Behandelter Abschnitt Joh 4,1-54
Im 4. Kapitel ist Johannes der Täufer abgetreten und es bleibt nur der Dienst des Sohnes. Alles liegt jetzt in Seiner Hand allein, und demgemäß geht Er einfach weiter als der Sohn Gottes, der Heiland der Welt. Er erscheint hier vor uns als der von Israel Verworfene (Kap. 4, 1), der jetzt Judäa, den Platz der Gerechtigkeit, einfach als Heiland der Sünder verlässt. In diesem Charakter weitergehend, muss Er notwendigerweise durch einen unreinen Ort ziehen und in Seinem Wandeln unter uns bitteren Schmerz und Müdigkeit erfahren, wovon wir nun ein Beispiel vor uns haben.
In konsequenter Rechtschaffenheit lehnten die Juden jeden Verkehr mit den Samaritern ab, und es entsprach ihrer Berufung zu sagen: „Es ist unerlaubt für einen jüdischen Mann, sich einem Fremden anzuschließen oder zu ihm zu kommen.“ Denn das war ein Zeugnis gegen das Böse, und gerade dieses Zeugnis hatte der Herr Israel in Wahrheit anvertraut, Sie sollten Gottes Zeugen gegen die Welt sein, als Reine abgesondert von den Unreinen, zu einem Zeugnis für die Gerechtigkeit Gottes gegenüber einer verderbten Welt. Aber Jesus stand jetzt fernab von Israel. Er hatte Judäa, den Platz der Gerechtigkeit, verlassen und befand sich als der Sohn Gottes, der Heiland der Sünder, in dem unreinen Samaria. Er war bereits nach Judäa gegangen, um Gerechtigkeit zu suchen, diese eigentliche Frucht jenes Landes, aber Er hatte sie nicht gefunden. Er suchte sie jetzt nicht in Samaria, sondern Er musste hier einen gänzlich anderen Weg einschlagen, den Weg reiner Gnade. Und in dem Bewusstsein, dass Er nur in Gnade hier war, als Heiland der Sünder, wendet Er sich zu einer Frau, die gekommen war, um an der Quelle von Sichar Wasser zu schöpfen.
Von Anfang an gab es ein göttliches Geheimnis, das jenseits aller geoffenbarten Forderungen und gerechten Vorschriften lag, die in Judäa aufgerichtet worden waren: „Gnade“ und „die Gabe aus Gnade“. Der Jude mochte Ihm ein Zeugnis der Gerechtigkeit gegen die Welt zugebilligt haben, aber der Sohn Gottes war die Gabe Gottes für die Welt und beauftragt, der Welt das Leben zu bringen. „Das Gesetz wurde durch Mose gegeben; die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden.“ Und in dem Bewusstsein, dass Er dieses Geheimnis der Gnade in sich trug, sagte Er zu der Frau: „Gib mir zu trinken!“ Sie wunderte sich sehr, dass Er als Jude nicht Abstand von ihr wahrte. Freilich wusste sie noch nicht, dass das Geheimnis Gottes bei Ihm war. Dies sollte jedoch bald offenbar werden. Die Herrlichkeit stand im Begriff, diesen unreinen Platz zu erfüllen. Der Herr, Gott, nimmt jetzt Seinen Platz nicht in Gerechtigkeit auf dem brennenden Berg ein, sondern als Herr des Lebens an der Quelle des Stromes des Lebens, bereit, von seinen Wassern zu spenden.
