Botschafter des Heils - Jahrgang 1853 - 1913
Botschafter des Heils - Artikel aus verschiedenen späteren Jahrgängen
3Mo 16 1Joh 2,2 - Ein Wort über Versöhnung, Sühnung und Stellvertretung
C Was ist Stellvertretung?C Was ist Stellvertretung?
Es ist erstaunlich, wie wenig im Allgemeinen der Unterschied zwischen Sühnung und Stellvertretung beachtet und in seiner tiefgehenden Bedeutung verstanden wird. Die ernste Folgen davon sind einerseits ein unklares, unbestimmtes Evangelium, und andererseits sind viele Gläubige unsicher im Blick auf ihre Errettung oder gar friedelos. Deshalb ist es so wichtig, dass wir den Unterschied kennen und aufgrund des Wortes Gottes feststellen, was diese beiden Worte wirklich bedeuten. Der Herr wolle uns bei dieser Untersuchung behilflich sein durch die Leitung seines Heiligen Geistes!
Für einen anderen eintreten
Auf „Sühnung“ sind wir bereits oben eingegangen. Bei dem Wort „Stellvertretung“ denken wir sogleich an Einzelwesen, an Personen, für die ein anderer eintritt, indem er ihre Rechte wahrnimmt oder, wie in dem vorliegenden Fall, ihre Verpflichtungen einlöst. Auf den Herrn Jesus und sein Opfer angewandt kann also im Hinblick auf die Schöpfung oder die Welt von einer „Stellvertretung“ nicht die Rede sein. Während hier der Gedanke an eine „Sühnung“ durchaus am Platz ist, wäre „Stellvertretung“ geradezu sinnlos. So lesen wir denn auch:
1Joh 2,2: Er ist die Sühnung für unsere Sünden, nicht allein aber für die unseren, sondern auch für die ganze Welt.
Der Gläubige darf sagen, dass alle seine Sünden gesühnt sind, und er kann hinzufügen: Diese Sühnung erstreckt sich in ihrem Wert, in ihrer Wirksamkeit [und in ihrer Reichweite] auf die ganze Welt. Deshalb kann jeder, ob Jude, Heide, Muslim oder Namenschrist, kommen und ebenso wie der Gläubige von dieser Sühnung Gebrauch machen kann. Ja mehr noch: Das ganze Weltall wird, die wir in dem vorhergehenden Abschnitt gesehen haben, einmal die gesegneten Folgen dieses Sühnungswerkes genießen. Ganz falsch aber wäre es, wenn man aus diesem Vers den Schluss ziehen wollte, dass Christus die Sühnung der Sünden der ganzen Welt oder der ganzen Menschheit sei. Luther hat die Stelle wohl so verstanden, denn er übersetzt mit der Vulgata: „nicht allein aber für die unseren, sondern auch für die der ganzen Welt“ (… für die „Sünden“ der ganzen Welt). Aber diese Übersetzung ist unmöglich; sie steht auch mit der übrigen Belehrung des Wortes Gottes in unmittelbarem Widerspruch.
Der Gedanke der Sühnung bzw. Entfernung der Sünden der Welt ist der Schrift völlig fremd. Nirgendwo lehrt sie, dass Christus alle Sünden getragen habe oder, mit anderen Worten, dass Er – und damit kommen wir zu der wahren Bedeutung des Wortes „Stellvertretung“ – für die Vergehungen und Schulden aller Menschen haftbar gemacht worden sei und an der Stelle der Schuldigen die gerechte Strafe vonseiten Gottes getragen habe. Wäre das geschehen, so könnte kein Mensch verlorengehen; Gott wäre ungerecht, wenn Er noch irgendeine Forderung an den Sünder stellen wollte; die Verdammnis wäre eine Fabel, die Lehre von einer ewigen Vergeltung eine Lüge usw. Wenn die Schrift von Sündenvergebung redet, so spricht sie immer nur von „vielen“, niemals von „allen“.
Der zweite Bock und die Stellvertretung
Das Kapitel über den großen Versöhnungstag, 3. Mose 16, ist sehr hilfreich, um uns den Begriff „Stellvertretung“ zu erläutern. Zwei Böcke mussten vor den HERRN gestellt werden, aber nur das Blut des einen, nämlich des für den HERRN bestimmten Bockes, wurde ins Heiligtum getragen und von dem Hohenpriester nach Gottes Anordnung dort verwandt. Von dem anderen Bock heißt es:
3Mo 16,10: Und der Bock, auf den das Los für Asasel [Abwendung] gefallen ist, soll lebend vor den HERRN gestellt werden, um auf ihm Sühnung zu tun, um ihn als Asasel fortzuschicken in die Wüste.
