Schriften von William Kelly
Dan 9,24-27 - Die siebzig Wochen Daniels
Die siebzig Wochen DanielsDie siebzig Wochen Daniels
(Daniel 9,24‒27)
Es gibt keine Prophezeiung, deren allgemeine Tragweite so sicher ist wie die der siebzig Wochen; und doch gibt es nur wenige, über die so viele Debatten geführt wurden und über die selbst unter echten Gläubigen so viele unterschiedliche Auffassungen bestehen. Dies kann zu einem gewissen Maß an Vorurteilen liegen. Unsere Herzen sind so zögerlich, sicheres Licht von Gott zu erwarten, dass das Vorhandensein einer großen Meinungsvielfalt, besonders bei denen, die die Wahrheit lieben und schätzen, sogar Kinder Gottes abschrecken kann, so dass sie sich abwenden. Das sollte nicht so sein; dennoch ist es zu oft eine Tatsache. Doch einen Teil der Wahrheit Gottes auszuschließen, ist kein Glaube, sondern offensichtlich auf Vorurteile oder Vorlieben zurückzuführen. Das war besonders im Fall dieser siebzig Wochen so.
Aber wenigstens eins ist klar: Was Gott hier Daniel offenbarte, offenbarte er durch seinen Knecht auch uns. Unter den Christen ist nach wie vor der Fehler weit verbreitet, dass sie nach etwas Ausschau halten, das sich auf ihre eigenen Umstände bezieht. Sie neigen zu der Ansicht, dass die Versammlung Gottes, die für Gott selbst ein so großes Thema ist, deshalb immer der wichtigste Gedanke in der Prophetie sein muss.
Dies ist jedoch nicht der Fall, und auch im Alten Testament ist dies nicht der Fall. Die Versammlung ist nicht das eigentliche Thema der Prophetie, sondern ein Teil des Geheimnisses, für das die Schrift Raum gelassen hat und das nun offenbart wird. Dennoch mag es hier einige geben, die unter dem Einfluss dieser Meinung stehen, und gerade für sie darf ich sagen, dass es neben der Erlösung zwei große Themen in der Bibel gibt:
Das eine ist das (1) Reich im Alten Testament, das andere ist die (2) Versammlung [ kkλƞσía] im Neuen Testament. Aber näher für Gott als das Reich oder die Versammlung ist ein anderer Gegenstand, und (3) das ist Christus, der sowohl der Retter als auch das Haupt der Versammlung und der König nicht nur Israels, sondern auch der Völker ist. Der wahre Schlüssel zum Verständnis jedes Teils der Heiligen Schrift besteht also darin, sich so weit wie möglich von allen äußeren Vorurteilen frei zu machen – zum Beispiel zugunsten des Reiches einerseits oder der Versammlung andererseits –, die einen daran hindern zu sehen, dass Gott in erster Linie an Christus denkt, was auch immer seine besondere Beziehung sein mag.
In dieser Begebenheit des Alten Testaments sehen wir das wahre Zentrum: Christus, aber Christus dort im Hinblick auf das Reich in seinem irdischen Aspekt, das heißt, das Reich des Messias als die Entfaltung der göttlichen Macht auf der Erde, deren Zentrum Israel ist. In der Tat ist es das, was uns die wirkliche Bedeutung Israels oder der Versammlung zeigt, und das nicht wegen irgendetwas Verdienstvollem bei ihnen, sondern ganz und gar wegen Christus, der mit jedem von ihnen verbunden ist. In dem Augenblick, in dem wir sehen, dass Gott seinen Sohn verherrlicht, verstehen wir, dass sein Ziel im Himmel oder auf der Erde Christus sein muss.
Gott sorgt jedoch dafür, dass es im Alten Testament Worte gibt, die nicht verstanden werden konnten, bis die Versammlung oder das Christentum hinzukamen. Diese Worte bekamen hier und da eine gesegnete Bedeutung, als die Versammlung eingeführt wurde. Und so ist es auch mit dem Neuen Testament: Gott sorgt dafür, dass niemand denkt, dass das Reich Gottes erledigt ist. Und das war von großer Bedeutung.
Gott hat das Reich nicht aufgegeben. Sei es, dass die Versammlung dazukommt; aber selbst wenn sie vollständig offenbart ist, muss auch das Reich kommen. Er ließ weder, als er im Begriff war, die Versammlung zu bilden, das Reich fallen, noch andererseits, als Er alle seine herrlichen Gedanken über die Versammlung entfaltete, das Reich fallen: „Die Gabengaben und die Berufung Gottes sind unbereubar“ (Röm 11,29).
