Behandelter Abschnitt Joh 3,1-36
Die Notwendigkeit, von neuem (oder von oben) geboren zu werden oder, wie es gewöhnlich ausgedrückt wird, der Wiedergeburt wird unter den Heiligen gut verstanden und anerkannt. Aber ist die neue Geburt nicht viel einfacher und verschieden von dem, was man allgemein annimmt? Ich glaube es. Denn die Lehre von der Wiedergeburt ruft im Allgemeinen die Vorstellung von etwas Fremdem und Ungewissem hervor. Aber das braucht nicht so zu sein.
Nikodemus kam wie ein Schüler zu Jesus. „Wir wissen, dass du ein Lehrer bist, von Gott gekommen“, sagt er, worauf der Herr ihm sofort antwortet, er müsse von neuem geboren werden. Doch beendet Er Seine Worte nicht, ohne ihn auf die eherne Schlange hingewiesen und ihn belehrt zu haben, dass er dort sozusagen den Samen des notwendigen neuen Lebens sammeln müsse.
In welchem Charakter musste er seinen Platz dort einnehmen und auf den am Kreuz erhöhten Sohn des Menschen schauen? Einfach als ein Sünder, ein überführter Sünder, der, wie der gebissene Israelit, das Urteil des Todes in sich trug. Als einen solchen Nikodemus musste er sich noch kennen lernen, denn als er zu Jesus kam, war dies nicht der Fall. Deshalb musste er seinen Weg von neuem beginnen, er „musste von neuem geboren werden“ und Jesus auf einem neuen Weg und in einem neuen Charakter ergreifen. Er beurteilte sich selbst als Schüler und Jesus als von Gott gekommenen Lehrer. Aber dass er ein toter Sünder oder ein von der alten Schlange Gebissener, und dass der Sohn Gottes ein lebendig machender Geist, ein rechtfertigender Erlöser war, verstand er noch nicht. Der Grund seines Herzens hatte den Samen des Lebens noch nicht aufgenommen.
Der Charakter sowie die Notwendigkeit dieses Lebens, des ewigen Lebens, dieser göttlichen Natur in uns, wird auf diese Weise denkbar einfach erklärt. Das Geheimnis liegt darin, dass man den Herrn Jesus, den Sohn Gottes, als seinen Heiland kennen lernt, dass man zu Ihm als ein überführter Sünder kommt und Ihn in dem Charakter schaut, den die eherne Schlange für den gebissenen Israeliten hatte. Es ist lieblich, den in anderen Teilen dieses Evangeliums angedeuteten weiteren Weg des Nikodemus von diesem Augenblick an zu verfolgen.
Wie wir gesehen haben, hatte er bisher seinen Weg falsch verstanden, aber obwohl dies seinen Weg verlängerte, erwies er sich durch die Richtung, die Jesus ihm gab, am Ende doch als der allein richtige und sichere. Denn bei der nächsten Gelegenheit sehen wir ihn in Gegenwart des Rates für Jesus eintreten und etwas von der Schmach des verworfenen Galiläers auf sich nehmen (Joh 7). Und am Schluss steht er da, wohin ihn der Herr am Anfang des Weges gewiesen hatte: zu den Füßen dieser ehernen Schlange. Er schaut zu dem am Kreuz erhöhten Sohn des Menschen auf. Er geht zu Jesus, nicht wie ein Schüler zum Lehrer, sondern er bekennt sich zu Ihm, dem geschlagenen, zerschlagenen und verwundeten Lamm Gottes, und ehrt Ihn, nicht länger bei Nacht oder bloß in Gegenwart des Rates, sondern im hellen Licht des Tages und vor aller Welt (Joh 19).
Auf diese Weise erkennen wir den Charakter dieses neuen Lebens ebenso einfach, wie wir das Bedürfnis danach kennen lernen. Wir entdecken den Samen, der es hervorbringt. Die göttliche Kraft, der Heilige Geist, der alles in eigener Machtvollkommenheit lenkt, wirkt in einer Weise, die unser Denken übersteigt. Wir kennen weder den Weg des Windes noch des Geistes, aber die Natur des Samens, den Er benutzt, und des Bodens, in den Er ihn hineinwirft, ist uns bekannt. Das eine ist das Wort des Heils und das andere die Seele eines überführten Sünders.
Dieses Leben, das durch die Familie Gottes flutet, ist Geist, weil Jesus, der zweite Mensch, das Haupt dieser Familie, ein lebendig machender Geist ist, und weil das, was aus dem Geist geboren ist, Geist ist, wie unser Herr hier lehrt. Das ist unser neues Leben. Es ist ewiges, untrügliches Leben, beständig und siegreich über alle Macht des Todes, ob es sich nun in dem Haupt oder in den Gliedern des Leibes regt. Unser göttlicher Lehrer sagt weiter: „Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, so kann er nicht in das Reich Gottes eingehen.“ Der Eingang ins Reich ist nur für Wiedergeborene, für gerechtfertigte Sünder, die durch das Wort des Heils lebendig gemacht wurden. In diesem Reich gibt es keine Rechtschaffenen, keine Weisen, keine Reichen, niemanden, der auf Fleisch vertraut oder dergleichen.