Wenn dann Aaron [mit dem Blut des ersten Bockes] die Sühnung des Heiligtums und des Zeltes der Zusammenkunft vollendet hatte, musste er den lebendigen Bock herzubringen:
3Mo 16,20-22: Und hat er die Sühnung des Heiligtums und des Zeltes der
Zusammenkunft und des Altars vollendet, so soll er den lebenden Bock herzubringen. 21 Und Aaron lege seine beiden Hände auf den Kopf des lebenden Bockes und bekenne auf ihn alle Ungerechtigkeiten der Kinder Israel und alle ihre Übertretungen nach allen ihren Sünden; und er lege sie auf den Kopf des Bockes und schicke ihn durch einen bereitstehenden Mann fort in die Wüste, 22 damit der Bock alle ihre Ungerechtigkeiten auf sich trage in ein ödes Land; und er schicke den Bock fort in die Wüste.
Wenn der Israelit den Hohenpriester, der mit dem Blut des ersten Bockes ins Heiligtum gegangen war, zurückkehren sah, so wusste er, dass Gott das Opfer angenommen hatte und dass Sühnung für das Heiligtum geschehen war. Mit anderen Worten: Die Wiederkehr des Hohenpriesters bewies, dass die Grundlage für das Wohnen Gottes inmitten seines Volkes wieder für ein Jahr gelegt war und dass Israels Beziehungen zu dem HERRN, seinem Gott, wieder bis zum nächsten Versöhnungstag gesichert waren. Die Sünde, die dem entgegenstand, war gesühnt, Gottes Herrlichkeit war ans Licht gebracht.3
Wie aber stand es mit den vielen Vergehungen, mit den zahllosen Übertretungen der heiligen Gebote Gottes, die auf dem Gewissen der einzelnen Glieder des Volkes lasteten? Auch wenn die Frage der „Sünde“ [Einzahl] Gottes Herrlichkeit entsprechend gerichtlich behandelt worden war – von „Sünden“ [Mehrzahl] war bis dahin keine Rede gewesen. Würde Gott nur ein halbes Werk tun? Würde Er die Beantwortung der Fragen, die aus persönlicher Schuld hervorgingen, unerledigt lassen? Nein, Er tut nichts halb. Er führt alles herrlich hinaus. Nachdem die wichtigste Frage – dass nämlich die gerechten Forderungen des heiligen Gottes im Hinblick auf die Sünde [Einzahl] erfüllt worden sind – beantwortet ist, sollte auch die zweite Frage, an die der Mensch als Erstes denkt, beantwortet werden: Wie kann ich wissen, dass meine Sünden, für die ich verantwortlich bin und die mich verurteilen, vergeben sind? Und wie wurde diese Frage beantwortet? „Asasel“, der Bock der Abwendung, gibt uns die Antwort.
Nachdem der zweite Bock vor den Herrn gestellt war, musste der Hohepriester, der Stellvertreter Gottes und zugleich der Vertreter des ganzen Volkes, seine beiden Hände auf den Kopf des Bockes legen. Dadurch drückte er seine völlige Einsmachung mit dem Bock aus. Dann musste er „alle Ungerechtigkeiten der Kinder Israel und alle ihre Übertretungen nach allen ihren Sünden“ auf den Bock bekennen (3Mo 16,21). Ob ungerechte Handlungen im allgemeinen Sinn oder Übertretungen bestimmter Gebote – alle Sünden wurden so in göttlicher Weise, nach einer durch Gott vermittelten Erkenntnis, auf das Opfertier gelegt und dann von dem Bock in die Wüste getragen, in ein ödes Land, wo niemand mehr der Sünden gedachte. Der Bock der Abwendung (oder: der abwendet, davongeht) musste sie anstelle der Übertreter, das heißt der sündigen Israeliten, auf sich nehmen und aus Gottes Gegenwart sowie aus den Augen der Kinder Israel hinwegtragen. Nachdem der erste Bock dargebracht und geschlachtet und sein Fleisch samt Haut und Mist „außerhalb des Lagers verbrannt“ worden ist, dient dieser zweite Bock als Stellvertreter des schuldigen Volkes bzw. der einzelnen Glieder des Volkes, „nach allen ihren Sünden“, um ihre Sünden hinwegzutun und so die anklagenden Gewissen der Schuldigen zur Ruhe zu bringen, wenn auch nur unvollkommen und zeitlich. Ich möchte es noch einmal wiederholen: Selbstverständlich konnte das nur in Verbindung mit dem ersten Bock geschehen; beide Böcke bildeten ein Opfer, denn „ohne Blutvergießung gibt es keine Vergebung“ [Heb 9,22]. Das Blut ist das Zeugnis dafür, dass das ganze Werk vollendet ist; ohne Blut hätte der Hohepriester niemals ins Heiligtum eintreten dürfen. Aber so gewiss er dort eingetreten war und nun alle Sünden Israels auf den Kopf des zweiten Bockes bekannte, so gewiss tat er jetzt auf ihm Sühnung für die Sünden, so dass Gott sie nicht mehr sah.