Das hilft uns bei dem vor uns liegenden Thema. Wenn ich mich mit dem Wunsch damit beschäftige, zu sehen, wie es auf mich oder die Versammlung zutrifft, bin ich auf dem falschen Weg. Die Übersetzer scheinen die Randbemerkung bei dem Text verdreht zu haben, indem sie versuchten, seine Bedeutung auf die christliche Kirche zu beziehen, während wir lernen werden, dass uns dies nichts hinzufügt, sondern eher wegnimmt. Was sich auch immer auf die Versammlung bezieht, wird auf die bestmögliche Weise in den Schriften gegeben, die über die Versammlung sprechen: Alles, was von anderswo kommt, dient nur dazu, die Wahrheit zu schwächen.
Ich will die Einleitung nicht weiter ausdehnen, sondern mich sogleich dem zuwenden, was vor uns liegt. Ich denke, wir werden auf einen Blick sehen, was Gott mit den Wochen beabsichtigt.
Aber zunächst möchte ich auf den Fehler aufmerksam machen, das Gesicht als etwas zu betrachten, das man nicht verstehen kann. Es heißt: „So wisse denn und verstehe“ (V. 25). Wäre sie nur für Daniels persönliches Verständnis bestimmt gewesen, wäre sie uns nicht offenbart worden. Daniel wurde vom Heiligen Geist inspiriert, die siebzig Wochen zu offenbaren, damit wir nicht nur lesen, sondern auch verstehen können. Deshalb dürfen wir heute Abend zu Gott aufschauen, dass Er uns in seiner Gnade eine solche Hilfe gibt, dass wir diese große Sache begreifen können.
Zunächst einmal stellen wir fest, dass von einer Zeitspanne von 70 Wochen die Rede ist:
70 Wochen sind über dein Volk und über deine heilige Stadt bestimmt, um die Übertretung zum Abschluss zu bringen und den Sünden ein Ende zu machen und die Ungerechtigkeit zu sühnen und eine ewige Gerechtigkeit einzuführen und Gesicht und Propheten zu versiegeln und ein Allerheiligstes zu salben (V. 24).
Das bedeutet, dass es Gott gefiel, aus der großen Menge der Zeit einen bestimmten Teil für einen besonderen Zweck auszusondern; aber ob ein Teil oder Teile, die für den fraglichen Zweck – siebzig Wochen – ausgesondert oder herausgenommen wurden, sie sollten alle aufeinander folgen, oder ob es eine Lücke oder einen Bruch zwischen ihnen geben sollte, wie wir noch sehen werden. Aber das erste Ziel, das vermittelt wird, lautet: „70 Wochen sind über dein Volk und über deine heilige Stadt bestimmt, um die Übertretung zum Abschluss zu bringen und den Sünden ein Ende zu machen und die Ungerechtigkeit zu sühnen und eine ewige Gerechtigkeit einzuführen und Gesicht und Propheten zu versiegeln und ein Allerheiligstes zu salben.“
So haben wir den Umfang des Gesichts; aber wir sind nicht auf Mutmaßungen angewiesen. „Siebzig Wochen sind über dein Volk bestimmt“. Über wessen Volk? Über das Volk Daniels. Die Versammlung? Offensichtlich nicht. Es waren die Juden, die sich zu dieser Zeit bekanntermaßen in der größtmöglichen Depression befanden – so völlig degradiert von der großartigen Stellung, in die Gott sie in ihrer frühesten Geschichte versetzt hatte, dass Gott zu dieser Zeit seinen Namen von ihnen weggenommen hatte. Gabriel sagt nicht, dass siebzig Wochen über „Gottes Volk“ oder über „mein Volk“ bestimmt sind, als ob er für ihn sprechen würde, sondern über „dein Volk“. Sie waren nur noch Daniels Volk.
Hosea hatte dies schon lange vorhergesagt. Er war das Werkzeug, um es Israel bekanntzumachen, eine höchst ernste Tatsache für einen Israeliten, der gottesfürchtig war und die berechtigte Freude empfand, dass sein Volk aus allen anderen herausgehoben war, um das Volk des HERRN zu sein und den HERRN als seinen Gott zu haben. Doch Gott verkündete ihnen durch seinen Propheten, dass sie nicht mehr sein Volk sein würden, obwohl die Gnade sie am letzten Tag sicherlich noch einmal und für immer dazu machen wird (Hos 1‒3).
