Botschafter des Heils - Jahrgang 1853 - 1913
Botschafter des Heils –Jahrgang 1859
Kol 2,9-10 - Alles in Christus (1)Kol 2,9-10 - Alles in Christus (1)
Carl Brockhaus
Autor: Carl Brockhaus
„Denn in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig; und ihr seid vollendet in ihm“ ( Kol 2,9.10).
Es ist immer eine sehr köstliche und gesegnete Sache, Christus und die in Ihm wohnende Fülle zu betrachten und zu erforschen – köstlich für unsere Herzen und gesegnet für unseren Lebensweg hier auf der Erde. Christus ist der Mittelpunkt aller Gedanken und Ratschlüsse Gottes, und der Ausgangspunkt aller seiner Segnungen für uns. Welch ein Reichtum und welch eine Tiefe liegt schon in den wenigen Worten, die wir in Kolosser 1,14-20 von Ihm lesen!
„In dem wir die Erlösung haben, die Vergebung der Sünden; der das Bild des unsichtbaren Gottes ist, der Erstgeborene aller Schöpfung. Denn durch ihn sind alle Dinge geschaffen worden, die in den Himmeln und die auf der Erde, die sichtbaren und die unsichtbaren, es seien Throne oder Herrschaften oder Fürstentümer oder Gewalten: Alle Dinge sind durch ihn und für ihn geschaffen. Und er ist vor allen, und alle Dinge bestehen durch ihn. Und er ist das Haupt des Leibes, der Versammlung, der der Anfang ist, der Erstgeborene aus den Toten, damit er in allem den Vorrang habe. Denn es war das Wohlgefallen der ganzen Fülle, in ihm zu wohnen und durch ihn alle Dinge mit sich zu versöhnen – indem er Frieden gemacht hat durch das Blut seines Kreuzes–, durch ihn, es seien die Dinge auf der Erde oder die Dinge in den Himmeln“ ( Kol 1,14-20).
Doch, wer ist im Stand, auch nur annähernd den Reichtum dieser Fülle zu erforschen, und wer ist fähig, ihrer Würde gemäß davon zu reden? Ach! Jedes Studium, jede Mitteilung bleibt weit hinter der Wirklichkeit zurück. Doch gibt es keinen Gegenstand, der würdiger wäre, ihn zu erforschen, noch wichtiger, um davon zu reden, als Christus und die in Ihm wohnende Fülle. Und gewiss sind stets die Stunden unseres Lebens die nützlichsten und gesegnetsten, die wir, geleitet durch den Heiligen Geist, der Betrachtung seiner Person und seiner Fülle widmen. Wir finden in Ihm immer neue Lieblichkeiten, immer neue Züge von Gnade und Herrlichkeit. Und je mehr wir davon erkennen, desto gewisser werden auch unsere Herzen, desto fester wird unser Friede, und desto reiner und tiefer unsere Freude sein. Und, was mehr als dies alles ist – es wächst unser Verlangen, Ihn zu erkennen, Ihm zu leben und seinen Namen zu verherrlichen. Was uns aber hierzu fähig macht, ist die Gnade, die wir in Ihm selbst besitzen.
Doch wird es auch nicht ausbleiben, dass je tiefer wir in dieses Heiligtum eindringen, wir desto mehr dessen Unerforschlichkeit einsehen und den Mangel unseres Verständnisses fühlen werden, und dass wir stets bekennen müssen: „Denn wir erkennen stückweise“ (1Kor 14,9). Selbst Paulus, der reichbegnadigte und erleuchtete Apostel und Diener Jesu Christi, musste dies bekennen; auch er konnte von dieser Fülle nur als von dem „unergründlichen Reichtum des Christus“ reden (Eph 3,8). Er sprach von deren Breite und Länge und Tiefe und Höhe, aber er war nicht im Stand, die eigentlichen Grenzen zu bestimmen. Nirgends konnte sein Auge, so „einfältig“ es auch war, einen Endpunkt erblicken, noch konnte sein geistliches Verständnis die Fülle dieses unendlichen Raumes erfassen. Aber sein Herz hatte einen Ruhepunkt gefunden in der die Erkenntnis übersteigenden Liebe des Christus (vgl. Eph 3,18.19).
