Schriften von William Joseph Lowe
Das „ewige Leben“ - Der Begriff „Leben“
Ewiges Leben - Der Begriff „Leben“ in den Schriften der Apostel Johannes und Paulus im Vergleich (2)
Der Brief an die GalaterDer Brief an die Galater
Wir wollen uns kurz mit dem Brief an die Galater beschäftigen, der der einzige Brief des Paulus ist, in dem seine Art zu lehren vielleicht am meisten der des Johannes nahekommt. Es war das Christentum selbst, das dort durch den Einfluss judaisierender Lehrer in Frage gestellt wurde, und der Apostel musste dessen eigentliche Grundlage erneut legen. Das erste Kapitel, in dem Paulus von seiner Bekehrung berichtet, stellt eine gute Gelegenheit dar, daran zu erinnern, wie Gott in besonderer Weise sein auserwähltes Gefäß vorbereitete, um die Wahrheit zu verkünden. Johannes hatte den Herrn persönlich auf dieser Erde gekannt; er ruhte in seinem Schoß und erfreute sich seiner Liebe. Paulus, „gleichsam eine unzeitige Geburt“ [1Kor 15,8], wurde in seinem Lauf der religiösen Verblendung gegen Christus dadurch aufgehalten, dass er Christus im Himmel sah und indem er selbst umhüllt wurde von „Licht, das den Glanz der Sonne übertraf“ [Apg 26,13]; und hörte seine Stimme zarter Gnade – Worte, die das Einssein der Glieder auf der Erde mit dem Haupt im Himmel verkündeten. Johannes hatte die Aufgabe, zu entfalten, was der Herr als Person, als Sohn des Vaters, als das Fleisch gewordene Wort, das „ewige Leben“ war. Paulus wurde das Evangelium Gottes anvertraut, um es unter den Nationen zu predigen, sowie die Offenbarung des Geheimnisses vom Leib und der Braut Christi [zu verkündigen] ebenso wie das Wiederkommen des Herrn als Hoffnung der Gemeinde. Ebenso war es ihm anvertraut, die Wahrheiten – ganz allgemein – [zu verkündigen], die in der himmlischen Berufung der Gläubigen enthalten sind, sowohl als gegenwärtiges Teil (Epheserbrief) als auch als zukünftige Hoffnung (Hebräerbrief).18 Der gegenwärtige Platz Christi in Herrlichkeit nach vollbrachter Erlösung, als Sohn des Menschen und als Sohn Gottes, sowie das folgerichtige Kommen des Heiligen Geistes sind die Grundlage aller Teilhabe an den Segnungen, sowohl bei Johannes als auch bei Paulus. Aber Ersterer beschäftigt sich besonders mit den Wahrheiten in Bezug auf die Person, während Letzterer sich mit dessen Platz sowie der Stellung der Christen beschäftigt. Von den Lehrbriefen des Paulus ist der an die Galater derjenige, der am wenigsten über die Stellung spricht: nichts über das gegenwärtige Teil und nur ein einziges Mal anspielend auf die Hoffnung des Gläubigen (Gal 5,5). Die Person Christi und sein Kreuz werden uns vorgestellt, denn darauf beruht alles, was die Grundlage des Christentums ist.
In den Eröffnungsversen wird in ungewohnter Weise das Verhältnis zu Gott, das die augenblickliche Haushaltung kennzeichnet, betont. In den ersten vier Versen wird dreimal der „Vater“ erwähnt, in keinem anderen Brief des Paulus finden wir dasselbe. In Galater 1,16 beschreibt der Apostel seine Bekehrung so, als habe Gott großes Wohlgefallen daran gefunden, [gerade] durch ihn „seinen SOHN zu offenbaren; und in Galater 2,20 sagt er: „Was ich aber jetzt lebe im Fleisch, lebe ich im Glauben, durch den19 an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat.“ Das kennzeichnete seinen Dienst, wie wir auch aus Apostelgeschichte 9,20 erfahren: „Und sogleich predigte er in den Synagogen Jesus, dass dieser der Sohn Gottes sei.“ In den ganzen ersten zwei Kapiteln [des Galaterbriefes] bestätigt er dies, indem er gegen den Judaismus argumentiert, der in Jerusalem am Wirken war und dem sogar Petrus erlag, als in Antiochien „einige von Jakobus“ [Gal 2,12] ankamen. Das heißt, [Paulus] bezeugte, dass das Christentum alles davor Gewesene ersetzte.