Vom Schatten zur Wirklichkeit
So weit das Bild. Es redet in wunderbar eindringlicher und verständlicher Sprache von einem anderen, größeren Opfer. Was wir in jenem Bock vorbildlich dargestellt sehen, ist in Christus zur Wahrheit, zum Wesen geworden. Der Schatten hat sich in die Wirklichkeit verwandelt. Der erste Bock zeigt uns Christus als den, der für die Sünde [Einzahl!] Sühnung getan und der Gott im Hinblick auf die Sünde verherrlicht und den Weg zu Ihm ins Heiligtum gebahnt hat. In dem zweiten Bock sehen wir Christus als den Stellvertreter seines erlösten Volkes, als den, der alle ihre Sünden getragen und für immer hinweggetan hat, so dass Gott ihrer Sünden nie mehr gedenkt und auch wir sie als für ewig getilgt betrachten dürfen. Der Gläubige darf sagen: Gott selbst hat alle meine Sünden, meine ganze unermessliche Schuld, nach seiner göttlichen Kenntnis (nicht nur so, wie sie mir bekannt ist oder zum Bewusstsein kommt) auf Jesus gelegt; Er hat alle meine Ungerechtigkeiten und Übertretungen von meinem ersten bis zu meinem letzten Atemzug auf Ihn gelegt, und Jesus hat sie an meiner statt getragen. Er hat meine Schuld gebüßt, und nun darf ich da ruhen, wo Gott mit Freude ruht: in dem kostbaren Werk seines geliebten Sohnes. Alle meine Sünden sind vergeben auf gerechter, göttlicher Grundlage. „Mit einem Opfer hat er auf immerdar die vollkommen gemacht, die geheiligt werden“ (Heb 10,14), so dass sie triumphierend fragen können: „Wer wird gegen Gottes Auserwählte Anklage erheben? Gott ist es, der rechtfertigt; wer ist es, der verdamme?“ (Röm 8,33.34).
Den Unterschied beachten
Wenn man den Unterschied zwischen „Sühnung“ und „Stellvertretung“ nicht beachtet oder die eine Seite einseitig betont, ohne die andere Seite gebührend zu berücksichtigen, kommt es immer wieder zu theologischen Streitigkeiten und ernsten Spaltungen. Die eine Richtung [der Arminianismus], die den Begriff der Gnade verallgemeinert, besteht darauf, dass Christus für alle gestorben ist, indem sie damit das Tragen der Sünden verbindet. Die andere Richtung [der Calvinismus] weist nur auf das Werk Christi für die Seinen hin und beschränkt damit die Gnade. Sie betont die Gnadenwahl übermäßig und vergisst dabei, dass Christus für alle gestorben ist. Die erste Richtung [der Arminianismus] lehrt, Gott könne nicht einige besonders lieben könne, wenn Er alle geliebt habe; die Folge eines solchen Gedankens ist, dass der Gläubige unsicher über seine Errettung wird bzw. sich und sein Tun erhebt. Die zweite Richtung [der Calvinismus] lehrt, wenn Christus seine Gemeinde geliebt und sich selbst für sie hingegeben habe, könne es keine wirkliche Liebe für irgendetwas anderes geben; das Werk Christi sei nur für die Auserwählten geschehen. Damit leugnet man, dass Christus „sich selbst gab als Lösegeld für alle“ (1Tim 2,6), und vergisst, dass „Gott ihn dargestellt hat als ein Sühnmittel [oder: Gnadenstuhl] durch den Glauben an sein Blut“ (Röm 3,25). Die erste Richtung [der Arminiasmus] setzt die Bedeutung des Bockes Asasel, die Stellvertretung, beiseite; die zweite [der Calvinismus] lässt die Bedeutung des ersten Bockes, die Sühnung, [deren Reichweite die ganze Welt umfasst], außer Acht und sieht nichts anderes als
Stellvertretung. Beide Richtungen teilen also das Wort der Wahrheit nicht recht (vgl. 2Tim 2,15) und kommen so zu einseitigen, falschen Ergebnissen.