Welch ein Segen bereitete sich für diese arme Ausgestoßene vor! Niemand anders als eine Ausgestoßene konnte diesen Segen erfahren. Aber sie musste auch erfahren, dass die Quelle dieses Segens nicht in ihr selbst lag Dies lernt die Samariterin. Sie wird dahin gebracht, sich selbst kennen zu lernen und alle die Dinge zu sehen, die sie je getan hatte; sie sieht, dass ihr nur eine Wüste und ein Land der Finsternis bleibt. Ihr Gewissen ist getroffen. „Der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann.“ Aber wenn auch ringsumher eine Wüste und Finsternis war, so war doch der Sohn Gottes bei ihr. Einen solchen Segen konnte eine Ausgestoßene wie sie nur in der Wüste kennen lernen. Dem ausgestoßenen Jakob, der nur die Steine des Ortes als Kopfkissen hatte, wurde der Himmel geöffnet, und Gott offenbarte sich in völliger Gnade und Herrlichkeit. Hier war es so mit der Tochter Jakobs. Der Herr öffnete wiederum den Felsen in der Wüste, und die Lade Gottes war von neuem inmitten der Wüste aufgerichtet. Der Herr sprach mit der unreinen Samariterin von dem Wasser des Lebens, und die Freude und Kraft der Liebe Gottes offenbaren sich ihr nun. Sie dachte nicht mehr an ihren Wasserkrug, sondern ihr Geist und ihre Lippen sind erfüllt mit einem Zeugnis für Seinen Namen.
Das ist göttlich groß, Geliebte! Eine arme Samariterin, welche die Gerechtigkeit auf einen unreinen Platz verwiesen hatte, wird das Musterbeispiel der Wirksamkeit Jesu und sie wird in die Geheimnisse und das Vertrauen des Sohnes Gottes eingeführt. Gerade ihre Stellung und ihr Charakter als Sünderin ist es, der sie Ihm in den Weg führt, denn nur der Sünder begegnet dem Heiland. Welches Leid und welchen Kummer uns der Eintritt der Sünde in die Welt auch immer verursacht haben und auch noch verursachen mag, Geliebte, ohne die Sünde hätten wir unseren Gott nicht so kennen gelernt, wie wir Ihn jetzt besitzen, einen Gott, der die Schatzkammer Seiner Liebe öffnet und uns von dort Seinen Sohn gibt.
Die Jünger wunderten sich bei ihrer Rückkehr ebenso wie die Frau, dass Jesus nicht den Abstand des Juden von ihr gewahrt hatte, doch waren sie sich der Gegenwart der Herrlichkeit, die über ihnen war, bewusst, denn niemand sagte: „Was suchst du?“ oder „was redest du mit ihr?“ Sie kannten bis jetzt noch nicht das Geheimnis des Sohnes Gottes. Dann zeigte Er ihnen Felder, die schon weiß zur Ernte waren und die ihr Glaube niemals erblickt hatte. Sie kannten keine anderen Felder als die, die vor alters unter den zwölf Stämmen aufgeteilt worden waren. In ihren Augen musste Gottes Ackerland auf jene heiligen Grenzen beschränkt bleiben. Samaria, so urteilten sie, lag jedoch außerhalb davon und war nur ein unreiner Platz. Aber es gab, wie wir schon sahen, ein göttliches Geheimnis. Der Sohn Gottes, der Heiland der Sünder, ging jetzt als Sämann aus, und Seine mühevolle Arbeit hatte auf dem entweihten Gebiet Samarias eine Ernte für die Schnitter vorbereitet8.
Der Herr zeigt Seinen Jüngern eine gerade aus Sichar kommende Schar, die bald sagen wird: „Dieser ist wahrhaftig der Heiland der Welt“, und die so reif wurde für die Sichel. Die Ernte in Judäa war groß (Mt 9,33), aber in Samaria war sie reif für die Schnitter. Der Herr hatte die Arbeit des Sämanns getan, Er hatte mit der Frau gesprochen, müde und erschöpft wie Er war. Mit Seinen Jüngern aber wollte Er jetzt die Freude der Ernte teilen. Und zum Zeichen hierfür bleibt Er zwei Tage bei dieser kleinen Schar in Sichar, die Ihm glaubt und Ihn als Heiland der Welt anerkennt.
