Behandelter Abschnitt Titus 1,5-6
Es ist jedoch schwierig, den überwältigenden äußeren Beweisen zu widerstehen; und die Schlussfolgerung wäre, dass das Herz des Apostels hingezogen war, „Barmherzigkeit“ besonders für Timotheus zu wünschen, während er sich im Fall von Titus mit dem Wunsch nach „Gnade und Frieden“ begnügte, wie er es gewöhnlich tat, wenn er an die Gläubigen im Allgemeinen schrieb. Im Judasbrief wird „Gnade“ in den Vordergrund gestellt, während „Friede und Liebe“ für die Empfänger auf möglichst breiter Basis folgen. Diese Einfügung ist für die Gläubigen im Allgemeinen ebenso außergewöhnlich, wie die Auslassung bei Titus. Dort werden die Gläubigen mit besonderer Herzlichkeit angesprochen, da sie der direkten Gefahr ausgesetzt waren durch den wachsenden Ansturm des Bösen auf die letzte Strömung des Glaubensabfalls. Aber wenn „Barmherzigkeit“ hier nicht ausdrücklich vor uns steht, so schließt „Gnade“ sie wirklich mit ein; denn sie ist die Quelle, aus der die Barmherzigkeit fließt, und der Friede ist der immer zu wünschende Ausgang, nicht weniger als die immer fließende Quelle und der Kanal – „von Gott, dem Vater, und Christus Jesus, unserem Heiland!“
Deswegen ließ ich dich in Kreta zurück, damit du das, was noch mangelte, in Ordnung bringen und in jeder Stadt Älteste anstellen möchtest, wie ich dir geboten hatte: Wenn jemand untadelig ist, der Mann einer Frau, der gläubige Kinder hat, die nicht eines ausschweifenden Lebens beschuldigt werden oder zügellos sind (1,5.6).
Es besteht kein Zweifel daran, dass der Apostel Titus nur eine Zeit lang auf Kreta ließ, bis er den erteilten Auftrag erfüllt hatte. Es gibt keinen Hinweis auf seinen dauerhaften Aufenthalt dort, sondern einen eindeutigen Beweis dafür, dass er Kreta verlassen und in einem Gebiet und einer anderen Arbeit tätig werden sollte. Es ist bemerkenswert, dass die Form des Wortes „lassen“ gegenüber früher geändert wurde; und dass diese Änderung mit der Dauerhaftigkeit zusammenfällt. So steht es im allgemein anerkannten Text; aber die besten Autoritäten, denen die Kritiker folgen, sind sich einig, dass die ursprüngliche Form durchaus mit dem vorübergehenden Charakter der Mission des Titus übereinstimmt. Der Aufenthalt des Apostels auf der Insel war kurz. Titus wurde für eine Weile dort gelassen. Von keinem der beiden wird gesagt, dass er das Evangelium auf Kreta verkündet hat. Aus Apostelgeschichte 2,11 scheint es sehr wahrscheinlich, dass die frohe Botschaft fast seit dem großen Pfingsttag dorthin gebracht wurde. Es war daher eine Frage für Titus, die Ordnung der Dinge fortzusetzen, die der Apostel begonnen hatte.
Aus dem ersten Kapitel des Briefes an die Römer erfahren wir, dass Paulus sich danach sehnte, die dortigen Gläubigen zu sehen, damit er ihnen irgendeine geistliche Gabe zu ihrer Stärkung mitteilen könne. Noch mehr würde dies auf der weit weniger besuchten Insel, auf der Titus zurückgelassen wurde, nötig sein. Es würden Dinge fehlen, zu deren Vervollständigung der kurze Aufenthalt des Apostels nicht ausreichen konnte. Außerdem bestand die Notwendigkeit, Älteste zu ernennen, was regelmäßig und manchmal lange nach der Entstehung einer Versammlung geschah. Es wird angedeutet, dass in mehreren, vielleicht sogar in vielen Städten, Versammlungen waren, und dass später in jeder Älteste eingesetzt wurden. Bp. Ellicott hat ganz recht, wenn er die Aussage von Jer. Taylor in Frage stellt, „einer in einer Stadt, viele in vielen“ (Episc. § 15). Es ist eine seltsame und sicherlich auch unsichere Aussage eines Episkopalen, obwohl sie für einen Andersdenkenden selbstverständlich ist. Es gibt keinen Anhaltspunkt, dass die Ältestenschaft auf eine Person in jeder Stadt beschränkt war; es kann mehrere gegeben haben. Dies würde natürlich durch die Umstände beeinflusst werden. Doch wir wissen aus anderen Stellen des Neuen Testaments, dass eine Mehrzahl von Ältesten in einer bestimmten Versammlung die Regel war, und so war es zweifellos auch auf Kreta. Die Kirchenordnung war zwar flexibel, hatte aber ein gemeinsames Prinzip und einen gemeinsamen Charakter. „Deshalb“, sagt der Apostel zu den Korinthern, „habe ich euch Timotheus gesandt, der mein geliebtes und treues Kind ist im Herrn; der wird euch an meine Wege erinnern, die in Christus sind, wie ich überall in jeder Versammlung lehre“ (1Kor 4,17; vgl. 1Kor 11,16; 14,33-37).
