Schriften von William Kelly
Dan 9,24-27 - Die siebzig Wochen Daniels
Die Beschirmung der GräuelDie Beschirmung der Gräuel
Hier kommen wir zu einer sehr schwierigen Formulierung. Ich fürchte, die Randbemerkung hilft uns jetzt nicht weiter; aber ich werde mich bemühen, eine kleine Hilfestellung zu geben. Ich zweifle nicht daran, dass Gott für diesen Augenblick ein besonderes Licht aus seinem Wort geschenkt hat. Wir müssen bedenken, dass Christen unsere englische Version seit 250 Jahren, seit die Übersetzung gemacht wurde, sorgfältig geprüft haben.
Wir dürfen uns daher nicht wundern, wenn in einer so langen Zeit der Überprüfung, in der eine so große Anzahl von Studierenden, Männer des Gebets wie auch der geistlichen Fähigkeiten, einige wenige, die mächtig waren im Wort Gottes, Fehler gefunden haben.
Die wörtliche Bedeutung der Klausel ist diese: „Auf den Flügeln der Gräuel ein Verwüster“. Wie so oft gibt auch hier die wörtliche Wiedergabe nur wenig Aufschluss über den Sinn; in Wahrheit aber wird der Begriff „Flügel“ im übertragenen Sinn verwendet. Nun gibt es zwei Arten, wie ein Flügel in der Schrift verwendet wird. Von dem ausgebreiteten Flügel her kann er entweder für die weitere Ausdehnung von etwas stehen oder für den Schutz, wie wenn die Henne ihren Flügel über ihre Küken ausbreitet. So wird das Bild häufig verwendet, wenn der Herr von einem Vogel und seinen Jungen spricht und so weiter. In diesem Fall bedeutet „einen Flügel ausbreiten“, die Schwachen in der Stunde der Gefahr zu schützen oder etwas Ähnliches.
Es wird also in einem guten Sinn verwendet, was eine Verwendung des Wortes Flügel ist; aber es gibt noch eine andere Verwendung, wo es eher die Idee des Überspreizens vom Ausbreiten des Flügels ist. Hier waren unsere Übersetzer der Meinung, dass das Wort die Ausbreitung der Verwüstungen bedeutet. Sie nahmen das Wort „Flügel“ als Hinweis auf die übermäßige Ausdehnung oder Ausbreitung dieser Gräuel. Ich gehe davon aus, dass der Flügel Schutz bedeutet und dass die Präposition daher nicht „auf“, sondern „wegen“ bedeutet; denn das Wort kann sowohl das eine als auch das andere bedeuten. Wenn es eine materielle Sache ist, bedeutet es „auf“ oder „über“; wenn es aber ein Motiv ist, bedeutet es eher „wegen“ des Schutzes von Gräueln. Und jeder weiß, dass „Gräuel“ ein Götzenbild bedeutet; so wie der „Gräuel von Moab“ oder der „Gräuel von Ammon“ das jeweilige Götzenbild bezeichnet, das jeder von ihnen anbetete. „Wegen des Schutzes von Gräueln ein Verwüster“. Das bedeutet, dass Gott eine verwüstende Macht erwecken wird, die über die Juden herfällt und sie wegen des Schutzes der Götzen züchtigt. Sie hatten, wie der Prophet Jesaja es nennt, „einen Bund mit dem Tod und einen Vertrag mit der Hölle geschlossen“, und er spricht von genau dieser Zeit, genau diesem Volk und genau diesem Umstand. In Jesaja 28 findet ihr den wichtigsten Kommentar zu diesem Ausdruck oder eine weitere Bestätigung dafür.
Betrachten wir nun, was die Bedeutung ist, die wir aus allem herausgelesen haben. Und „wegen des Beschirmung der Gräuel“, das heißt, weil der römische Fürst zusammen mit seinem Verbündeten in Jerusalem nicht nur die namentliche Anbetung Gottes unter den Juden unterbrochen, sondern auch den Götzendienst in ihrer Mitte gefördert hatte. Die Anbetung Gottes, die im Unglauben begonnen wurde, hatte keinen Wert, keine Kraft, keine Akzeptanz. Aber immerhin war sie aufrichtig, und man könnte sagen, dass sie, soweit sie ging, der Form nach wahr war, wenn sie auch nicht mehr. Aber die Formen sind nicht von Dauer, und der Mensch begibt sich schließlich auf ein niedriges Niveau vor Gott, wenn der Dienst Formen annimmt. Sie müssen dann die Wirklichkeit haben, und wenn die Formen nicht mit Wahrheit erfüllt sind, tritt an die Stelle der Formen der Irrtum, weil der Irrtum dem Herzen des Menschen in seinem natürlichen Zustand mehr entgegenkommt. Daher haben sie beschlossen, diesen Formen der Anbetung des wahren Gottes ein Ende zu setzen. Der römische Fürst – zusammen mit dem Antichrist, seinem Verbündeten in Jerusalem, dem großen geistlichen Oberhaupt jener Zeit, dem religiösen Oberhaupt der Welt – stimmt zu, im Tempel von Jerusalem Götzen aufzustellen. Dieser stellt sich schließlich als Gott dar und lässt sich anbeten. Das ist der Mensch der Sünde, der Mensch, der im Tempel als Gott angebetet wird (2Thes 2).