Diese Liebe ist sozusagen der Fels in diesem unergründlichen und endlosen Meer, und sie allein kann auch nur für unsere Herzen der wahre und glückselige Ruhepunkt sein, geliebte Brüder. Und es ist ein köstliches und gesegnetes Bewusstsein, dass nicht nur das unser Teil ist, was wir von Christus und seiner Fülle erkennen und begreifen, sondern auch das, was wir noch nicht begreifen. Er selbst ist uns ganz, mit aller in Ihm wohnenden Fülle vom Vater geschenkt. Ein Jeder von uns kann zu ihm sagen: „Du selbst, O Jesu, bist mein, und auch alles, was dein ist, ist mein!“
O, Dank der unergründlichen Gnade und Liebe Gottes, die uns in Ihm so reichlich gesegnet hat! Außer Ihm gibt es nichts mehr, was für uns noch von irgendwelchem Wert sein könnte. Aber in und mit Ihm haben wir alle die unerforschlichen und kostbaren Reichtümer der Schatzkammer Gottes. Deshalb kann auch in Christus allein jedes Bedürfnis des Herzens wirklich befriedigt werden und nur in Ihm jede Frage in Betreff der Gegenwart und der Zukunft eine genügende Antwort finden. Suche ich die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt – und es kann keine andere sein, als die Gerechtigkeit Gottes selbst –, ich finde sie für mich in Christus. „Den, der Sünde nicht kannte, hat er für uns zur Sünde gemacht, damit wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm“ (2Kor 5,21). Er ist unsere Gerechtigkeit und Er ist unser Friede. Ja, nur auf Ihn kann sowohl unser Friede mit Gott, als auch der Friede unseres Herzens gegründet sein (vgl. Röm 5,1; Joh 14,27; Eph 2,14). Nur dann, wenn ich verstehe, was Er für mich ist, und was ich in Ihm bin, ist mein Herz völlig ruhig und glücklich in der Gegenwart Gottes.
Fragt Jemand: Wo finde ich das Leben? So gibt es nur diese eine Antwort: In Christus, und in Ihm allein. Er selbst sagte zu Martha, deren Bruder Lazarus gestorben war: „Ich bin die Auferstehung und das Leben; wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt; und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird nicht sterben in Ewigkeit“ (Joh 11,25-26; s. a. Joh 5,21.25; 10,28)
Fragt ein Christ: Wo finde ich Schutz und Stärke, um in dieser feindseligen Welt wandeln zu können? Woher nehme ich Mut und Kraft, um im Kampf gegen die „geistlichen Mächte der Bosheit in den himmlischen Örtern“ (Eph 6,12) zu bestehen? Wohin anders kann er gewiesen werden, als zu Jesus Christus, der als Sieger über alles zur Rechten Gottes sitzt? Der Psalmist singt: „Der Herr ist meine Stärke und mein Schild“ (Ps 28,7) – „Der Herr ist meines Lebens Stärke“ (Ps 27,1). Und Paulus ermahnt: „Seid stark in dem Herrn und in der Macht seiner Stärke“ (Eph 6,10; s. a. 2Tim 2,1; Ps 62).
In Christus finde ich inmitten einer eitlen und vergänglichen Welt das, was sicher und ewig bleibend ist. Auf Ihn und sein Werk ist meine Annahme bei Gott und mein Verhältnis zu Ihm unwandelbar fest gegründet. Seine Auferweckung sagt mir, dass ich gerechtfertigt bin. Sein Sitzen zur Rechten des Vaters sichert mir für immer den Gegenstand meiner Hoffnung – die himmlische Herrlichkeit, und seine baldige Ankunft führt mich aus dieser versuchungsreichen Wüste in jene unermessliche Herrlichkeit, wo ich Ihn selbst finden und für immer schauen werde.
