William Kelly
Schriften von William Kelly
Anbetung in Geist und WahrheitAnbetung in Geist und Wahrheit
Hier ist es nun meine Absicht, etwas über Anbetung zu sagen; nicht über die Person des Anbeters, sondern über Anbetung – über Anbetung in Geist und Wahrheit. Im Allgemeinen haben viele, um nicht zu sagen die meisten Kinder Gottes, über diesen Gegenstand nur unklare Vorstellungen und Worte, die auch oft weit von der Wahrheit Gottes entfernt sind. Sie haben sich die Gewohnheit angeeignet, jeden religiösen Dienst Anbetung oder Gottesdienst zu nennen; das umfasst nicht nur das Beten, sondern auch die Wortverkündigung oder das Lehren. Sogar der größte Teil von dem, was in Gedichte oder Lieder gekleidet worden ist, ist nur der Ausdruck von Wünschen, manchmal auch von Lehre, ganz allgemein jedoch sind es Bitten. Echte, wirkliche Anbetung – selbst unter wahren Kindern Gottes – ist jedoch sehr selten. Der Grund ist offensichtlich. Wir können keine wahre Anbetung erwarten, bevor nicht die Anbeter sich ihrer christlichen Stellung vor Gott voll und ganz bewusst sind. In dem vorangegangenen Aufsatz war es mein Bestreben, zu zeigen, dass bei den wahrhaftigen Anbetern die Seele nicht nur göttliches Leben besitzen muss, sondern dass auch durch den Geist schon jetzt die Beziehung eines Kindes zu Gott gekannt sein muss. Dies ist im Allgemeinen nicht die Verfassung eines jeden Christen. Auf irgendeine bedauerliche Art und Weise – ich bin sicher, mit hinreichend rechtschaffenen Absichten – sind sie von der vollen Gnade Gottes abbewegt worden. Sie haben sich davor gescheut, dem Werk des Herrn Jesus für ihre Seelen völlig zu vertrauen. Gern wird zugestanden, dass die Gnade Gottes so überwältigend und grenzenlos ist und so über die Gedanken und Vorstellungen der Menschen erhaben, dass nur die Kraft des Heiligen Geistes die Seelen in dem Genuss dieser Gnade bewahren kann. Und auf der anderen Seite sind alle Versuche, außerhalb der Gegenwart Gottes diese Gnade zu suchen, mit größten Gefahren verbunden. Das Fleisch wird diese Gnade nämlich ständig in Freizügigkeit oder Zügellosigkeit verdrehen; und so kommt es, dass sich viele gottesfürchtige Seelen daran gestoßen haben, wenn sie wegen einer falschen Darstellung oder Verdrehung der Gnade Gottes derart erschütternd Böses sehen mussten.
Sie hatten die hochtrabendsten Gefühlsäußerungen gehört, das Zudecken von Sünde, selbst Heuchelei. Anstatt den alten Menschen zu richten, hatte sich stattdessen eine falsche Beurteilung der göttlichen Wahrheit bei ihnen eingeschlichen. Dies ist nicht weise; denn es wird niemals ohne praktisches Bestreiten oder Anzweifeln der Glaubwürdigkeit des Wortes Gottes einhergehen. Ihre Gewissen waren dadurch bösen oder sorglosen, oberflächlichen Menschen ausgeliefert, die der Wahrheit, welche sie lehrten, Schande bereiteten. Wenn wir die Heilige Schrift öffnen, sehen wir deutlich die Gnade und Wahrheit Gottes. Es ist gerade Seine Absicht, wenn Er sich so offenbart, Gläubige, die von ihren Sünden bekehrt sind und Buße getan haben, in den strahlenden, ausgedehnten, einfältigen Genuss Seiner Gnade zu führen, damit nun das ganze Leben der Ausdruck sowohl von Danksagung und Lobpreis als auch von Dienst und Hingabe an Ihn sei.
Es gibt noch einen anderen Grund, warum Menschen höchst widerwillig nur zur Anbetung bereit sind: sie sind der verderblichen, schädlichen Vorstellung gefolgt, dass der Gläubige in dieser Welt gelassen worden ist, um dieses Geschlecht zu verbessern und eine Zierde, wenn nicht gar ein Verbesserer der menschlichen Gesellschaft zu sein und mit ihr umzugehen, als befände sie sich noch unter der Erprobung und dem Gesetz Gottes, so wie es mit Israel vor dem Erlösungswerk war. Nun, ich will auch nicht im Geringsten abstreiten, dass der Gläubige das Licht dieser Welt und das Salz der Erde sein soll (Mt 5,13+14). Er ist hier gelassen worden, um ein Zeugnis zu sein; aber ein Zeugnis wovon? Von seiner eigenen Tugend oder von der Tugend Christi? Darin liegt ein großer Unterschied. Der Herr sagt: „Lasst euer Licht leuchten vor den Menschen, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater, der in den Himmeln ist, verherrlichen“ (Mt 5,16). Das ist der entscheidende Punkt. Es geht nicht darum, unsere guten Werke vor den Menschen darzustellen, damit wir dadurch selbst verherrlicht würden. Und das ist auch der Punkt, worin die Menschen so leicht irren, denn die Verherrlichung von gewissen Einzelpersonen wirft auch so etwas wie einen Glorienschein auf das Geschlecht, dem sie angehören.