Aber Daniel geht nicht auf alle diese Einzelheiten ein. Wir hören nur, dass der Fürst in der Mitte der Woche Opfer und Gaben aufhören lassen wird, und wegen des Schutzes der Götzen wird ein Verwüster kommen. Ihr erinnert euch wohl an dieselbe allgemeine Wahrheit: „Wenn ihr nun den Gräuel der Verwüstung, von dem durch Daniel, den Propheten, geredet ist, stehen seht an heiligem Ort“ (Mt 24,15; vgl. Off 13,14.15). Hier geht es um dieselbe Zeit und denselben Ort. Aufgrund des Schutzes (was ich als die Bedeutung des Wortes „Flügel“ ansehe), der diesem Götzen gewährt wird, wird es einen Verwüster geben. Gott wird eine große Geißel schicken, um sie zu züchtigen. Dieser Verwüster ist meiner Meinung nach „der König des Nordens“ (Dan 11,40‒45). Er ist die Person, auf die hier Bezug genommen wird. So haben wir in wenigen Worten einen Hinweis und einen Einblick in eine große Menge von Fakten in der Schrift. Ein Verwüster wird herbeigeführt; und ihr werden feststellen, dass in Jesaja 28, auf das ich eure Aufmerksamkeit bereits gelenkt habe, wo wir diesen „Bund mit dem Tod ... und einen Vertrag mit dem Scheol“ haben, es eine „überflutende Geißel“ gibt, genau die Person, die hier als Verwüster bezeichnet wird.
Es ist eine Macht aus dem Norden, der Herrscher Kleinasiens, der unter russischem Einfluss handelt. Ich sage nicht, dass es Russland ist; aber ich sage, dass es eine Macht ist, die die Pläne Russlands vollständig ausführt, das nicht weniger eifersüchtig auf die Westmächte ist und bestrebt ist, Jerusalem unter seine Herrschaft zu bringen. Und dann werden sie glauben, dass sie einen Anlass haben und dass es ihre Pflicht ist, sich einzumischen. Hier ist es der Kaiser des Westens, der den König in Jerusalem unterstützt, der dort Götzen und sich selbst im Tempel anbeten lässt. Der Fürst von Russland wird dies nicht zulassen und nimmt die Tatsache zum Anlass, seine eigenen ehrgeizigen Pläne zu verwirklichen (Hes 38; 39). Er kümmert sich nicht um Gott; aber er nimmt dies zum Anlass für einen Angriff. Die Menschen müssen natürlich immer einen plausiblen Vorwand für ihre Eroberungen anderen Länder haben, und dies wird der Vorwand sein. Es scheint ein gerechter Grund zu sein, und da er einen Grund der Gerechtigkeit in sich birgt, begünstigt Gott ihn von Anfang an. Soweit es Gerechtigkeit gibt, geht Gott immer soweit mit ihr, ganz gleich, wer es ist. Angenommen, es geht um ein Kind Gottes, aber das, was es tut, hält der Prüfung nicht stand, züchtigt Gott es nicht für dieses bisschen Ungerechtigkeit? Das wird Er immer tun. Es mag sein, dass andere Menschen die Ungerechtigkeit ausnutzen. Gott wird sich später mit ihnen befassen, aber Er wird zuerst die Gerechten züchtigen (vgl. 1Pet 4).
Hier also, wo alles böse ist, erlaubt Gott diesen Menschen, sich zu zeigen; und als erstes richtet und geißelt Er das schändliche Bündnis zwischen den Menschen in Jerusalem und dem Kaiser des Westens. Der Verwüster kommt von Norden herab, nimmt einen Teil Jerusalems ein und führt einen anderen Teil in die Gefangenschaft (Sach 14,1.2). Von Hoffnungen erregt und von höchsten Erwartungen auf Erfolg erfüllt, zieht er nach Ägypten hinab – wie es in der letzten Prophezeiung dieses Buches heißt –, um den König des Südens (das ist Ägypten) an jenem Tag zu bestrafen. In der Zwischenzeit erscheint Christus und vernichtet den Antichrist (Off 19,19‒21). Es ist der Tag des Herrn und seiner Herrlichkeit. Und wenn der König des Nordens wieder auftaucht, geht es nicht um den Kaiser des Westens, denn dieser ist dann gerichtet. Es geht auch nicht um den König der Juden, denn der ist dann ebenfalls vernichtet. Auch der Feind aus dem Norden begegnet dem Höchsten, damit ist auch diese Frage entschieden. Er wird ins Tophet geworfen (Bezeichnung für die Hölle; vgl. 2Kön 23,10; Jer 7,32; 19,6). Wie würdig ist Gott, wenn der Tag kommt, an dem Er die Schnellen richten wird!
Das ist also der springende Punkt, auch wenn wir hier nicht auf alles eingehen können; aber ihr seht die großen Linien. Um des Schutzes der Götzen willen wird es einen Verwüster geben bis zur Vollendung, und das Bestimmte wird über die Verwüstung ausgegossen werden, das heißt über Jerusalem.
So habe ich also, liebe Freunde, die allgemeine Bedeutung der Prophezeiung so knapp und zugleich so klar wiedergegeben, wie es mir möglich war.
Möge der Herr euch helfen, beim Lesen seines Wortes mehr und mehr in euren Seelen gestärkt zu werden, und mögt ihr auch befähigt werden, mehr die Verbindung mit Christus und so die Tiefe des Wortes Gottes zu erkennen.