Wenn er in den folgenden vier Kapiteln auf die Gegenwart des [Heiligen] Geistes in dem Gläubigen zu sprechen kommt, dann besteht er auf das Klarste und in positiver Weise auf der umfänglichen Veränderung, die das KREUZ bewirkt hat. Bis zu diesem Zeitpunkt herrschte ein Zustand der Knechtschaft unter die Elemente der Welt, und das Gesetz war der Zuchtmeister: Die Sohnschaft war [noch] nicht geoffenbart, war unbekannt. Erst nach erfolgter Versöhnung wurde die Annahme in diesem Sinn [als Söhne Gottes] möglich20; und weiter heißt es: „Weil ihr aber Söhne seid, so hat Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen gesandt, der da ruft: Abba, Vater! Also bist du nicht mehr Knecht, sondern Sohn; wenn aber Sohn, so auch Erbe durch Gott“ (Gal 4,6.7).
Hier nun finden wir die volle Bestätigung der Wahrheit, die uns Johannes in Bezug auf das ewige Leben in seinem Evangelium vorstellt. Das Kreuz ist die Grundlage und der Anfang dessen, was uns – Juden wie Heiden – anbetrifft: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein“ [Joh 12,24]. „Adoption“ – das heißt Sohnschaft (die Beziehung des Sohnes zum Vater) – ist die Erklärung, die unser gelobter Herr in Bezug auf das ewige Leben gibt: „Leben im SOHN“. Und dass dies am Kreuz begann, ist die Lehre des Galaterbriefs. Im Rückblick das Gegenteil zu behaupten, würde bedeuten, die ganze Lehre des Galaterbriefs zu leugnen und dem Wirken der judaisierenden Lehrer Raum zu geben, gegen die der Apostel so hart stritt. „Denn wenn ich das, was ich abgebrochen habe, wieder aufbaue, so erweise ich mich selbst als Übertreter. Denn ich bin durch das Gesetz dem Gesetz gestorben,damit ich Gott lebe; ich bin mit dem Christus gekreuzigt, und nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir; was ich aber jetzt lebe im Fleisch, lebe ich durch Glauben, durch den an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat“ (Gal 2,18-20). Und Gott schenkt den Geist – „den Geist seines SOHNES“ [Gal 4,6] – allen, die Söhne sind, damit sie in bewusster Freude über diese Sohnschaft ausrufen mögen: „Abba, Vater!“
Das Kreuz war der Tod des religiösen Saulus, des eifersüchtigen Verfolgers der Gläubigen; es war der Fallstrick der Juden, eine Beleidigung für die judaisierenden Lehrer; doch obwohl Paulus dafür Verfolgung erlitt, war es seine Herrlichkeit – denn genau da fand er seine Erfüllung; dort war „sein Fleisch gekreuzigt“ worden, genau da war er von der Welt abgesondert worden (Gal 2,20; 3,1; 5,11; 5,24; 6,12; 6,14).21
Nicht so sehr der Tod Christi, gefolgt von seiner Auferstehung – wie er im Brief an die Römer vorgestellt wird –, steht hier [im Galaterbrief] im Vordergrund (denn dies wird mit Ausnahme der Eingangsverse nicht einmal erwähnt), sondern das Kreuz steht im Mittelpunkt der Wege Gottes mit den Menschen, indem es alles Vorherige zu Ende bringt und den Glauben an Christus22 einführt, durch den Gerechtigkeit kommt (Gal 2,16.21); und darauf beruht die Hoffnung (Gal 5,5) – eine Hoffnung, die wir durch den Geist besitzen –, denn „der Glaube wirkt durch die Liebe“ [Gal 5,6].