Alle oder viele?
Nach diesen allgemeinen Ausführungen wollen wir noch kurz die verschiedenen Stellen des Neuen Testamentes betrachten, die unser Thema betreffen und die wir noch nicht berührt haben. Dies wird uns nicht nur helfen, unser Thema besser zu verstehen, sondern uns auch weitere Einblicke tun lassen in das Werk Christi überhaupt und so Anbetung und Dank in unseren Herzen bewirken.
Wir haben schon mehrmals darauf hingewiesen, dass die Schrift niemals sagt, dass der Herr Jesus die Sünden aller getragen habe. Bei der Einsetzung des Abendmahls sprach Er selbst nach Matthäus 26,28 in Verbindung mit dem Kelch die Worte:
Mt 26,28: Dies ist mein Blut, das des neuen Bundes, das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden.
(Markus 14,24 lautet ähnlich: „Dies ist mein Blut, das des neuen Bundes, das für viele vergossen wird.“) So lesen wir auch in Hebräer 9,28, dass Christus einmal geopfert worden ist, um vieler (nicht aller) Sünden zu tragen:
Heb 9,28: … nachdem er einmal geopfert ist, um vieler Sünden zu tragen.
An verschiedenen Stellen steht „alle“ geradezu im Gegensatz zu „viele“ oder zu „die vielen“. So zum Beispiel in Römer 5,18.19:
Röm 5,18.19: Also nun, wie es durch eine Übertretung gegen alle Menschen zur Verdammnis gereichte, so auch durch eine Gerechtigkeit gegen alle Menschen zur Rechtfertigung des Lebens. Denn so wie durch den Ungehorsam des einen Menschen die vielen in die Stellung von Sündern gesetzt worden sind, so werden auch durch den Gehorsam des einen die vielen in die Stellung von Gerechten gesetzt werden.
Vers 18 bedeute nicht, dass alle gerechtfertigt werden, sondern dass die „Rechtfertigung des Lebens“ sich gegen alle richtet, und zwar, wie wir sahen, aufgrund des vollendeten Sühnungswerkes. Die Rechtfertigung ist für alle da, für alle erreichbar. Warum aber dann eine Änderung [von „alle“ in „viele“] in Vers 19 (vgl. auch Röm 5,15)? Aus dem einfachen Grund, weil es sich in beiden Fällen wohl um viele Menschen handelt (in dem ersten Fall in Vers 18 auch um alle, denn alle stammen von dem ersten Adam ab); in dem zweiten Fall handelt es sich aber nicht um alle, sondern nur um diejenigen, die mit dem letzten Adam verbunden sind.
Hierher gehört wohl auch das bekannte Wort aus Römer 3:
Röm 3,21.22: Jetzt aber ist, ohne Gesetz, Gottes Gerechtigkeit offenbart worden … Gottes Gerechtigkeit aber durch Glauben an Jesus Christus gegen alle und auf alle, die glauben.
Während Gottes Gerechtigkeit gegen alle gerichtet ist und allen umsonst angeboten wird, kommt sie doch nur „auf alle, die da glauben“. Gott rechtfertigt nur den, „der des Glaubens an Jesus ist“ (Röm 3,26). Allen übrigen Menschen dient sein gnädiges Angebot nur zu vermehrter Verantwortlichkeit, zu verschärfter Strafe. (Vergleiche Matthäus 11,20-24; Lukas 12,47.48.)
Ein weiteres, sehr beachtenswertes Beispiel ist 1. Timotheus 2,3-6, verglichen mit Matthäus 20,28 und Markus 10,45. Paulus nennt Gott unseren …
1Tim 2,3-6: … Heiland-Gott, der will, dass alle Menschen errettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Denn Gott ist einer, und einer ist Mittler zwischen Gott und Menschen, der Mensch Jesus Christus, der sich selbst gab als Lösegeld für alle.
