Hiob kennt sein Herz und das Herz Gottes zu wenig
Aber die Tiefen des Herzens Hiobs waren noch nicht erreicht. Doch das
zu tun war der Vorsatz Gottes, ungeachtet dessen, was Satan gedacht
haben mochte. Hiob kannte sich selbst nicht. Und bei all seiner
Frömmigkeit war er bis zu diesem Zeitpunkt noch nie in der Gegenwart
Gottes gewesen. Wie oft ist das der Fall, dass selbst während eines
langen gottseligen Lebens das Gewissen niemals wirklich vor Gott
gestellt worden ist! Deshalb sind ein Friede, der nicht erschüttert
werden kann, und wirkliche Freiheit noch unbekannt. Es ist ein Verlangen
nach Gott da, die neue Natur ist vorhanden und man hat die
Anziehungskraft seiner Gnade gespürt. Dennoch kennt man Gott und seine
Liebe nicht wirklich. Wenn Satans Werk auch vereitelt wurde, indem Gott
das Herz Hiobs vor dem Murren bewahrt hatte, so hatte Gott noch sein
eigenes Werk zu vollbringen.
Das, was der von Satan entfesselte Sturm nicht zu tun vermochte, wird
durch das Mitgefühl seiner Freunde zustande gebracht. Armes
Menschenherz! Die Rechtschaffenheit Hiobs und sogar seine Geduld waren
bewiesen, und Satan hatte nichts mehr zu sagen. Gott allein kann aber
erforschen, wie das Herz wirklich vor Ihm steht. Keinen Eigenwillen zu
haben, völlig mit dem Willen Gottes übereinzustimmen und sich absolut
unterzuordnen, wie Christus es getan hat – dies alles konnte Gott allein
erproben. Und auf diese Weise wurde die Nichtigkeit des Menschenherzens
vor Ihm bloßgestellt. Gott tat dies mit Hiob. Gleichzeitig offenbarte
Er, dass Er in solchen Fällen in Gnade zum Wohl der von Ihm geliebten
Seele handelt.
Hiobs Selbstzufriedenheit
Wenn wir die Sprache des Geistes Christi in den Psalmen vergleichen,
so werden wir finden, dass die Umstände beinahe mit denselben Worten
beschrieben werden. Aber anstatt bitterer Klagen und an Gott gerichteter
Vorwürfe finden wir dort die Unterordnung eines Herzens, das anerkennt,
dass Gott in allen seinen Wegen vollkommen ist. Hiob war rechtschaffen,
aber er begann, dies zu seiner Gerechtigkeit zu machen, was beweist,
dass er niemals wirklich in der Gegenwart Gottes gewesen war. Die Folge
davon war, dass er Gott Ungerechtigkeit und den Wunsch zuschrieb, ihn
ohne Ursache zu bedrängen (siehe Hiob 19 und
Wir finden in Kapitel 29 auch, dass er selbstgefällig an sein rechtschaffenes und wohltätiges Verhalten dachte und sich selbst lobte und damit seine Selbstliebe nährte. „Wenn das Auge mich sah, so legte es Zeugnis von mir ab“ (Hiob 29,11). Gott führte ihn aber später dazu, zu sagen: „Nun hat mein Auge dich gesehen. Darum verabscheue ich mich“ (Hiob 42,3).
Mit den Kapiteln 29 bis 31, die seine gute Meinung über sich selbst ausdrücken, beendet Hiob seine Rede. Er hatte sein ganzes Herz ausgegossen. Er war mit sich selbst zufrieden. Die Gnade Gottes hatte in ihm gewirkt, und zwar in einer wunderbaren Weise. Doch die gegenwärtige Wirkung der Gnade war nur, dass Hiob schön in seinen eigenen Augen war. Das geschah durch die Treulosigkeit des Menschenherzens und weil Hiob nicht in der Gegenwart Gottes war, wo man die Gnade entdeckt.
Wenn Hiob in Kapitel 9 die Ungerechtigkeit des Menschen bekennt (denn wer kann sie abstreiten, insbesondere welcher bekehrte Mensch?), so geschieht das in Bitterkeit des Gemüts. Denn Hiob meint, dass es nichts nützt, zu versuchen, bei solch einem Gott gerecht zu sein.