So steht denn das ganze Heil unserer Gegenwart und unserer Zukunft mit der Person Christi und seinem Werk im engsten Zusammenhang. Nichts aber finde und besitze ich außer Ihm. Er ist der Mittelpunkt von allem, was wir glauben und was wir zu erwarten haben. Alle die unerforschlichen Reichtümer, alle die unermesslichen Segnungen besitzen wir nur in Ihm, durch Ihn und mit Ihm. Wäre Er nicht da, so würde es auch für uns überall leer und öde sein. Was wir glaubten und was wir hofften, wäre nichts als traurige Einbildung, als ein schöner Traum, dem ein schreckliches Erwachen folgen würde. Wir würden arm und nackt, elend und verloren sein und bleiben. Es gäbe keinen Himmel für uns, und wenn es einen gäbe, so würde er uns wie ein ödes, verlassenes Haus sein. Außer bei Christus finden wir keine Gnade, keine Versöhnung, keine Errettung, keine Befreiung, keine Herrlichkeit. Unsere Stellung vor Gott, unser Verhältnis zu Ihm, unser Wandel mit Ihm, kurz alles steht in der engsten Verbindung mit der Person Christi, und ist völlig davon abhängig. Deshalb kann auch nur Er der höchste und köstlichste Gegenstand aller unserer Gedanken, aller unserer Wünsche und unserer Erwartungen und der wahre Ruheort unserer Herzen sein. In Ihm sind wir geborgen vor den listigen Anläufen Satans und sicher vor seinen Anklagen. In Ihm können wir stets ohne Furcht in der Gegenwart Gottes sein und dessen gesegnete Gemeinschaft genießen. Das Blut des Lammes Gottes hat für immer unser Gewissen von allen Sünden entlastet und gereinigt. „Denn das Gesetz des Geistes des Lebens in Christus Jesus hat mich freigemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes“ (Röm 8,2), sodass wir nicht mehr in Ratlosigkeit des Herzens nötig haben zu fragen: „Ich elender Mensch! Wer wird mich retten von diesem Leib des Todes?“ (Röm 7,24), sondern wir können freudig antworten: „Ich danke Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn! (Röm 7,25). Und weil wir Ihn zur Rechten Gottes wissen, brauchen wir nicht mehr mit Furcht und Zweifel zum Himmel aufzuschauen, sondern mit Zuversicht, mit Freude und mit lebendiger Hoffnung. Dort ist jetzt unsere Heimat und unser Vaterhaus, dort schlägt ein Herz voll Liebe für uns, ein Herz, was unsere Ankunft mit sehnlichem Verlangen erwartet und alles für unseren Empfang vorbereitet. O, welch eine Gnade, Ihn zu kennen, Ihn zu besitzen und Ihn zu lieben! Verstehen wir nur ein wenig den Reichtum dieser überschwänglichen Gnade, so werden wir auch die Worte des Paulus verstehen, wenn er sagt: „Ja wahrlich, ich achte auch alles für Verlust wegen der Vortrefflichkeit der Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn, um dessentwillen ich alles eingebüßt habe und es für Dreck achte, damit ich Christus gewinne und in ihm gefunden werde“ (Phil 3,8.9). Ja, sein herrlicher Name sei gepriesen für immer!
Doch jetzt, meine Brüder, und solange wir hier im Fleisch wandeln, ist unsere Stellung die des Glaubens. Es ist wahr, wir besitzen alles in Christus. Jede Segnung ist uns auch völlig sicher und gewiss, denn wir haben schon das Unterpfand der zukünftigen Herrlichkeit, den heiligen Geist, empfangen. Aber wir können jetzt von allem nur mittels des Glaubens genießen. Der Glaube unterscheidet und charakterisiert den Christen hier auf der Erde. Unter den vielen gesegneten Namen, welche uns das Wort Gottes beilegt, haben wir auch den Namen „Gläubige“ (Apg 2,44) und dieser ist unser Vorrecht, solange wir in dieser Hütte sind. Paulus sagt: „Denn wir wandeln durch Glauben, nicht durch Schauen“ (2Kor 5,7). Der Glaube ist das Auge, womit wir jetzt die unsichtbaren, himmlischen Dinge erkennen. Er ist die Hand, womit wir sie ergreifen, und der Mund, womit wir sie genießen. Der Glaube hält sich unbedingt an den Gedanken Gottes und lässt sich nicht durch unsere Sinne leiten – nicht durch das, was wir sehen, fühlen und mit der Vernunft begreifen können, noch durch die Umstände und Schwierigkeiten um uns her (vgl. 2Kor 4,17-18). Das Wort Gottes, und dieses Wort allein, ist die Richtschnur und der Leitstern des Glaubens. „Der Glaube aber ist eine Verwirklichung dessen, was man hofft, eine Überzeugung von Dingen, die man nicht sieht“ (Heb 11,1). Er verwirklicht nicht das, was nicht ist, sondern das, was in der Tat ist, verwirklicht er in unserem ganzen Leben und Wandel. Er richtet unverwandt unsere Blicke auf Christus, weil Er der Mittelpunkt aller Gedanken und Ratschlüsse Gottes ist. Er lässt uns in Ihm ruhen, weil Er der Gegenstand des Wohlgefallens Gottes ist, weil in Ihm alle Verheißungen Ja und Amen sind, und weil Gott alle Ehre und alle Segnungen für uns auf Ihn gelegt hat. Dies alles ist nicht nur dann wahr, wenn wir es glauben, sondern es ist völlig wahr in Gott, und darum sind wir aufgefordert, es zu glauben, und mittels des Glaubens ebenso über Christus und seine Fülle, ja über alle die irdischen und himmlischen Dinge zu denken und zu urteilen, wie Gott selbst es tut.