Gott, der gerechte und rettende Gott (vgl. Jes 45,21), hat ein Mittel gefunden, durch das allen Menschen geholfen werden kann, wenn sie von diesem Mittel Gebrauch machen wollen. Christus hat ein Lösegeld bezahlt, das für alle genügt und das auch im Hinblick auf alle und zum Vorteil für alle bezahlt worden ist, und Gott hat dieses Lösegeld angenommen. Er will nicht, „dass irgendwelche verlorengehen“, sondern dass alle zur Buße und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen (vgl. 2Pet 3,9). Doch nicht alle kommen zur Buße: Zur Zeit des Herrn Jesus machten die Pharisäer und die Gesetzgelehrten „den Ratschluss Gottes in Bezug auf sich selbst wirkungslos“ (Lk 7,30), indem sie nicht Buße tun und ihre Sünden bekennen wollten. Ebenso weisen auch heute Millionen und abermals Millionen von Menschen die Gnade Gottes gleichgültig oder verächtlich von sich ab. Gott möchte sie erretten, aber sie wollen nicht zu Ihm kommen, damit sie Leben haben (vgl. Joh 5,40). Nun könnte man einwenden: Wenn aber ein Lösegeld für alle bezahlt worden ist, so müssen doch auch alle des Segens und der Wirkung dieses Lösegeldes teilhaftig werden!? Ich antworte: Ja, in dem oben beschriebenen Sinn, dass das Lösegeld für alle da ist und von allen benutzt werden kann; nein, in dem Sinn, dass die Schulden, die Sünden aller dadurch getilgt worden wären und deshalb nicht mehr eingefordert werden könnten.
Wir lesen darum auch in den beiden anderen Stellen (Mt 20,28 und Mk 10,45):
Mk 10,45: Der Sohn des Menschen ist … gekommen, … um zu dienen und sein Leben zu geben als Lösegeld für viele.
Wer des Griechischen kundig ist, wird überrascht sein, wenn er diese beiden Stellen mit 1. Timotheus 2,6 vergleicht und herausfindet, dass im Griechischen das mit „für“ übersetzte Wort jeweils ein ganz anderes ist. Während es in 1. Timotheus 2,6 den Sinn hat von: „im Blick (in Hinsicht) auf, zum Vorteil von“ [griech. hyper], hat es an den beiden Stellen in den Evangelien die Bedeutung: „anstelle von, in Stellvertretung für“ [griech. anti]. Wie genau ist doch Gottes Wort! Kein Wort zu wenig und keines zu viel, und jedes Wort an seinem Platz!
Während uns also 1. Timotheus 2,3-6 an die Bedeutung des ersten Bockes erinnert – das heißt an das Sühnungswerk Christi, das allen Menschen, selbst der Schöpfung, zugute kommt –, so müssen wir bei den beiden anderen Stellen an den zweiten Bock denken, in dem die Stellvertretung zum Ausdruck kommt. Christus, der einzige Mittler zwischen Gott und
Menschen, starb nicht nur für einen Teil der Menschheit, sondern für alle; aber stellvertretend setzte Er sein Leben nur ein für viele, nur für die, die an Ihn geglaubt haben oder noch an Ihn glauben werden, ob in der gegenwärtigen Zeit der Gnade oder in dem zukünftigen Zeitalter des Tausendjährigen Reiches. Nur ihre Sünden sind Ihm als seine Sünden angerechnet worden, nur ihre Schuld hat Er getilgt, und nur sie dürfen sagen, dass Christus ihren Platz im Gericht vor Gott eingenommen hat, so dass sein gegenwärtiger Platz zur Rechten Gottes wiederum auch ihr Platz ist.
Der Ausdruck „als Lösegeld für [hyper] alle“ [aus 1. Timotheus 2,6] führt uns zu einer anderen ähnlichen Stelle in 2. Korinther 5. Dort heißt es in Vers 14 und 15:
2Kor 5,14.15: Die Liebe des Christus drängt uns, in dem wir so geurteilt haben, dass einer für [hyper] alle gestorben ist und somit alle gestorben sind. Und er ist für [hyper] alle gestorben, damit die, die leben, nicht mehr sich selbst leben, sondern dem, der für [hyper] sie gestorben und auferweckt worden ist.
