Schriften von William Joseph Lowe
Das „ewige Leben“ - Der Begriff „Leben“
Joh 3,36; 4,14 – Ewiges Leben: Das „ewige Leben“ in den Evangelien (1)
Offenbarung und Beziehungen [zwischen Gott und Menschen] in verschiedenen HaushaltungenOffenbarung und Beziehungen [zwischen Gott und Menschen] in verschiedenen Haushaltungen
Wenn die Wahrheiten der Schrift in ein System oder Muster gepresst werden, werden ihre lebenswichtige Spannkraft sowie die göttliche Anwendung zum Nutzen der Seele zerstört. Jedes System muss auf der einen oder anderen Seite irren. Der Wunsch, unterschiedliche Haushaltungen und Beziehungen zu Gott zu begreifen und der menschlichen Intelligenz anzupassen, reduziert den Begriff „Leben“ auf ein einziges Modell und trennt notwendigerweise die Kenntnis der Beziehung von ihrer eigentlichen Bedeutung; denn die Beziehung zu Gott variiert in den verschiedenen Haushaltungen, wohingegen es das Leben – je nach System – nicht tut. Das ist das System von Grant; und er untermauert das, indem er jede Alternative verwirft und sich darauf festlegt, dass in dem Begriff „Leben“ alles Wissen enthalten sei. Die Folge davon ist, dass die notwendigen Übungen der Seele durch Gottes Wort gemindert oder gar verhindert werden.
Aber warum überhaupt ein System konstruieren? Keiner dieser Wege entspricht dem Weg des Glaubens: Im ersten Fall reduziere ich das Wort Gottes auf die Größenverhältnisse meiner eigenen schwachen Wahrnehmungsfähigkeit; im zweiten Fall bin ich davon überzeugt, dass ich etwas erreicht habe, von dem ich in Wirklichkeit nichts weiß. Die praktischen Ergebnisse der Heiligungslehre Wesleys sind ein schlagender Beweis: Jemand, dessen Gewissen in Bezug auf Sünde zart ist, verbringt sein Leben in Ungewissheit und Zweifeln, weil er fühlt, dass er „Vollkommenheit“ nicht erreicht hat, wohingegen derjenige, der selbst davon überzeugt ist, dass er diese Vollkommenheit erreicht habe, leichtfertig mit Sünde umgeht, die er – im Widerstreit von Lehre und Gewissen – wegzuerklären oder zu leugnen gezwungen ist.
Das Wort Gottes ist lebendig, und wenn wir zu diesem Wort kommen, entdecken wir augenblicklich, wie unser Zustand ist, in einer Weise, wie unsere bloßen eigenen Gefühle ihn uns niemals zeigen würden; und das Mittel, das Gott vorgesehen hat, macht uns nicht nur frei, sondern versetzt uns in einen neuen Zustand, wobei allein der Zustand, aus dem Er uns herausgebracht hat, von uns wirklich eingeschätzt werden kann. In der Umarmung des Vaters erkannte der verlorene Sohn die Liebe im Vaterherzen und gleichzeitig seine eigene Schlechtigkeit; im Haus des Vaters, sitzend an seinem Tisch, erkannte er die Tiefe der Erniedrigung und des Mangels, in die er in jenem fernen Land geraten war.
Das Wort Gottes beurteilt mich; es befähigt mich, die Bewegungen der Seele zu entdecken und dadurch herauszufinden, was meine Gedanken, Gefühle und Neigungen aus Gottes Sicht sind; und indem ich mich mit Christus beschäftige, verwandelt der Heilige Geist mich in sein Bild und gibt mir Gedanken, Gefühle und Neigungen ganz neuer Art. Ich lerne, mit mir selbst und mit allem, was aus mir ist, Schluss zu machen und volle Genüge in der Sehnsucht nach einer göttlichen Natur in Christus zu finden; fortan ist Er der Gegenstand meines Herzens. Auf diese Weise werde ich durch das Wort gereinigt und wachse ich in der Erkenntnis Gottes (Kol 1,10). Dennoch wird das Absterben meiner Glieder, das damit verbunden ist, ein rebellisches Herz in mir wecken, was die Verhinderung geistlichen Wachstums zur Folge hat. Die Schrift kann dem jedoch mit lebendiger Kraft entgegentreten. Was aber, wenn die Schrift praktisch durch ein System ersetzt wird, das zu meinem schwachen Zustand passt? Verliere ich dann nicht die Kraft, die Gott mir für Wachstum und Selbstgericht zur Verfügung stellt, was unweigerlich Weltförmigkeit zur Folge haben wird?