Es sollte mit größtem Nachdruck bedacht und beachtet werden, dass der Apostel keine besondere Gabe als Voraussetzung für diese örtlichen Aufgaben angibt. Es ist auffallend, wie sorgfältig die Schrift vor der gefährlichen Verwirrung warnt, die bald das Christentum kennzeichnen und die Trennung von Klerus und Laien bewirken sollte, die in Wirklichkeit eine Rückkehr zum Judentum und eine prinzipielle und praktische Verleugnung der besonderen Fülle der Vorrechte für die Versammlung ist. Es ist nicht so, dass eine Gabe und eine Aufgabe nicht in ein und demselben Menschen vereint sein könnten; aber sie sind in sich selbst und für die meisten, die nur das eine oder das andere haben, völlig verschieden. Die Gabe der Ältesten war der Versammlung von Christus gegeben, und zwar vom Größten bis zum Geringsten, abgesehen von jeglichem Eingriff des Menschen. Das kann ebenso wenig aufhören, wie Christus seine Gnade und seine lebendigen Funktionen als Haupt des Leibes aufgeben kann. Die Aufgabe der „Ältesten“ oder „Aufseher“ erforderte nicht nur die Eignung, sondern auch die Wahl oder Ernennung durch eine von der Schrift definierte zuständige Autorität.
Eine weitere beachtenswerte Tatsache ist, dass diese Autorität nicht durch seine Himmelfahrt unterbrochen wurde. Epheser 4,8-10 zeigt, dass sie nur von Ihm aus der Höhe gegeben wird, und zwar so lange, „bis wir alle hingelangen zu der Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes, zu dem erwachsenen Mann, zu dem Maß des vollen Wuchses der Fülle des Christus“. Kein rechtschaffener Christ wird behaupten, dass dies schon erreicht sei, daher sollte er auch nicht an der unfehlbaren Gnade Christi zweifeln. Die Kraft des äußeren Zeugnis vermag die Versammlung nicht zu schmücken, wenn sie untreu ist und nicht mehr ein sichtbar gebündeltes Licht wie einst hier auf der Erde. Doch die Liebe Christi hält nichts zurück und wird alles geben, was „zur Vollendung der Heiligen, für das Werk des Dienstes, für die Auferbauung des Leibes Christi“ notwendig ist.
Aber Älteste oder Aufseher hatten eine örtliche Aufgabe, und für ihre Ernennung waren solche nötig, die das Urteilsvermögen hatten, sie auszuwählen und ihnen Autorität zuzusprechen, die sie letztlich von Christus erhielten. Daher sehen wir in der Schrift, dass sie, zumindest unter den Nationen, ausschließlich von Aposteln oder von apostolisch Beauftragten, wie Timotheus oder Titus, gewählt werden, die ausdrücklich zu diesem Zweck beauftragt wurden. Die demokratische Wahl ist eine menschliche Erfindung; wäre sie von Gott gewesen, hätte es viel Mühe gespart und die Dinge äußerlich vereinfacht, indem sie durch die Versammlung gewählt wurden. Aber davon ist in Gottes Wort nie die Rede. Alle Macht und Autorität liegt in den Händen Christi, der sie durch Menschen ausübt, die Er dazu erwählt. Daher berief Er persönlich die Zwölf auf der Erde, so wie Er Paulus vom Himmel berief; und sie setzten direkt oder indirekt durch geeignete Vertreter, wie hier durch Titus, Älteste ein, Versammlung für Versammlung, Stadt für Stadt. Die Versammlung konnte sich Diakone aussuchen; aber für das Ernennen und Einsetzen von Ältesten bedurfte es der Autorität Christi durch Männer, die Er erwählte und ausstattete. Wie ernst dieser Gedanke ist, sowohl für Nationalisten als auch für Nonkonformisten, kann an dieser Stelle nicht ausführlich dargelegt werden. Wer geistlich und einfältig ist, kann kaum übersehen, wie fremd die gegenwärtigen Anordnungen der Schrift sind; wie gefallen die Kirche ist, wenn sie nur in der Frage der Gaben und Aufgaben wäre. Aber leider ist das nur Punkt des viel umfassenderen und entsetzlichen Niedergangs.