Dies zu verstehen und zu verwirklichen ist für unseren Wandel von der höchsten Wichtigkeit. Wenn ein Christ durch das Gefühl seiner Ohnmacht, Schwachheit und Armut niedergedrückt, oder durch die Umstände, durch die Sorgen dieses Lebens usw. beunruhigt wird, so ist der Glaube nicht wirksam in ihm. Sein Urteil wird durch das geleitet, was er fühlt und sieht, und das ist nicht der Glaube, der in Christus alle Fülle besitzt.
Angenommen, ein Hungriger würde an eine reich besetzte Tafel geführt, um sich zu sättigen. Er aber, anstatt dieses zu tun, spräche und klagte mir über seinen Hunger. Gewiss, sein Hunger würde bleiben, aber nicht darum, weil es an Speise fehlte, sondern, weil er keinen Gebrauch davon machte.
Oder wenn ein Armer zwischen Haufen von Gold geführt würde, um sich in Fülle davon zu nehmen, würde er nicht inmitten dieser Haufen ein armer Mann bleiben, wenn er keine Hand ausstreckte, um von den ihm geschenkten Schätzen zu nehmen und zu gebrauchen?
So hat auch der Gläubige alle Fülle in Christus, und ist oft ermahnt und ermuntert, aus dieser unermesslichen Vorratskammer reichlich zu nehmen. Er kann es aber nur mittels des Glaubens, und wenn er diese Hand nicht ausstreckt und nimmt und genießt, oder wenn er sich, anstatt durch das untrügliche Wort Gottes, durch seine eigenen armseligen Gedanken, die stets am Sichtbaren kleben, leiten lässt, so wird er trotz aller, ihm in Christus geschenkten Fülle sich matt, elend und arm fühlen.
Lasst uns dies, geliebte Brüder, wohl betrachten und tief in unsere Herzen einprägen: Nie stellt uns das Wort Gottes das, was von Christus und seiner Fülle in uns verwirklicht ist – das, was wir in uns sehen oder fühlen – als unseren Reichtum, als unsere Kraft und als den Gegenstand unserer Freude dar, auch wenn es wahr ist, dass wir jetzt von Christus und seiner Fülle nur so viel genießen, wie wir durch den Heiligen Geist erkennen, und wie durch denselben in uns verwirklicht ist. Der Glaube aber sieht den Gegenstand unseres Reichtums, unserer Segnung, unserer Kraft und Freude außer uns, und dieser Gegenstand ist nichts Geringeres als Christus selbst und alle in Ihm wohnende Fülle. Und der Glaube misst alles nach dem Maßstab Gottes – nach seinen Gedanken darüber – er empfängt, was Gott darreicht und wie Er es darreicht, und deshalb täuscht er sich nie. Christus ist für den Glauben ganz und gar das, wozu Er von Gott für uns gemacht ist. Was Gott von Ihm, von seinem Werk und aller in Ihm wohnenden Fülle sagt, ist für den Glauben unumstößliche, untrügliche Wahrheit, wonach Er alle unsere Gedanken und all unser Tun leitet und regiert. Durch den Glauben urteilen wir von Christus: Was Er ist, ist Er für uns, und wir sind in Ihm. Was Er lebt, lebt Er für uns und wir leben in Ihm, und was Er besitzt, besitzt Er für uns und wir besitzen es in Ihm und werden es bald mit Ihm besitzen. Der Unglaube aber, der leitende Grundsatz in den sich selbst betrügenden Kindern dieser Welt, lässt sich durch das Sichtbare, durch das, was nur Schein hat, leiten und regieren. Er vertraut auf das Eitle und Nichtige, und verwirft das, was unsichtbar ist – das Wahre und ewig Bleibende. Der Ungläubige hat stets nur sich selbst zum Mittelpunkt aller seiner Gedanken. Und traurig ist es, wenn die Kinder Gottes mehr oder weniger zu derselben Gesinnung hinabsinken, und deshalb oft viel Unruhe, Furcht und Ungewissheit über sich bringen.