Es ist höchst gesegnet zu sehen, in welche innige Verbindung mit sich selbst der Herr die Seele bringt, und mit welcher Vertraulichkeit Er das Herz des gläubigen Sünders umgibt. Er handelt mit uns nicht wie ein Gönner oder Wohltäter. Die Welt ist voll von jenem Grundsatz: „Die Gewalt über sie üben, werden Wohltäter genannt“ (Lk 22,25). Der Mensch ist nur zu gern geneigt, Wohltaten in gönnerhafter Weise zu erweisen, indem er dabei den zurückhaltenden Platz einer bewussten und zugestandenen Überlegenheit einnimmt. Aber so handelt der Herr Jesus nicht; Er kann sagen: „Nicht wie die Welt gibt, gebe ich euch.“ Er bringt den von Ihm Abhängigen ganz in Seine Nähe, und Er lässt ihn wissen und fühlen, dass Er eher wie ein Blutsverwandter als wie ein Gönner an ihm handelt. Das macht den ganzen Unterschied aus, und ich bin so kühn zu behaupten, dass der Himmel von diesem Unterschied abhängt. Der Himmel, den die Seele erwartet und im Geist jetzt schon schmeckt, ist abhängig davon, dass der Herr Jesus mit uns nicht nach dem Grundsatz eines Wohltäters handelt. Der Himmel wäre dann nur eine wohlgeordnete Welt menschlicher Grundsätze und Mildtätigkeiten. Und was wäre das! Ist es die Herablassung eines Großen der Welt, die wir in Christo sehen? „Ich aber bin in eurer Mitte wie der Dienende“, sagt Er. Jede Begebenheit berichtet davon. Er hatte nicht die Art eines Wohltäters, noch kannte Er die Reserviertheit und Selbsterhebung eines Gönners. Er hat unsere Leiden getragen, und unsere Schmerzen hat Er auf sich geladen.
Schauen wir noch einmal auf Ihn, wie Er mit der samaritischen Frau an der Quelle saß! Sie hatte in diesem Augenblick sehr erhabene Gedanken über Ihn. „Ich weiß, dass der Messias kommt, der Christus genannt wird; wenn er kommt, wird er uns alles verkündigen.“ Dies war ihre hohe und richtige Meinung von dem Messias. Sie wusste aber nicht, dass Er, mit dem sie von Angesicht zu Angesicht sprach, Der war, der unmittelbar darauf zu ihr sagen konnte: „Ich bin es, der mit dir redet.“ Aber wo war der erhabene Christus in der ganzen Zeit? Am Rand der Quelle saß Er und redete mit ihr, seit Er dort mit ihr zusammengetroffen war, und sagte zu ihr: „Gib mir zu trinken“, um ihr in Seiner Gegenwart Ungezwungenheit zu geben.
War dies Gönnerhaftigkeit nach Menschenweise? War das die kühle Herablassung eines Hochgestellten? War es Himmel oder Welt, Gott oder Mensch? Die Herablassung der Welt wird dir jede gewünschte Gunst erweisen, aber sie will ihre Stellung der Überlegenheit und die Zurückhaltung des Abhängigen respektiert und aufrechterhalten wissen. Die himmlische Liebe handelt nicht so, gepriesen sei Gott dafür! Jesus, Gott geoffenbart im Fleisch, erzeigte sich wie ein Blutsverwandter denen gegenüber, denen Er Freundlichkeit erwies, und als solcher handelte Er auch, nicht wie ein Wohltäter. Er sucht uns nahe zu Sich zu bringen und unsere Herzen mit Ruhe und Vertrauen zu erfüllen. Er besucht uns, nein, Er kommt vielmehr auf unsere Einladung hin zu uns, wie Er zwei Tage bei den Samaritern blieb, die auf den Bericht der Frau hin herauskamen und Seine Gemeinschaft suchten. Er erbittet einen Gefallen von uns, damit wir Seine Gunst ohne Zurückhaltung aus Seiner Hand annehmen. Er will aus unserem Wasserkrug trinken, um uns zu ermuntern, aus Seinen Quellen zu trinken. Er isst von unserem Kalb am Eingang des Zeltes, während Er uns ewige Geheimnisse offenbart (1Mo 18; Joh 4).