Das Gesetz ist absolut unkompatibel mit dem neuen Zustand der Dinge. Der Fluch des Gesetzes manifestierte sich am Kreuz, denn „er ist ein Fluch geworden für uns“ [Gal 3,13]; und dadurch öffnet sich die Segenstür sowohl für die Nationen als auch für die Juden (Gal 3,14), wie tatsächlich bereits angedeutet durch ebenjene Verheißung, die der Apostel aus 1. Mose 12,3 zitiert: Die Segnung kann jetzt nicht mehr allein einen jüdischen Charakter haben. „Die aus Glauben sind, diese sind Abrahams Söhne“ [Gal 3,7]. „Als aber die Fülle der Zeit gekommen war“, kam Christus, geboren unter Gesetz, „damit er die, die unter Gesetz waren, loskaufte, damit wir die Sohnschaft“ in Gerechtigkeit empfingen (Gal 4,1-5), denn wir alle waren „unter die Sünde eingeschlossen“ (Gal 3,22). Im Kreuz kommt auch die Macht des Gesetzes als Zuchtmeister an ihr Ende, die Knechtschaft wird beendet; wir stehen nicht länger „unter Gesetz“23, denn „ihr alle seid Söhne Gottes durch den Glauben an Christus Jesus“ (Gal 3,26); und jetzt drückt sich Christsein darin aus, dass wir „Christus angezogen haben“. Der Eintritt geschieht durch die Wasser des Todes, bildlich dargestellt in der Taufe (Gal 3,23-27), die die ganz persönliche, individuelle Anwendung des Kreuzes Christi darstellt: Der Glaube nimmt das so an. Das Leben, das mit mit dem Kreuz beginnt, ist gekennzeichnet durch den „Glauben an den Sohn Gottes“ und durch das Kreuzigen des Fleisches und der Welt, das sinngemäß [in der Taufe] geschieht. Der „Glaube wirkt durch die Liebe“ [Gal 5,6], und die Liebe, deren Gegenstand wir sind und die ihren Ausdruck im Kreuz findet, ist die moralische Kraft für unseren Wandel. Das kennzeichnet die „neue Schöpfung“ [2Kor 5,17] (vgl. Gal 5,5.6 und Gal 6,15). Der Heilige Geist gießt [all das] aus in unsere Herzen und schenkt den Seelen all derer, die nach dem Geist geboren sind, Freude an der Freiheit der Sohnschaft. „Wenn wir durch den Geist leben, so lasst uns auch durch den Geist wandeln“ (Gal 5,25). „In Christus Jesus“24 definiert die neue Stellung vor Gott, wo jeglicher Unterschied zwischen Juden und Nationen verschwindet (Gal 3,28).
Obgleich Paulus die Wahrheit bezüglich des Lebens in diesem Brief nicht entfaltet, entwickelt er sie in vielerlei Hinsicht in ähnlicher Weise wie Johannes, nicht jedoch bezüglich der Auswirkungen auf diejenigen, die [das Leben] besitzen. Stattdessen stellt er uns Christus als den Einen vor, in dem Gott uns eine völlig neue Stellung vor sich selbst geschenkt hat. Christus, der Gegenstand aller Verheißungen, ist der Eine, in dem wir jetzt Segen empfangen, Segen, der durch das Kreuz unser wird; denn dort wurde die Erlösung vollbracht, durch die wir „Christi“ wurden (Gal 3,29).
Anm. d. Übers.: Die Autorschaft des Paulus für den Hebräerbrief ist nicht sicher.
↩︎ 19
Anm. d. Red.: In der englischen Bibel heißt es: „Faith of the Son of God“. Dazu bemerkt Lowe: Ein sehr starker Ausdruck. Der christliche Glaube wird damit charakterisiert. Gegenstand des Glaubens ist der SOHN GOTTES (vgl. Gal 2,16).
↩︎ 20
Wir reden hier nicht von der „Adoption“ [oder Annahme] Israels [als Volk] (Röm 9,4), die eine ganz andere Sache ist, wie Galater 3,28 beweist: „Da ist nicht Jude noch Grieche.“ Die Erfüllung der Prophezeiungen ist im Galaterbrief überhaupt nicht das Thema, sondern [Thema ist] der Charakter des Evangeliums. Israel befindet sich „in Knechtschaft“ (Gal 4,25), und nicht nur das, sondern die Schrift sagt: „Stoße die Magd und ihren Sohn hinaus, denn der Sohn der Magd soll nicht erben mit dem Sohn der Freien“ [Gal 4,30].