Es ist aber das Wohlgefallen Gottes, dass wir uns allezeit in Christus erfreuen und dass wir in unserem ganzen Wandel verwirklichen, was Er ist, und was wir in Ihm sind und besitzen. Wir vermögen es nur, wenn unsere Blicke allezeit auf Ihn gerichtet bleiben und auf Ihm allein in völliger Gewissheit des Glaubens ruhen. Wir vermögen es nur, wenn wir Ihn mit all der Ehre und der ganzen Fülle, die auf Ihn gelegt ist, aufnehmen und im Glauben besitzen. Dann, und nur dann, wird unser Wandel hier auf der Erde, ein Wandel im Frieden und in Freude, ein Wandel in göttlicher Kraft und in himmlischer Gesinnung sein. Anders aber, wenn nicht allein Christus im Glauben erfasst und angeschaut wird, ist wenigstens in unserem praktischen Leben hier auf der Erde alles verändert. Der Herr selbst aber möge dies durch seinen Geist unseren Herzen recht klar und tief einprägen!
Dies ist aber umso nötiger, meine Brüder, weil Satan mit aller List und Bosheit bemüht ist, unsere Herzen von Christus abzulenken und auf irgendetwas anderes hinzuwenden. Dies war von jeher und zu jeder Zeit seine traurige Beschäftigung. Bald sucht er das vollkommene Werk Christi, bald seinen unerforschlichen Reichtum, und bald seine unwandelbare Gesinnung in Gnade und Liebe gegen uns anzutasten und in unseren Herzen zu schwächen. Sobald er in der Versammlung oder Kirche Eingang gefunden hatte, war es stets sein elendes Trachten, Abfall von der gesunden Lehre des Glaubens und Abfall von Christus selbst zu bewirken. Und ach! In welch einer schrecklichen Ausdehnung ist es ihm gelungen! Wie viele Millionen gibt es, die sich nach dem Namen Christi nennen, die seinen Namen oft im Mund führen, deren Herzen aber ganz entfremdet und fern von ihm sind. Wie unermesslich ist die Zahl derer, die sich nicht scheuen, auf alle Weise, entweder ihre Gleichgültigkeit, oder ihren Hass gegen Ihn an den Tag zu legen! Und wer vermag jene zu zählen, die statt Christus, nur leere Formen und Satzungen als Gegenstand ihres Dienstes und ihrer Verehrung haben, und seinen Namen noch dadurch entweihen, dass sie ihn gebrauchen, um ihrem vergeblichen Dienst Ansehen zu geben! „Die eine Form der Gottseligkeit haben, deren Kraft aber verleugnen“ (2Tim 3,5).
Selbst unter den wahren Christen sieht man die Früchte der Bemühungen Satans, und sie werden oft so wenig erkannt und so wenig gefühlt. Nur selten begegnet man einem nüchternen und einfältigen Auge, welches sich vom Geist Gottes und seinem festen und untrüglichen Worte leiten lässt. Bei so vielen ist Christus nicht mehr ein und alles. Das Gefühl der Abhängigkeit ist sehr geschwächt, und deshalb mangelt auch die völlige Unterwürfigkeit in der Furcht Gottes. Man findet wenig Verlangen, wenig Eifer und Liebe, nur Ihm wohlzugefallen, nur Ihm zu dienen und zu leben. Dagegen sieht man oft einen großen Eifer für äußere kirchliche Einrichtungen, Formen und Satzungen. Und dies war es, was Satan in der Versammlung zu Kolossä zu erstreben suchte. Er wollte das innige und unauflösliche Band zwischen Christus, dem verherrlichten Haupt im Himmel, und seiner Versammlung auf der Erde, in den Herzen lockern und ihre Gedanken mit den Elementen der Welt, mit den elenden und dürftigen Satzungen beschäftigen. Und ach! Wir haben nicht viel Licht nötig, um zu erkennen, wie sehr sein Zweck bis zu dieser Zeit hin selbst unter den wahren Gliedern des Leibes Christi erreicht worden ist. Es ist wahr, das Verhältnis selbst kann er nicht antasten, weil es nicht von unserem Wandel abhängig ist, aber er hat das Bewusstsein desselben in den Herzen der Gläubigen geschwächt und das ist Verlust und Schaden genug. Oder ist es etwas Geringes, wenn wir äußeren Formen und Satzungen einen Wert beilegen, als handle es sich um Christus selbst? Wenn wir ihretwegen Brüder ausschließen und gegen sie eifern? Paulus weinte über die Feinde des Kreuzes Christi und es möchte jetzt nicht schwer werden, unter den wahren Christen solche zu finden, die über die Freunde des Kreuzes Christi Tränen vergießen, weil diese nicht auch Freunde der menschlichen Satzungen sind. Der Abfall und der Verfall der Kirche ist völlig offenbar, wenigstens für das einfältige Auge. Ihre große Untreue hat der Wirksamkeit Satans Tür und Tor geöffnet! Möchten wir dies in Demut anerkennen, meine Brüder, und von Herzen zu dem zurückkehren, von dem aller Segen und alle Hilfe kommt, und dem unsere Schuld bekennen, der voll Gnade und Erbarmen ist. Es ist aber völlig umsonst, mit einer Wiederherstellung des Verfalls der Kirche beschäftigt zu sein. Der Mensch, als solcher, hat in seiner ganzen Geschichte auf Erden stets bewiesen, dass er nur fähig ist, von Gott und dem von ihm empfangenen, gesegneten Zustand abzufallen, d. h. insofern es sich um seine Verantwortlichkeit dabei handelt. Ich will hier nur an einige sehr in die Augen fallende Tatsachen erinnern. Betrachten wir den Menschen im Paradies, dann nach der Sintflut, dann in dem von Gott mit Israel auf dem Berg Sinai gestifteten Bund und dann seit Jahrhunderten in der Kirche auf Erden – immer hat er gefehlt, immer verdorben, nie aber ist es seine Sache, das Verlorene oder Verdorbene wieder aufzurichten oder herzustellen. Dies ist allein Sache Gottes.