[Beachten wir: Im Griechischen lautet das Wort, das hier mit „für“ übersetzt ist, ebenso wie in
1. Timotheus 2,6, hyper.] Der Apostel sagt hier: Dass einer für alle sterben musste, ist der Beweis, dass alle gestorben bzw. dem Tod verfallen sind. Andernfalls hätte Christus nicht zu sterben brauchen. Sein Tod ist der Beweis für den Todeszustand aller Menschen.
Und weshalb ist Christus für alle gestorben? Um alle aus ihrem Todeszustand herauszuführen und zu erretten? Ja, das war die Liebesabsicht Gottes, aber die Bosheit des Menschen hat sie durchkreuzt. Deshalb kann der Apostel nur im Blick auf die, die sich bitten und mit Gott versöhnen lassen (2Kor 5,20), hinzufügen: „… damit die, die leben [d.h. sich vom Tod haben erretten lassen], nicht mehr sich selbst leben.“ Sie gehören von nun an nicht mehr sich selbst an, sondern dem, der für sie gestorben und aus den Toten auferstandenen ist. Die anderen bleiben im Tod, unter dem Zorn Gottes (Joh 3,36). Für sie ist Christus „umsonst gestorben“ (Gal 2,21).
Werden alle begnadigt und lebendig gemacht?
Kommen wir noch zu Römer 11,32. Diese Stelle wird von den Anhängern der Wiederbringungslehre auch gern für ihre Zwecke benutzt. Wir lesen dort:
Röm 11,32: Denn Gott hat alle zusammen in den Unglauben [o.: Ungehorsam] eingeschlossen, um alle zu begnadigen.
Da steht es doch unzweideutig, so ruft man triumphierend aus, dass alle Menschen begnadigt werden sollen! – Aber ist das der Sinn der Stelle? Dieser Vers steht am Ende einer längeren Abhandlung des Apostels über die Wege Gottes mit seinem irdischen Volk Israel. Obwohl Israel die natürlichen Zweige des Baumes der Verheißung und Segnung bildete und daher große Vorzüge vor den Nationen besaß, stand es doch auf der Grundlage des Gesetzes und hatte auf dieser Grundlage durch seinen Ungehorsam und Unglauben alle Anrechte an Segen und Leben verloren. Die Nationen, die von Natur aus ungläubig und von Gott entfremdet waren, besaßen überhaupt keine Ansprüche, sie hatten keine Hoffnung und waren „ohne Gott in der Welt“ (Eph 2,12). Beide, Juden und Nationen, waren also vor Gott verloren und dem Gericht verfallen und konnten nur auf der Grundlage bedingungsloser Gnade Errettung finden. Es handelt sich hier also gar nicht um die Frage, ob alle Menschen errettet werden oder nicht. Nein, es geht hier einfach einfach um das Ergebnis der Wege Gottes mit Israel und den Nationen: dass nämlich beide, als Gesamtheit betrachtet, nunmehr „unter die Begnadigung gekommen“ sind (Röm 11,30.31). Darum preist auch der Apostel am Schluss seiner Beweisführung nicht etwa den „Reichtum der Gnade“ Gottes wie zum Beispiel in Epheser 1,7 und 2,7 und anderen Stellen, sondern er rühmt die „Tiefe des Reichtums“ seiner Weisheit und Erkenntnis und fügt hinzu: „Wie unerforschlich sind seine Gerichte und unergründlich seine Wege! Denn wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Mitberater gewesen?“ (Röm 11,33-36).
Eine weitere Stelle, die von den Anhängern der Wiederbringungslehre oft herangezogen wird, um ihre Behauptungen zu begründen, ist 1. Korinther 15,20-28, vor allem Vers 22:
1Kor 15,22: Denn wie in dem Adam alle sterben, so werden auch in dem Christus alle lebendig gemacht werden.