Kürzlich hat jemand, der mit J.J.S. signiert, versucht, Grants Theorie zu stützen, indem er behauptete:
Johannes 3,36 beweise klar, dass es nur die Wahl gebe zwischen ewigem Leben und dem Zorn Gottes.
Johannes 6,53 beweise, dass es entweder ewiges Leben oder gar kein Leben gebe.
Natürlich geschieht dies jetzt infolge der Zurückweisung des in Gnade auf dieser Erde geoffenbarten Sohns. Aber was sagt die Schrift? Derartige Argumente beweisen nur, wie das „Bild gesunder Worte“ nach der Schrift bereits aufgegeben wurde; und das ist die direkte Folge, wenn man Grants System in sich aufsaugt. Hängt denn wirklich nichts davon ab, wie Gott entschieden hat, sich selbst in den unterschiedlichen Haushaltungen zu offenbaren? Und ist das Leben im Glauben an die Offenbarung in seinem Charakter und in seinen Auswirkungen immer genau dasselbe – ungeachtet des Unterschieds in der gemachten Offenbarung? Wenn ich sage, dass das Leben einer Pflanze nicht dasselbe ist wie das Leben eines Tieres, behaupte ich dann, dass die Pflanze leblos ist? Oder, noch einmal: Indem ich sage, dass ein Tier nicht das Leben eines Menschen besitzt, streite ich damit etwa gegen die Schrift, die beide „lebendige Seelen“ nennt? Und so können wir schlussfolgern: Wenn wir verschiedene Arten geistlichen Lebens in verschiedenen „Familien“ im Himmel und auf der Erde finden, die der Vater so benannt hat, können wir dann [ernsthaft] behaupten, dass es zwischen diesen keine Unterschiede gibt?
Es ist traurig, wenn auch nicht überraschend, dass in der letzten kurzen und von Grant selbst herausgegebenen Schrift die Unterschiede zwischen dem Begriff „ewiges Leben“, wie er in den synoptischen Evangelien benutzt wird, und dessen [abweichendem]1 Gebrauch bei Johannes völlig ignoriert wird. Der Begriff „ewiges Leben“ wird in Wahrheit auf dessen unendliche Dauer beschränkt, kaschiert durch die Aussage, es sei „göttlich“. Von Gläubigen, die gewohnt sind, die Schrift zu lesen, sollte man erwarten, dass sie diese oberflächliche und erniedrigende Darstellung der Wahrheit spontan zurückweisen. Hat etwa Johannes 6,57 seine Bedeutung für unsere Seelen verloren? Unser gütiger Herr sagt dort: „Wie der lebendige Vater mich gesandt hat und ich lebe des Vaters wegen, so auch, wer mich isst, der wird auch leben meinetwegen.“ Ich würde mir wünschen, dass dies der Hauptpunkt der Wahrheit ist, auf dem zu bestehen ist. Er lebte in seiner eigenen göttlichen Natur, indem Er den Vater hier auf der Erde offenbarte – Er lebte aus dem, was der Vater ist, und wegen seines Lebens. Wir müssen essen, um zu leben, wir müssen uns von Ihm ernähren.
Aber da ist noch mehr als das. Gott hatte es nicht nötig, seinen Sohn zu senden, um sich selbst als der Allmächtige, als Jahwe, zu offenbaren. Als es Ihm gefiel, als Vater bekanntzuwerden, sandte Er seinen Sohn: Niemand anders als der Sohn konnte den Vater bekanntmachen. Und dies ist das Leben, auf dem unser Christsein beruht. Das Leben der alttestamentlichen Gläubigen, so gesegnet es in der Gemeinschaft mit Gott sein mochte und so nicht endend es sein wird, ist – bei aller größeren Freude über Gott – nicht dasselbe. Der vom lebendigen Vater gesandte Sohn lebt bei Ihm und offenbart uns den Vater, weil Er der Sohn ist. Wir ernähren uns von Ihm; und durch Ihn haben wir Leben. Durch Ihn erfahren wir, wer und was der Vater ist; und nur so können wir das erfahren. Das ist Christsein. „Keiner hat Gott jemals gesehen“; aber der Eine, der Ihn jetzt offenbart, ist der „eingeborene Sohn, der in des Vaters Schoß ist“; und Er spricht: „Wir reden, was wir wissen, und bezeugen, was wir gesehen haben“ (Joh 3,11). Und außerdem sagt Er: „Und ich weiß, dass sein Gebot ewiges Leben ist. Was ich nun rede, rede ich so, wie mir der Vater gesagt hat“ (Joh 12,50).2
In [eckige] Klammern gesetzte Worte und Stellenangaben wurden vom Übersetzer eingefügt. Bibelzitate nach der revidierten Elberfelder Übersetzung (Edition 2006).
↩︎ 2
Life and Propitiation …, S. 91–94.