Die Leitung der Kirche ist nur dem Heiligen Geist anvertraut. Sie ist gefallen, weil sie in ihrer Stellung auf der Erde verantwortlich ist. Wenn nun jetzt der Mensch die gefallene Kirche verbessern und in ihren früheren gesegneten Zustand zurückführen, wenn er ihre Leitung selbst in die Hand nehmen will, wovon zeugt dies anders, als von Unwissenheit oder von Anmaßung oder auch von beidem zugleich? Und was ist es anders, als dieses, wenn er die äußeren Anordnungen des Heiligen Geistes in der Kirche, oder wenn er sogar neue und nach seiner Meinung zeitgemäßere Formen und Einrichtungen unter diesem oder jenem Häuflein Christen eigenmächtig einzuführen sich bemüht! Er mag in seinem Eigendünkel so weit gehen, sich einer solchen Arbeit zu rühmen, wobei das nichts anderes ist, als sich „seines Fleisches rühmen“, und hat sicher nicht das Wohlgefallen Gottes. Der Christ versteht wohl, wie töricht es ist, wenn der gefallene Mensch daran arbeitet, sich zu bessern und sich in seinen ersten Zustand zurückzuführen, und doch versteht er nicht, wie töricht er selbst ist, wenn er sich bemüht, eine gefallene Kirche zu verbessern oder wieder herzustellen, ohne einmal an seine eigene Schuld daran und an seine gänzliche Ohnmacht zu denken! Dieses Bemühen schon ist eine Frucht des allgemeinen Abfalls. Doch wie gesegnet wird es für ihn sein, wenn er sowohl den Verfall der Kirche, als auch sein Unvermögen, denselben zu heilen, demütig anerkennt, und in gläubigem Vertrauen seine Zuflucht zu dem nimmt, dessen Arm nie zu kurz und dessen Gnade und Liebe nie zu schwach ist, um helfen und segnen zu können.
Es ist hier jedoch nicht meine Absicht, in diesen Gegenstand noch weiter einzugehen. Ich wollte nur kurz darauf hinweisen, wie sehr es dem Feind gelungen ist, die Person Christi ganz oder zum Teil in den Hintergrund zu drängen, und das unauflösliche Band der Liebe zwischen Ihm und seiner Versammlung in den Herzen der seinen zu lockern. Doch sucht er nicht nur in Betreff seiner Person, sondern auch in Betreff seines Werkes den Blick des Glaubens zu trüben und zu verdunkeln. Und es ist traurig zu sehen, wie wenig dieses Werk in seiner ganzen Tragweite, in seiner Kraft und Vollgültigkeit erkannt und verstanden wird. Die errettete Seele traut oft weit mehr auf ihre Gefühle, als auf das vollkommene Werk Christi. Die Galater und die Hebräer standen schon, wenn auch aus einem anderen Beweggrund, in Gefahr, den Blick des Glaubens von diesem Werk abzuwenden, und wieder zu den armseligen Satzungen des Fleisches zurückzukehren und auf den Schatten der zukünftigen Güter zu vertrauen. Wie sehr aber war der Apostel bemüht, sie auf diesem Weg aufzuhalten! Und sollte es weniger nötig sein, wenn der Christ auf das schwache, elende Gefühl vertraut? Ein solches Vertrauen macht das Herz unsicher und ungewiss, und entehrt das vollkommene Werk Christi. Unser Friede und unsere Freude, unser Loben und Danken ist dann völlig von unseren Gefühlen abhängig.