Wir brauchen kein Wort darüber zu verlieren, dass im Zusammenhang nur von der leiblichen Auferstehung, nicht aber von einem geistlichen Lebendigmachen die Rede ist. In Vers 12 widerlegt der Apostel die Irrlehre, „dass es keine Auferstehung der Toten gebe“ (1Kor 15,12). Im Anschluss daran will er zunächst die Tatsache vorstellen, dass die Leiber der Verstorbenen auferstehen werden, und zwar kraft der Auferstehung Christi aus den Toten; denn der Tod ist das Teil aller Nachkommen Adams. Die Auferstehung der Toten betrifft nun zwar alle Menschen unterschiedslos, doch man kann in Vers 22 das Wort „alle“ unmöglich von den Personen trennen, mit denen es jeweils in Verbindung steht: Die „alle“ in Adams Fall umfassen die gesamte Nachkommenschaft Adams, das ganze Menschengeschlecht; die „alle“ in Christi Fall umfassen notwendigerweise diejenigen, die „in dem Christus sind“, also seine Familie. Der nächste Vers beseitigt jeden Zweifel: „Jeder aber in seiner eigenen Ordnung: der Erstling, Christus; dann die, die des Christus sind bei seiner Ankunft“ (1Kor 15,23). Nur die, die Ihm angehören, und keine anderen werden hier als diejenigen bezeichnet, die aufgrund seiner Auferstehung aus den Toten „in dem Christus lebendig gemacht“ werden sollen. Werden denn die übrigen Toten nicht auferstehen? Ohne Frage; aber da der Apostel hier nur an die erste Auferstehung (die Auferstehung des Lebens) denkt, erwähnt er die zweite Auferstehung (die Auferstehung des Gerichts) gar nicht. Nur die das Gute getan haben, sind des Herrn, nur für sie hat Er den Sieg erstritten.
Davon unberührt bleibt, dass Christus auch der „Erstgeborene der Toten“ ist (Off 1,5), dass Er also Gewalt hat über die Toten überhaupt, indem Er dem Tod die Macht genommen hat. In unserer Stelle wird diese Auferweckung der „Übrigen der Toten“ (Off 20,5) aber gar nicht genannt. Der Apostel fährt fort: „Dann das Ende, wenn er das Reich dem Gott und Vater übergibt, wenn er weggetan haben wird alle Herrschaft und alle Gewalt und Macht“ (1Kor 15,24). Wenn dieses „Ende“ kommt, das heißt, wenn Er Gott das Reich übergeben wird, in dem Er regieren und richten wird, muss alles Gericht – jedenfalls die Auferweckung der Übrigen der Toten – vorüber sein: „Denn er muss herrschen, bis er alle seine Feinde unter seine Füße gelegt hat. Als letzter Feind wird der Tod weggetan“ (1Kor 15,25.26).
Die zweite Auferstehung, die Auferstehung der „Übrigen der Toten“, wird darum hier gar nicht erwähnt, sondern als selbstverständlich eingeschlossen betrachtet, und zwar als eine Handlung der richterlichen Gewalt. Die Auferstehung der „Übrigen der Toten“ kennzeichnet das Reich des Herrn; sie wird in dem Hinwegtun des letzten Feindes, des Todes, ihren Abschluss finden. Er muss herrschen und alle seine Feinde richten; darum nennt der Herr die Auferstehung der Ungerechten, die dann nicht mehr unter der Macht des Todes und Satans liegen – denn beide werden in dem Feuersee ihr Ende bzw. ihr ewiges Teil finden –, ausdrücklich eine Auferstehung des Gerichts. Die aus den Toten auferstanden Heiligen werden mit dem Sohn des Menschen verbunden sein, wenn Er kommt, um sein Reich zu übernehmen, und die Bösen werden gerichtet werden, wenn Er [nach dem Tausendjährigen Reich] die Herrschaft in die Hände des Vaters zurückgelegt, um dann selbst dem unterworfen zu sein, der ihm alles unterworfen hat. Der ewige Zustand von Offenbarung 21,1-8 wird dann angebrochen sein.
3 So wird der gläubige jüdische Überrest am Ende der Tage erst dann wissen, dass seine Sache mit Gott geordnet und eine vollgültige Sühnung geschehen ist, wenn er den wahren Hohenpriester, Christus, aus dem Heiligtum wiederkehren sieht mit den Wundenmalen, den Zeichen des vollbrachen Werkes, in seinen Händen und Füßen. Er wird sehen und glauben, wie einst Thomas in Johannes 20,29. Wir die Gläubigen aus den Nationen glauben, ohne gesehen zu haben, und werden vom Herrn deshalb „glückselig“ gepriesen. Uns hat die Sendung des anderen Sachwalters, des Heiligen Geistes, bezeugt, dass das Blut unseres Stellvertreters eine „ewige Erlösung“ zustande gebracht hat.↩︎