Das ist eine fest gegründete, entscheidende, aber auch tröstliche Wahrheit, zur Freude und Befestigung unserer Herzen. Es ist eine ernste, aber auch tröstliche Tatsache. Es ist sehr köstlich, dass das Wort: „Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, so kann er nicht in das Reich Gottes eingehen“, uns ebenso klar wissen lässt, dass wir das Reich sehen werden, wenn wir von neuem geboren sind. Kein Betrug, keine menschliche oder teuflische Macht vermag uns dies vorzuenthalten. Wenn wir den Platz eines überführten Sünders einnehmen (zweifellos vom Vater durch die geheimnisvolle Kraft des Heiligen Geistes gezogen), und wenn wir das Wort des Heils von dem Sohn Gottes annehmen, indem wir, wie die gebissenen Israeliten, zu der erhöhten Schlange aufschauen, haben wir das Reich schon betreten; wir erfreuen uns jetzt des Lebens, und die Herrlichkeit wird unser künftiges Teil sein. Das Lied, das wir dann singen werden, wird durch die Ewigkeit des Himmels widerhallen, und das Verständnis, das wir dann von Jesus und Seinem Rettungswerk erlangen, wird in der Sphäre kommender Herrlichkeit noch größer sein. Wir haben ewiges Leben und die Grundsätze des Himmels in uns.
Aber kehren wir für einen Augenblick zu Nikodemus zurück. Als der Herr ihm so den Samen des neuen Lebens enthüllt hatte, suchte Er auch das Samenkorn bei ihm in den Boden zu säen, der allein Frucht verheißt, nämlich in das Gewissen. Nikodemus war bei Nacht zu dem Herrn gekommen, als könnten seine Werke das Licht nicht ertragen, und der Herr versucht, wie es scheint, gerade an diesem Punkt sein Gewissen zu erreichen, denn Er sagt: „Jeder, der Böses tut, hasst das Licht und kommt nicht zu dem Licht, damit seine Werke nicht bloßgestellt werden.“
So lehrt unser Herr die Notwendigkeit der neuen Geburt durch das Wort des Heils. Ohne die Wiedergeburt kann Gott dem Menschen nicht vertrauen; ohne sie konnte das Reich Gottes weder gesehen noch betreten werden. Welche Beziehung hatte zum Beispiel der ältere Bruder in Lukas 15 zu dem, was die besondere Freude des Vaterhauses ausmachte? Keine! Er hatte nicht einmal ein Böcklein, um mit seinen Freunden fröhlich zu sein. Niemand anders als der zurückgekehrte verlorene Sohn konnte dem Vater den Ring, das beste Kleid und das gemästete Kalb entlocken. So können auch nur erlöste Sünder die Freude des Reiches ergreifen oder irgendeinen Platz darin haben. Alle sind dort „neue Schöpfungen“, Personen von einer Art, wie es sie in der ersten Schöpfung nicht gab. Adam war in Unschuld erschaffen worden, aber alle Menschen im Reich sind bluterkaufte Sünder.
Alle Dinge darin sind mit Blut versöhnt, wie geschrieben steht: „. . . durch ihn alle Dinge mit sich zu versöhnen - indem er Frieden gemacht hat durch das Blut seines Kreuzes -, durch ihn, es seien die Dinge auf der Erde oder die Dinge in den Himmeln.“
Nachdem der Herr so mit Nikodemus die Frage erörtert hat, wie der Mensch ins Reich eingehen kann, versieht Er in Vers 22 für eine kurze Zeit einen Dienst in Judäa als Diener der Beschneidung. Doch geschieht dies nur für einen Augenblick, denn es würde mit dem allgemeinen Charakter dieses Evangeliums, in welchem der Herr, wie wir gesehen haben, außerhalb der Beziehungen zum Judentum steht, nicht in Einklang stehen, wenn es sich mit solchen Dingen aufhielte. Im nächsten Vers finden wir dasselbe (V. 23-24.) Der Täufer wird in Verbindung mit Israel gesehen, aber auch nur für einen kurzen Augenblick, und, wie es scheint, auch nur, um ihm Gelegenheit zu geben, durch den Heiligen Geist Zeugnis von Jesus abzulegen, aber durchaus nicht in Seiner jüdischen Herrlichkeit, sondern in höheren Ehren und lieblicheren Freuden, als sie Christus je als Sohn Davids hätte erfahren können (V. 23-36).
Hierbei möchte ich mich indessen ein wenig aufhalten, denn es scheint mir eine Angelegenheit von großem sittlichem Wert zu sein. Johannes kommt hier in dieselbe Versuchung, wie Mose in 4. Mose 11 und Paulus in 1. Korinther 3. Josua, der Diener Moses, war seines Herrn wegen neidisch auf Eldad und Medad, die im Lager weissagten. Aber Mose wies ihn zurecht, und das nicht nur mit Worten, sondern auch mit der Tat, denn er ging sofort ins Lager, augenscheinlich um sich zu freuen und Nutzen aus der Gabe und dem Dienst der beiden zu haben, auf die der Geist Gottes gerade gefallen war. Das war ein schöner Zug dieses teuren Mannes Gottes. Kein Neid, keine Eifersucht befleckte sein Herz oder beunruhigte den Gleichmut seiner Seele. Obwohl er selbst ein Gefäß war, das mit den Gaben des Geistes sehr reich ausgestattet war, wollte er doch noch durch irgendein anderes, wenn auch geringeres Gefäß mit Dankbarkeit und Bereitwilligkeit des Herzens Segen empfangen.