Kapitel 6 sowie auch seine ganze Rede beweisen den Hochmut seines Herzens, das es anscheinend nicht ertragen konnte, von denen, die seine Größe gekannt hatten, in so einem Zustand gesehen zu werden, in einem Zustand, den der Hochmut schon aus Hartnäckigkeit allein ertragen hätte. Oder konnte er das Mitgefühl nicht aushalten, das den Stolz schwächte und ihn dem vollen Bewusstsein seines Zustandes preisgab? Jedenfalls waren die Anwesenheit und die Rede seiner Freunde das Mittel, alles an den Tag zu bringen, was in seinem Herzen war. Wir sehen auch in Kapitel 30, dass der Hochmut seines Herzens entdeckt wurde.
Die Freunde Hiobs – ihre Unwissenheit
Was die Freunde Hiobs anbetrifft, so bedürfen sie keiner ausführlichen Bemerkungen. Sie bestehen auf der Lehre, dass die irdische Regierung Gottes seine Gerechtigkeit völlig kundmacht, wie auch der Gerechtigkeit des Menschen, die ihr entsprechen sollte. Diese Lehre beweist eine völlige Unkenntnis des Wesens der Gerechtigkeit Gottes und seiner Wege. Es fehlt auch die wahre Erkenntnis darüber, was Gott ist oder was der Mensch als Sünder ist. Wir sehen auch nicht, dass die Empfindungen ihrer Herzen durch Gemeinschaft mit Gott beeinflusst waren. Ihre Erörterung ist eine falsche und kalte Einschätzung der Gerechtigkeit seiner Regierung, wie sie sich in der Beziehung zum Menschen erweist.7 Dennoch sagen sie auch viele wahre alltägliche Dinge, die sogar der Geist Gottes für richtig annimmt (vgl. 1Kor 3,19).
Obwohl Hiob in der Wertschätzung seiner selbst nicht vor Gott stand, so urteilt er in dieser Hinsicht richtig. Er zeigt, dass Gott zwar seinen Unmut über die Bösen zeigt, dass aber die guten Umstände, in denen sich diese oft befinden, die Beweisführung seiner Freunde umwirft. (Das Böse wird eben nicht immer sofort bestraft.) In Hiob sehen wir ein Herz, das, obwohl es voller Empörung ist, sich auf Gott verlässt und sich freuen würde, Ihn zu finden. Wir sehen auch, dass er sich durch einige wenige Worte von seinen Freunden losreißen kann, die, wie er genau empfindet, nichts von seinem Fall verstehen noch von dem Handeln Gottes. Er wendet sich daher in seinen Reden an Gott, obwohl er Ihn nicht findet und obwohl er klagt, dass Gottes Hand schwer auf ihm laste. Das sehen wir in dem schönen und ergreifenden Kapitel 23 und in seinen Erörterungen der göttlichen Regierung in den Kapiteln 24 und 21. Das zeigt, dass wir jemand sehen, der geschmeckt hat, dass Gott gnädig ist. Sein Herz, obwohl verwundet und ernüchtert, nimmt die Eigenschaften Gottes für sich in Anspruch, weil er Ihn kennt. Diese Eigenschaften konnten die kalten Überlegungen seiner Freunde Ihm nicht zuschreiben. Hiobs Herz beklagt sich bitter über Gott; es weiß aber, dass, wenn er Ihn finden könnte, Gott so sei, wie er gesagt hatte, und nicht so, wie die Freunde von Ihm gesprochen hatten oder wie sie selbst waren. Wenn er Ihn finden könnte, würde er nicht sein wie sie. Hiob wies empört den Vorwurf der Heuchelei zurück. Denn Hiob war sich bewusst, dass er zu Gott aufschaute und dass er Gott gekannt und in Beziehung zu Ihm gehandelt hatte, obwohl Gott es für richtig hielt, seiner Sünde zu gedenken. Obwohl Hiob so geistlich war, verhinderte das nicht, dass er das Bewusstsein von seiner Redlichkeit zu einem Mantel der Selbstgerechtigkeit machte. Dieser Mantel verbarg Gott vor ihm und sogar ihn selbst vor sich. Hiob behauptet, er wäre gerechter als Gott (Hiob 10,7.8; 16,14-17; 23,11-13; 27,2-6).
7 Sie glauben, dass es dem Sünder schlecht gehen und dem Gerechten gut gehen müsse.↩︎