Aber es ist auch eine völlig andere Sache, wo unser Licht scheint. Dabei verstehe ich unter diesem Licht das Verbreiten der Person Christi; nicht unsere eigenen Vorzüge, sondern das, was wir nur in dem Herrn besitzen. Es ist also das gute Bekenntnis Seines Namens. Wenn Menschen gute Werke verbunden mit dem Darstellen des Herrn Jesus sehen, dann wird das Bekenntnis Seines Namens nicht uns die Ehre bringen, sondern dem Vater im Himmel. Das sind die Worte des Herrn Jesus, doch die Menschen scheuen vor dem zurück, was ihnen die klare Gewissheit gibt, dass sie nicht zu der Welt gehören; denn das ist der Bereich, wo sie die nicht geringe Neigung haben, etwas darstellen zu wollen. Ganz egal, wie niedrig jemand ist, er möchte etwas bedeuten. Aber genau das ist es, wovon Christus uns freimachen möchte; denn wenn die Botschaft wahr ist – und es ist nicht unsere Sache, daran Zweifel zu hegen –, dann ist es einer ihrer Hauptgrundsätze, dass wir der Welt gestorben sind, und dass unser Leben mit dem Christus verborgen ist in Gott (Kol 3,3). Wenn ein Mensch gestorben ist, dann hat es mit ihm ein Ende genommen. Das ist es, was Christus auf jeden Gläubigen schreibt, was Er bei jedem, der Ihn und Sein gewaltiges Werk angenommen hat, echt und wahr machen möchte. Wir sind mit Ihm gekreuzigt – nicht bloß aufgefordert, die alte Natur zu kreuzigen. Alle, die Christus angehören, haben das Fleisch mit seinen Regungen gekreuzigt. Du siehst also, dass die ersten Grundsätze des Christentums diejenigen, die Christus angehören, von der Welt trennen, von ihren Interessen und Zielen; während sie sie, wenn wir so wollen, auf einer anderen Grundlage in diese Welt hineinstellen, denn das ist erwiesenermaßen auch wahr. „Wie du mich in die Welt gesandt hast, so habe auch ich sie in die Welt gesandt“ (Joh 17,18). Der Tod Christi nimmt uns aus der Welt heraus, aber durch Seine Auferstehung sind wir auf einer neuen Grundlage des Lebens und der Gerechtigkeit in diese Welt gesandt worden. Es ist der neue Boden der Gerechtigkeit Gottes, auf welchem wir als wahrhaftige Anbeter stehen, und nur auf diesem Boden können wir unserem Gott und Vater Anbetung in Geist und Wahrheit bringen.
Und doch scheuen sich selbst wahre Kinder Gottes vor dieser Stellung. Sie lieben den Herrn Jesus. Sie hängen Ihm an, sie finden Trost und Ruhe in Seiner Liebe, sie stützen sich auf Sein vergossenes Blut; aber weiter gehen sie lieber nicht. Sie ziehen es vor, die Welt noch nicht ganz aufzugeben. Sie wären der zukünftigen Welt gern ganz sicher, aber die Beharrlichkeit, mit welcher sie dieser Welt anhängen, macht es ihnen unmöglich, sich der zukünftigen Welt wirklich bewusst zu sein. In einem solchen Zustand kann es keine wahre christliche Anbetung geben. Folglich also, da sie nie bestreiten wollen, Anbeter zu sein oder anzubeten, gehen sie sogar so weit, zu sagen, dass sie eine Anbetungs-Predigt hören würden. Wir alle wissen das, und vielleicht haben sich einige es sogar schon angewöhnt, sich so auszudrücken. Ich führe das nur deshalb an, um die allgemeine Unbestimmtheit der Kinder Gottes im Blick auf die Anbetung zu zeigen. Der Zustand, aus dem durch die Gnade Anbetung hervorkommt, ist nur so kläglich verwirklicht, dass wir uns darüber nicht zu wundern brauchen.