Und nun befanden sie sich in der Gefangenschaft. Es stimmt, dass die Zeit fast gekommen war, als Gott verkündete, dass sie aus Babylon zurückkehren sollten. Aber sie standen noch unter den Folgen des Gerichts Gottes. Doch die Zeit der Erfüllung von Jeremias Prophezeiung über siebzig Jahre stand nahe bevor. Sie waren kurz davor, die siebzigjährige Gefangenschaft in Babylon zu beenden, und Gabriel wurde gesandt, um die siebzig Wochen anzukündigen – das heißt, siebzig Jahrwochen. Natürlich betrafen diese Jahre genau dasselbe Volk, aber dieses Volk stand noch unter Gottes ernstem „Lo-Ammi“. Was auch immer seine herrlichen Absichten in der Zukunft sein würden und was auch immer seine gnädigen Wege mit ihnen in der Gegenwart wären, es ist immer noch eindeutig dein Volk, Daniels Volk. Gott anerkennt sie nicht mehr öffentlich als sein Volk. Zweifellos gab es unter ihnen Gläubige, Kinder Gottes wie Daniel und andere (wie zum Beispiel seine drei Freude eine ähnliche Gesinnung hatten, da sie den gleichen kostbaren Glauben wie er empfangen hatten); aber der Engel sprach nicht nur von Gläubigen, sondern von den Juden als Volk.
Es sind also die Juden, die nicht „mein Volk“, sondern „dein Volk“ genannt werden – Daniels Volk. „70 Wochen sind über dein Volk und
über deine heilige Stadt bestimmt“. Jerusalem wird zweifellos immer noch als heilige Stadt bezeichnet, aber nicht mehr als Gottes eigene Stadt, sondern als deine – Daniels – heilige Stadt. All dies macht das große Ziel der siebzig Wochen deutlich. Es geht nicht um das Christentum oder die Versammlung, sondern um Jerusalem, Daniels heilige Stadt, und um Daniels Volk, die Juden.
Die siebzig Wochen sind also, wie man schon an den einleitenden Worten erkennen kann, auf die klarste Weise mit dem jüdischen Volk verknüpft. „70 Wochen sind über dein Volk und über deine heilige Stadt bestimmt, um die Übertretung zum Abschluss zu bringen und den Sünden ein Ende zu machen und die Ungerechtigkeit zu sühnen und eine ewige Gerechtigkeit einzuführen und Gesicht und Propheten zu versiegeln und ein Allerheiligstes zu salben.“
An der Zielsetzung kann man nicht zweifeln, wenn man diese Ausdrücke als Ganzes betrachtet. Allerdings könnte man vielleicht eine Frage stellen, wenn man einen einzelnen Punkt aufgreift. Zum Beispiel bedeutet „die Übertretung zum Abschluss zu bringen“ wörtlich „sie zurückzuhalten“. Aber auch wenn man sich über die Bedeutung dieses Ausdrucks allein nicht sicher sein kann, so machen diese Worte, wenn er hinzufügt: „um den Sünden ein Ende zu machen“ oder wörtlich: „um die Sünden zu versiegeln“ und „um die Ungerechtigkeit zu sühnen und eine ewige Gerechtigkeit einzuführen“ die Bedeutung völlig klar.
Die siebzig Wochen waren über Daniels Volk und Daniels heilige Stadt bestimmt, um die gesegnete Zeit herbeizuführen, von der der Prophet sprach – um die Verheißungen zu erfüllen, die Gott Israel von Anfang an in Aussicht gestellt hatte. Das ist eindeutig das Ziel; und daher geht es sowohl um die Sünden, dass sie beendet werden, als auch um die Gerechtigkeit, die herbeigeführt werden soll, und nicht nur das, sondern um sie für immer herbeizuführen. Das bedeutet: Die Gerechtigkeit wird nicht nur gegeben, sondern auch für immer sicher gestellt. Es kann daher keinen Zweifel geben, dass das, was Daniel aus der Mitteilung Gabriels entnehmen sollte und was der Glaube auch erfuhr, darin bestand, dass am Ende dieser siebzig Jahrwochen der lange verheißene Segen für Israel in Erfüllung gehen würde.
Es ist jedoch klar, dass wir in die Prophezeiung hineinschauen müssen, um zu sehen, ob die siebzig Wochen ohne Unterbrechung aufeinander folgen würden, oder ob es dazwischen eine Unterbrechung oder einen Aufschub geben würde. Auf jeden Fall aber müssen diese siebzig Wochen, so wie sie hier beschrieben werden – denn das ist für die Wahrheit der Prophezeiung sehr wichtig –, in allen Einzelheiten für den Juden und Jerusalem erfüllt werden. Ich werde zeigen, wie wichtig das ist, bevor ich diese Verse behandelt habe. Es ist klar, dass das Ende der siebzigsten Woche nach dem Wort Gottes mit der Fülle des Segens und des gerechten Segens für Daniels Volk und seine Stadt enden wird. Das heißt, es geht durchaus nicht darum, Menschen zu retten und sie in den Himmel zu bringen. Es geht hier nicht um die Absichten Gottes in Verbindung mit Christus droben, sondern um die Erde, und vor allem um die bekannte Stadt Jerusalem und das jüdische Volk. Dies sind die Ziele der Prophezeiung hier.