In späteren Tagen war Paulus berufen, dieselbe Prüfung zu bestehen. Unter den Heiligen in Korinth waren Rivalitäten entstanden; einer sagte: „Ich bin des Paulus“ und der andere: „Ich bin des Apollos.“ Und wie begegnete Paulus dem? Triumphierte er am Tag der Versuchung, wie Mose triumphiert hatte? Ja, doch mit einer anderen Waffe. Mit starker Hand und heißem Herzen bricht er jedes Gefäß in Stücke, damit Der, welcher alle Gefäße füllt, und Er allein, alles Lob erhalte. „Wer ist denn Apollos, und wer Paulus?“, sagt er. „Also ist weder der da pflanzt etwas, noch der da begießt, sondern Gott, der das Wachstum gibt.“ Dies war ein Sieg in einer ähnlich bösen Stunde, wenn auch in anderer Form und mit anderen Mitteln.
Wie sollen wir nun Johannes beurteilen? Er gerät hier in dieselbe Versuchung. Seine Jünger sind seinetwegen neidisch auf Jesum. Aber wie Mose und Paulus besteht er an dem bösen Tag, obwohl in einer etwas anderen Haltung. Er kann nicht wie Paulus die Gefäße, seine Gefährten, in Stücke brechen; er kann nicht sagen: „Wer ist denn Johannes, wer Jesus?“, wie Paulus sagt: „Wer ist denn Apollos, und wer Paulus?“ Er konnte mit dem Namen Jesus nicht umgehen wie Paulus mit dem Namen des Apollos. Aber er zerbricht eines der beiden Gefäße vor den Augen seiner ihm in Liebe ergebenen Jünger, und zwar sich selbst. Er zeichnet Jesus, auf den sie seinethalben eifersüchtig waren, mit Herrlichkeiten aus, die alle ihre Gedanken überstiegen und die kein anderes Gefäß fassen konnte.
Wie vollkommen ist dies! Welch schönes Zeugnis für die Leitung und Bewahrung des Geistes der Weisheit ist die Handlungsweise des Johannes bei dieser Gelegenheit! Gewiss war Jesus in einem Sinn ein Gefäß des Hauses Gottes, wie auch die Propheten und Apostel. Er war ein Diener der Beschneidung, und wie Johannes predigte Er das Kommen des Reiches. Er sang fröhliche Melodien und Johannes wehklagte; Gott redete durch Ihn wie vorher durch die Propheten. In dieser Weise war Er ganz gewiss ein Gefäß in Gottes Haus wie andere, aber eins von ganz besonderer Art. Material und Form dieses Gefäßes waren außergewöhnlich. Wenn Er aber bei Gelegenheit irgendeinem anderen Gefäß gegenübergestellt wurde, wie an dieser Stelle unseres Evangeliums, musste die besondere Würde, die mit Ihm verbunden war, herausgestellt werden. Johannes freut sich, das Werkzeug hierfür zu sein.
Im Heiligen Geiste und in völliger Übereinstimmung mit den Gedanken Gottes freut er sich, den knospenden Stab des wahren Aaron mit Sprossen, Blüten und Früchten ans Licht zu bringen und jeden anderen Stab in seinem von Natur toten und verdorrten Zustand bloßzustellen, damit das Murren der Kinder Israel und die närrischen und parteiischen Gedanken seiner Jünger für immer zum Schweigen gebracht würden (4Mo 17). Er bestätigt, dass alle seine Freude gerade in dem erfüllt war, was das Missfallen seiner Jünger hervorgerufen hatte. Er war nur der Freund des Bräutigams. Er hatte auf diesen Tag gewartet. Sein Lauf war daher beendet, und er war willig, sich zurückzuziehen und vergessen zu werden. Gleich seinen Mitknechten, den Propheten, hat er ein Licht hochgehalten, das sein Geschlecht zu Christus führen sollte, die Braut zum Bräutigam. Jetzt blieb ihm nur übrig, sich zurückzuziehen. Er steht hier gleichsam am Ende der Reihe der Propheten, und in seinem Namen und in dem ihrigen überlässt er alles der Hand des Sohnes. Wenn er dieses Thema, die Herrlichkeit Dessen, der größer war als er, aufnimmt, wie glücklich fährt er darin fort! Der Geist führt ihn von einem Strahl dieser Herrlichkeit zu einem anderen. Gesegnet ist es, wenn Jesus das Thema bildet, das unser ganzes Verständnis und unser Verlangen weckt, und wenn jeder einzelne von uns sich so bereitwillig aufgeben kann, damit Er allein alles erfüllen möge. Teurer Herr, möchte es bei Deinen Heiligen mehr und mehr so sein durch Deine himmlische Gnade!