Noch weit mehr als die Wahrheit der Rechtfertigung ist die der Befreiung in den Herzen der Christen getrübt und verdunkelt. Viele unter ihnen sind sich ihrer Errettung und ihrer Annahme bei Gott völlig bewusst, und gehen doch stets mit einem unbefreiten Herzen einher. Ja, sie fürchten sogar das Wort „Befreiung“, indem sie es ziemlich gleichbedeutend halten mit Leichtfertigkeit, Hochmut oder gar Ziellosigkeit. Es ist aber auch nicht zu leugnen, dass es oft, selbst unter Christen, eine Freiheit gab, die auf solch einem traurigen und verwerflichen Boden gewachsen war. Doch was kann die Wahrheit dazu, wenn unter ihrem Namen die Lüge einhergeht? Die wirkliche Befreiung eines Christen hat nur ihren Grund in Christus und seinem Werk und hängt auch sehr eng mit einem würdigen Wandel zusammen. Sie zu kennen und im Glauben darin zu stehen, ist deshalb von großer Wichtigkeit. Wo sie mangelt, da mangelt auch die Erkenntnis unserer Stellung vor Gott und unserer Stellung hier auf der Erde. Wir erkennen weder unsere völlige Einheit mit Christus – eins mit Ihm in seinem Tod und eins in seiner Auferstehung – noch vermögen wir, als mit Christus Auferweckte, in Kraft seines Lebens hier auf der Erde zu wandeln. Wir beschäftigen uns stets mit der Ohnmacht und Verderbtheit des Fleisches. Wir gehen mit einem beschwerten und klagenden Herzen einher und verherrlichen auf diese Weise den Namen unseres Gottes und Heilands nicht.
Am meisten aber ist die Erwartung der herrlichen Ankunft Christi zur Aufnahme seiner Versammlung in den Herzen der seinen verschwunden. Und somit ist auch ihr gesegneter Einfluss auf den Wandel und der damit verbundene süße Trost in allen Versuchungen völlig vernichtet. Schon bei der Versammlung der Thessalonicher suchte Satan diese köstliche Wahrheit, die ihnen Freude, Kraft und Ausharren gewährte, aus den Herzen zu verdrängen und suchte an ihre Stelle seine Erscheinung zum Gericht zu setzen. Und man braucht nur die Christen im Allgemeinen über diesen Punkt reden zu hören, so merkt man bald, welch reichlichen Eingang dieser Irrtum gefunden hat. Man spricht von dem Kommen des Herrn Jesus, und verwechselt es immer mit dem „Tag des Herrn“, wo Jesus in seinem Charakter als Richter erscheint. Doch was für ein Trost liegt in dieser Erscheinung? Wenn man nur ein wenig das Wort untersucht und von den Dingen liest, welche diesem Tag voran gehen und welche ihn einführen und begleiten, so kann das Herz, selbst wenn es seine Erscheinung lieb hat, nur mit Angst und Schrecken erfüllt werden, wenn es an dieselbe denkt. Selbst wenn man, wie einige Christen tun, die herrliche Ankunft Christi zur Aufnahme seiner Versammlung zwar festhält, aber doch die Gerichte vor dieselbe bringt, so können wir uns weder ganz der Freude an sein Kommen hingeben, noch haben wir Ihn heute zu erwarten. Die vorhergehenden Gerichte werden immer diese Freude ein wenig trüben. Das Wort spricht nun aber sehr einfach und klar über diese köstliche Wahrheit. Es unterscheidet ganz bestimmt die Ankunft Christi zur Aufnahme seiner Versammlung und den „Tag des Herrn“, seine Erscheinung zum Gericht der Welt. Es redet sehr deutlich von den Umständen, welche jede dieser Tatsachen begleitet und es bezeichnet genau den Charakter derer, welche an dieser Aufnahme teil haben und derer, auf welche die Gerichte fallen werden, so wie auch den Charakter der Gläubigen, welche während dieser Gerichte ihren Aufenthalt auf dieser Erde haben. Sobald aber das Herz von Christus abgewandt ist, sobald das Verhältnis der Versammlung zu Ihm und ihre himmlische Berufung nicht mehr verstanden wird, kommt alles in Verwirrung. Wir verwechseln oft die einfachsten Wahrheiten. Wir unterscheiden nicht mehr zwischen dem irdischen und himmlischen Volk – Israel und der Kirche – der irdischen und himmlischen Berufung. Wir wenden auf uns an, was Gott auf andere