm 3,25)
- von den Seinen in Ewigkeit Anbetung empfangen.
In ihm aber werden auch wir selber ihm gleichgestaltet (Röm 8,29; 1Joh 3,2), und so wird die Stiftshütte zugleich
3. Ein Vorbild auf den Heilsweg und die Heilsgemeinschaft
Die Gläubigen sind:
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nach unten hin — gerechtfertigt von der Finsternismacht der Sünde (Brandopferaltar);
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nach innen hin — geheiligt durch die Waschung mit seinem Worte (Reinigungsbecken, Eph 5,26);
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nach außen hin — leuchtend mit dem Licht seines Zeugnisses (Leuchter, Off 1,12; 2,5 vgl. Sach 4);
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nach oben hin — betend mit dem Rauchwerk der Anbetung (Goldener Altar, Off 8,3; Ps 141,2);
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nach allen Seiten hin — gekräftigt durch das Lebensbrot des Himmels (Schaubrottisch, Joh 6,48);
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nach vorwärts hin — eilend, um vor seinem Thron zu erscheinen (Bundeslade).
Durch dies alles wird der israelitische Gottesdienst eine großartige Weissagung auf das Ziel. Er ist das Prophetische im alttestamentlichen Gesetz und insofern das Bindeglied zwishen Gesetz und Prophetie.
Das Überragende des Neutestamentlichen
Aber in dem allem übertrifft die Erfüllung alle Vorbilder noch bei weitem (Mt 13,16):
1 Im Alten Bunde Galt schon ein Teil für das Ganze:
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ein Zwölftes für zwölf Zwölftel — beim Priesterstamm Levi (4. Mose 8,16-19 statt 2. Mose 19,6).
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ein Zehntel für zehn Zehntel — bei der Abgabe des Zehnten (3. Mose 27,30),
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ein Siebentel für sieben Siebentel — bei der Heiligung des Sabbats (2. Mose 20,8-11).
Im Neuen Bunde aber ist das Ganze da:
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nicht ein Priesterstamm, sondern ein Priestervolk (1Pet 2,5.9);
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nicht der Zehnte, sondern alles (Kol 3,17);
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nicht ein Tag, sondern die Woche (Kol 2,16.17; Röm 14,5; 7; 8)
und mit der Woche das Jahr und mit dem Jahr das Leben und mit der Zeit die Ewigkeit.
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Im Alten Bunde war nur der „Schatten" da; im Neuen aber ist der „Körper" gekommen (Kol 2,17; Heb 10,1). Die Gnade und Wahrheit (das heisst „Wesenhaftigkeit") ist durch Jesum Christum geworden (Joh 1,17).
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Im Alten Bunde gab es Zugeständnisse „um der Herzenshärtigkeit willen“ (Mt 19,8), besonders Blutrache (Jos 20), Vielweiberei (1. Mose 30; 5. Mose 21,15; 1Kön 11,1-3), Sklaventum (3. Mose 25,44-46) und Prozesse (2. Mose 21,24; Mt 5,38-40).
Im Neuen Bunde aber heißt es majestätisch: „Ich aber sage euch!" (Mt 5,22; 28; 34; 39).
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Im Alten Bunde waren es viele Opfer, allein amtliche alljährlich 1273 (nach 4. Mose 28 u. 29), zusammen also, von Mose bis auf Christus, fast zwei Millionen (!), ohne die ungezählten Abermillionen privater Opfer (3. Mose 1; 3; 4; 5)!
Von Christus aber heißt es: „Mit einem Opfer hat er in Ewigkeit vollendet, die geheiligt werden“ (Heb 10,14).
So ist Christus die Erfüllung und Übertreffung von allem, was das Gesetz in sich schließt.
Das Gesetz war Zaun, Zügel, Regel, Riegel und Spiegel; das Kreuz Christi aber ist sein ewig gültiges Siegel (Dan 9,24).