↩︎ 21
Hier ist keineswegs eine Verbindung zu dem „stellvertretenden Opfer“ zu sehen, wie Grant auf Seite 19 [seiner Schrift] anzudeuten scheint.
↩︎ 22
Der Unterschied zwischen dem dritten Kapitel und dem vierten Kapitel des Römerbriefes sollte hier gut beachtet werden … er ist von höchstem Interesse. Die Betonung im Galaterbrief liegt auf dem GLAUBEN; und das Beispiel von Abraham ist wiederum abgeleitet von 1. Mose 15,6. Zweitens finden wir wie in Römer 4, wenn auch weitergehend entwickelt, die absolute Sicherheit, in Abhängigkeit von dem Einen, der sie uns verspricht, in Anlehnung an den vollendeten Gehorsam Abrahams, weshalb er folglich nicht [seinen Segen] durch das Versagen der schwachen Gesellschaft gegenüber dem Bündnis verlor, was unter dem Gesetzt der Fall war. Drittens ist es keine Frage der Art der Machtbezeugung Gottes, die letztlich die Grundlage des Glaubens ist, eingeführt durch das Prinzip der Auferstehung – wie in Römer 4 –, sondern die Tatsache, dass alle Verheißungen in der Person CHRISTI zentriert und uns in IHM geschenkt sind, so dass wir auch den [Heiligen] Geist empfangen können. Die Abschnitte, die aus der Geschichte Abrahams zitiert werden, stammen aus 1. Mose 12,3und zeigen das ganze Ausmaß des Segens (der alle Nationen betrifft) und aus 1. Mose 22,18, wo darauf hingewiesen wird, dass in dem Christus alles gut würde. Die beiden Abschnitte berichten von der ersten und letzten Unterhaltung Gottes mit Abraham.
Galater 4, wo uns der Sohn, geboren nach der Verheißung, vorgestellt wird, illustriert die Stellung und die Beziehung des Christen [zu Gott] in der Freiheit, zu der Christus uns freigemacht hat.
↩︎ 23
Das widerspricht im Prinzip der Theorie Grants in Bezug auf die Anwendbarkeit von Römer 7; aber [diese Theorie] wurde bereits von anderen zurückgewiesen, und somit will ich nicht weiter darüber reden. Das ganze System muss als der Phantasie entsprungen gelten und fällt angesichts des Galaterbriefs zu Boden. Die Schrift weist den Gedanken ab, dass die Gläubigen des Alten Testaments Leben „im Sohn“ hätten, da es bis dahin auch kein „Sein in Christus“ geben konnte, denn vor dem Kreuz gab es keine „Sohnschaft“. Dies zu einer Erkenntnisfrage zu machen, ist fragwürdig: Der Begriff existierte in Bezug auf den Menschen ganz einfach nicht. Sicher gab es ein Leben des Glaubens, aber dieses Leben im Glauben konnte nicht [im Sohn] sein, da die Offenbarung, auf der es gegründet ist, noch gar nicht geschehen war. Christus war noch nicht gekommen. Das LEBEN, das der Apostel lebte, war – wie er sagt – „durch den Glauben an den SOHN GOTTES, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat“ [Gal 2,20]. Das wird in den Schriften des Johannes entwickelt, wie wir gesehen haben. Grants System vermischt Judaismus und Christentum, indem er auf etwas andere Weise genau das tut, was die Galater taten. Und das ist eine ernste Sache, vor der wir uns hüten sollten.
↩︎ 24
Auf Seite 14 schreibt Grant: „‚Im Sohn‘ bedeutet ,Leben im Sohn‘, und entsprechend bedeutet ,in Christus‘ ,Leben in Christus‘.“ Jemand muss wirklich sehr von seinem System überzeugt sein, die Schrift auf diese Weise zu verdrehen und damit einfache und positive Aussagen zunichtezumachen.