angewandt hat, und vergessen das, was uns zugehört. Wir vergeistigen manche einfachen und klaren Aussprüche, um sie unserer Meinung anzupassen – kurz, wir fallen aus einem Irrtum in den anderen. Sobald wir vergessen haben, was für einen besonderen und gesegneten Platz die Versammlung in der Liebe und dem Herzen Jesu einnimmt, können wir auch nicht mehr verstehen, dass diese Versammlung in Betreff der Zukunft einen besonderen Platz einnehmen wird, und dass sie Erwartungen hat, die nur ihr gehören. Man liest Schriftabschnitte wie Johannes 14,1-3 und 1. Thessalonicher 4,13-18 und denkt nichts dabei, oder man vergeistigt sie. Und es haben sich gar mancherlei Meinungen in Betreff der Zukunft gebildet – Meinungen, denen meist das Wichtigste fehlt: die Übereinstimmung mit dem Wort Gottes – Meinungen, die oft von einem scharfen Verstand, aber von einer schwachen Schriftkenntnis zeugen – Meinungen, die nicht einzig und allein aus der wahren untrüglichen Quelle geschöpft sind. Man trägt oft seine Ansicht in das Wort hinein, und sucht dasselbe danach zu drehen und zu wenden, und bildet nicht jene Ansichten nach diesem Wort. Und dies offenbart jedenfalls ein schwaches Gefühl von der Autorität der heiligen Schrift und ein großes Vertrauen auf sich selbst.
Die am meisten angenommene Meinung ist nun diese, dass die Versammlung durch die Gerichte gehen und dann das 1000-jährige Reich auf Erden bilden wird. Und somit ist ihre Aufnahme in das himmlische Reich gänzlich beseitigt und ihre himmlische Berufung vernichtet. Dem Volk Israel werden aber auch seine bestimmten Verheißungen nicht erfüllt. Der gläubige Überrest hofft umsonst. Ein anderes Volk, die Versammlung, ist an ihre Stelle getreten, und Gottes Treue gegen sein Volk ist in Frage gestellt.
Eine andere sehr verbreitete Meinung ist die, dass das Evangelium nach und nach alles durchdringen und die Welt in ein 1000-jähriges Reich umschaffen werde. Diese Meinung aber schließt die schrecklichen Gerichte aus, welche diesem Reich vorangehen, und welche es einführen sollen. Und glaubt man, dass diese Gerichte nur ein Mittel seien, um dem Evangelium Aufnahme zu verschaffen, so versteht man weder ihre Tragweite, noch ihren Charakter. Und alles, was bei der ersten Meinung beseitigt und in Frage gestellt ist, ist es nicht weniger hier.
Nach einer dritten, von vielen angenommenen Meinung, hat das 1000-jährige Reich schon sein Ende erreicht. Sein Anfang wird in das neunte Jahrhundert unter Kaiser Karl den Großen verlegt. Doch ich frage ganz einfach: War Satan von jener Zeit an bis hierher gebunden, wie es ja nach Offenbarung 20 während des 1000-jährigen Reiches sein wird? War die eigentliche, im Wort Gottes klar bezeichnete Person des Antichristen vor jener Zeit schon vorhanden und wurde sie durch die Erscheinung des Herrn gerichtet (vgl. 2Thes 2)? War Israel in sein Land zurückgekehrt und genoss in diesem Reich die herrlichen Segnungen, wovon die Psalmen und alle Propheten so oft und so viel reden? O, geliebte Brüder, wie weit können wir von der einfachen und lauteren Wahrheit abirren, wenn wir uns auf unseren Verstand, auf unsere Weisheit und auf unsere Meinung verlassen und diese als Maßstab an die Gedanken und Ratschlüsse Gottes legen, oder wenn wir die Meinungen anderer Christen, die sich etwa durch Gelehrsamkeit oder sonstige Dinge auszeichnen, ohne weiteres zur Richtschnur unseres Glaubens und Lebens machen, und nicht allein das untrügliche Wort Gottes unter der Leitung des Heiligen Geistes erforschen, und nur dieses unseres Fußes Leuchte sein lassen!
Lasst uns jetzt auf die drei erwähnten Gegenstände etwas näher eingehen: unsere Rechtfertigung aus Glauben, unsere Befreiung in Christus und die herrliche Ankunft Christi zur Aufnahme seiner Versammlung. Der treue und gnadenreiche Herr aber wolle uns durch seinen Geist in alle Wahrheit leiten!