Sicherlich freuen sich unsere Herzen darüber. Aber auch Sein Herz freut sich auf diesem Seinem Weg der Liebe, denn diese zwei Tage in Sichar waren für Ihn ein wenig Erntefreude. Sie bedeuteten eine Erquickung aus unserer Hand für den ermüdeten Sohn Gottes auf dieser Erde. Hier fand Er etwas von dem strahlendsten Glauben, dem Er je auf der Erde begegnete. Und es war allein der Glaube von Sündern, der Ihn hier erquicken konnte. Nichts im Menschen vermochte dies zu tun als nur der Glaube, der den Menschen leer macht von sich selbst.
Aber diese Freude dauerte nur zwei Tage. Schnell wird Er wieder in niedrigeren Regionen herabgezogen. Denn nach zwei Tagen zieht Er nach Galiläa und kommt wieder in Verbindung mit dem Judentum. Und Er geht mit dieser traurigen Voraussage, dass ein Prophet in dem eigenen Vaterland keine Ehre hat. Er musste dies mit wachsendem Schmerz umso mehr fühlen, als Er gerade die Freiheit unter den Sündern von Samaria erfahren hatte. Seine Voraussage bewahrheitete sich. Er fand wohl Glauben in Galiläa, das ist wahr, aber Glauben von niedriger Natur. Die Galiläer nahmen Ihn auf, weil „sie alles gesehen, was er in Jerusalem auf dem Fest getan hatte“. Der königliche Beamte und sein Haus glaubten, aber nicht eher, als bis sie sich durch eigene Beweise überzeugt hatten. Die Leute von Sichar hatten Ihm selbst geglaubt, die Galiläer glaubten Ihm jetzt um der Werke willen (S. Joh 14,11). Die Samariter kannten Ihn persönlich, die Juden fordern jetzt gleichsam wieder ein Zeichen. Die einen kamen dementsprechend in Gemeinschaft mit dem Sohn Gottes, die anderen empfangen Gesundheit durch den Arzt Israels. Das verachtete Samaria steht bezüglich des Segens vor dem gerechten Juda.
Hiermit schließt der erste Abschnitt unseres Evangeliums. Er führte uns auf die Wege des Sohnes Gottes, des Sohnes des Vaters, durch diese böse Welt. Zu Beginn sahen wir Seine Herrlichkeit und fanden, dass sie in dem Augenblick, als sie in die Welt hineinstrahlte, die Finsternis der Welt bewies. Aber sie fand keine Antwort von Seiten des Menschen. Die Welt, die Er geschaffen hatte, kannte Ihn nicht. Aber Er trug ein Geheimnis mit sich, das Geheimnis der Gnade Gottes für Sünder, das tiefer war als alle menschlichen Gedanken. Er war ein Fremdling auf der Erde, aber die Offenbarung Seines Geheimnisses an die Sünder bewirkte, dass auch sie mit Ihm Fremdlinge wurden.
8 Ich möchte bemerken, dass der Herr Seine Worte über die Anbetung, zu welchen die Frau Ihn veranlasste, in Seinem Charakter als Sohn spricht. Die Frau wendet sich an Ihn als an einen Juden, aber Er antwortet ihr nicht als Jude. Vielmehr sagt Er ihr, dass alle jüdische Anbetung jetzt endete. In dem Bewusstsein, dass der Sohn jetzt gekommen war, belehrt Er sie, dass jetzt die Stunde gekommen sei, wo alle wahre Anbetung im Geist der Sohnschaft geschehen müsse, denn es war der Vater der jetzt Anbetung beanspruchte. Die ganze Antwort Jesu bringt zum Ausdruck, dass Er sich nicht als der Sohn Davids an die Frau wandte, der gekommen war, um den Tempel zu reinigen und die von „diesem Berg“ abgefallenen Samariter zurückzubringen, sondern als der Sohn, der gekommen war, um den Sündern durch einen Geist den Zugang zu dem Vater zu verschaffen.↩︎