„Darum lasse deinen Dünkel und Fühlen fahren und halte von dieser Schrift als von dem allerhöchsten, edelsten Heiligtum, als von der allerreichsten Fundgrube, die nimmermehr genug ausgegründet werden mag, auf daß du die göttliche Weisheit finden mögest, welche Gott hier so schlicht vorlegt, daß er allen Hochmut dämpft. Hier wirst du die Windeln und die Krippe finden, da Christus innen liegt, dahin auch der Engel die Hirten weist. Schlechte und geringe Windeln sind es; aber teuer ist der Schatz, Christus, der drinnen liegt" (Luther). 253
235 Recht und Pflicht der Typologie ergibt sich aus dem Wesen der alttestamentlichen, heilsvorbereitenden Gottesoffenbarung an sich sowie aus der allgemeinen, organischen Geschichtseinheit der Heiligen Schrift (vgl. Kapitel 7; Das neutestamentliche Heil im Alten Testament und Kapitel8;-4… auch ihre Gottesbotschaft … bis Ende Kp. 8). Ferner wird sie bewiesen vor allem durch den HErrn Jesus selbst (Joh 3,14; 6,32; 33) sowie besonders durch Paulus (1Kor 5,7; 8; 10,4; 11; Röm 5,12-19) und den Hebräerbrief (besonders Kap. 5-10).↩︎
236 Das Alte Testament hat wiederum drei Stätten: Stiftshütte, Tempel Salomos, Tempel Serubabels (ausgebaut durch Herodes).↩︎
237 Drei (!) Gruppen von lezteren: Kehatiter, Gersoniter, Merariter (4. Mose 4).↩︎
238 Blutige und unblutige.↩︎
239 Z. B. bei Geburt, Tod und Aussatz.↩︎
240 Z. B. Beschneidung, Gelübde, Fasten.↩︎
241 Vgl. 245.↩︎
242 So wörtlich statt „Stiftshütte", d. h. die von Gott eingesetzte „gestiftete" Hütte.↩︎
243 Nicht etwa einfach „Versammlungszelt".↩︎
244 Überall, wo in unsern Bibeln im Alten Testament das Wort „sühnen" steht, ist im Hebräischen das Zeitwort „kaphar", d. h. „decken durch Überstreichen", „zudecken" gebraucht (dasselbe Wort wie in 1. Mose 6,14). Von demselben Zeitwort kommt auch „Kapporeth", eigentlich (Sünden) „Zudeckung"(sgerät), d. h. Versöhnungsdeckel.↩︎
245 Für die mit Absicht und Überlegung ausgeführten, bewußt gewollten Sünden „mit erhobener Hand" hatte der Alte Bund nur die Steinigung (4. Mose 15,30 wörtlich; 3. Mose 24,10-23). Hier muß der sinaitische Bund in seiner Besonderheit gesehen werden. Eine vollkommene Sündenvergebung konnte das mosaische Opfer also noch nicht vermitteln, auch nicht in seiner Beziehung auf das Opfer Christi. Immer war es nur eine mehr äußere Reinigung, eine Beseitigung der aus Schwachheit und „aus Versehen" (4. Mose 15,22-29) geschehenen Verstöße gegen die alttestamentlichen Bundessatzungen, also erst eine Abschattung der wahren Vergebung.↩︎
246 Alles geistliche Leben ist polar, auch im Neuen Bunde.↩︎
247 Augustinus: „In vetere novum latet, et in novo vetus patet."↩︎
248 Vgl. K. Heim, Die Christusoffenbarung im Alten Testament. In der Sammlung „Kelle und Schwert", Heft 64/65, Witten 1935, S. 74-96.↩︎
249 Vgl. W. Vischer, a. a. O. S. 267↩︎
250 Auf das Weltall deutete die Stiftshütte schon der jüdische Zeitgenosse Jesu Philo von Alexandria, ferner Josephus. Ebenso Bähr in seiner „Symbolik des mosaischen Kultus", Heidelberg 1839. Auch Ed. König, Theologie des Alten Testaments, Stuttgart 1923, S. 266.↩︎
251 Griechisch eskinösen = „zeltete" (skinu = „Zelt").↩︎
252 So schon Coccejus (Professor der reformierten Theologie in Leyden, gest. 1669), Vitringa, Kohlbrügge.↩︎
253 In seiner Vorrede zum Alten Testament im Jahre 1523.↩︎