Die Klage des Propheten
Wahrscheinlich gab es noch nie einen Tag, an dem niemand gefragt hat, warum es den Gottlosen so gut geht, während die Gerechten leiden müssen. In Habakuks Fall war dieses Problem sogar noch größer, da Gott eine Nation gebrauchte, deren Verhalten er keinesfalls guthieß, um sein eigenes Volk Juda zu bestrafen. Die Verwirrung des Propheten war dermaßen vollständig, dass er sich gezwungen fühlte, eine Lösung dieses Problems zu suchen, was auch von Anfang seiner Weissagung an deutlich wird.
Die Last
Dies ist die Last, die der Prophet Habakuk geschaut hat (1,1).
Der Prophet beschrieb seine eigenen Schriften als massa, also als eine Last, (vielleicht auch als göttlichen Ausspruch), also als etwas, das getragen werden muss (vgl. 2Mo 23,5; 4Mo 11,11). Keil erklärt in The Twelve Minor Prophets, S. 55, dass dieser Ausdruck benutzt wurde, um das schwere Gericht über das Volk des Bundes und die beherrschende Macht zu beschreiben. Hieronymus schreibt dazu: „Massa kommt niemals in der Überschrift vor, außer wenn es offensichtlich um gravierende und sehr große Mühe und Arbeit geht.“ Die verbale Form wird allerdings verwendet beim Erheben der Stimme, beim Gesang, beim Klagen oder Sprechen; aber es ist nicht typisch für die Einleitung eines kleinen Propheten. In Habakuks Fall wirkt die Übersetzung mit Bürde sehr passend.
Ungebremste Gesetzlosigkeit
Wie lange, HERR, habe ich gerufen; und du hörst nicht! Ich schreie zu Dir: „Gewalttat!“, und du rettest nicht. Warum lässt du mich Unheil sehen und schaust Mühsal an? Und Verwüstung und Gewalt sind vor mir, und Streit entsteht, und Hader erhebt sich. Darum wird das Gesetz kraftlos, und das Recht kommt niemals hervor; denn der Gesetzlose umzingelt den Gerechten: Darum kommt das Recht verdreht hervor (1,2‒4).
Die beiden ersten Kapitel sind ein Dialog zwischen Habakuk und Gott. Habakuk verstand nicht, warum Gott die Gesetzlosigkeit in seinem Volk so lange zuließ und dann eine so gottlose Nation wie die Chaldäer zur Strafe benutzte. Die moralische Problematik war so stark, dass er es wagte, Gott wegen seiner scheinbaren Inkonsequenz zur Rede zu stellen. Er suchte nicht nur für sich persönlich Antworten, sondern vor allem für solche unter seinen Landsleuten, die die göttlichen Gesetze treu einhielten und von den Umständen dabei gestört wurden.
Josias Reformation war in Vergessenheit geraten. Joahas wurde nach Ägypten verschleppt und Jojakim kümmerte sich nicht um Recht und Ordnung. Driver schreibt dazu in The Minor Prophets,
S. 51–52, dass er ein egoistischer Tyrann war. Zu dieser Zeit war das Land verarmt, weil sie dem Pharao Neko Tribut bezahlen mussten, doch trotzdem entwickelte er eine Leidenschaft für imposante Paläste. In Jeremia 22,13‒17 erfahren wir, dass er unbezahlte Zwangsarbeiter ein riesiges Gebäude bauen ließ mit weiten Obergemächern und Zedernvertäfelungen, die mit Gold überkleidet wurden. Er missbrauchte seine Machtposition um sich wie ein orientalischer Herrscher verwöhnen zu lassen. Seine Augen und sein Herz waren auf nichts anderes aus als auf unrechten Gewinn gerichtet und darauf, unschuldiges Blut zu vergießen, zu unterdrücken und zu misshandeln. Auch unternahm er nichts, um sein Volk an ähnlich furchtbaren Taten zu hindern. Wie wir in Jeremia lesen können, hatte die Reformation Josias das Volk nur oberflächlich beeinflusst. Obwohl es noch immer einige treue Seelen gab, waren Gesetzlosigkeit, Betrug und Unterdrückung weit verbreitet; Götzendienst wurde sogar öffentlich praktiziert (Jer 10,11ff.; 14,7; 10‒12; 20).
Habakuk war verwirrt. Er hatte Gott sein Herz ausgeschüttet, aber es kam keine Antwort. Der Zustand der Gesellschaft war haarsträubend und dabei hatte er doch in seinen Gebeten offensichtlich gefordert, dass die Sünde bestraft und die Unterdrückung ein Ende nehmen möge. Hörte Gott die Stimme seines Dieners nicht? Wie lange sollte er noch zu Ihm schreien, ohne eine Antwort zu erhalten? Möglicherweise war das Schweigen ja beabsichtigt und Gott weigerte sich ihm zuzuhören. Aber wie Königin Anna von Österreich zu Richelieu sagte: „Gott bezahlt vielleicht nicht am Ende jeden Tages, Herr Kardinal, aber am Ende wird Er ganz bestimmt für alles bezahlen.“
Zank und Streitereien waren überall zu beobachten, Überfälle und Chaos jeder Art herrschten und er schrie laut auf: „Gewalttat und Zerstörung!“ (vgl. Jer 20,8). Judas moralische Verdorbenheit forderte das Eingreifen Gottes. Die Frommen litten unter den bösen Machenschaften ihrer gottlosen Landsleute, und der Prophet erwartete einfach, dass sie auf göttliche Weise von der Ungerechtigkeit ihrer Nachbarn befreit würden. Obwohl sie schon so lange unter diesen Umständen lebten, gab es noch keinen Hinweis auf eine Rettung. Der Zustand der Nation war unvereinbar mit der Heiligkeit ihres Gottes, und das hätte logischerweise Gottes Gericht über die Gottlosen und seine Befreiung für die unschuldig Leidenden hervorrufen müssen. Aber nichts geschah.
Nach Ciceros Ansicht kann Jupiters Vernachlässigung seines irdischen Territoriums damit erklärt werden, dass er als guter Herrscher des Universums einfach zu viel zu tun hatte, um sich mit Details aufzuhalten. „Das entspricht so ungefähr den Gedanken vieler Menschen, wenn sie über die Beziehung Gottes zu den Angelegenheiten auf der Erde nachdenkt“, schreibt Sir Robert Anderson in The Silence of God, S. 61, 62. „Aber in dem Leben eines jeden Menschen gibt es Zeiten, wo sich ‒ um es mit den Worten der Psalmisten auszudrücken ‒ die Seele nach dem lebendigen Gott sehnt. Da geht es um den lebendigen Gott, nicht bloß um das Schicksal, sondern um eine wahrhaftige Person – um einen Gott, der uns hilft wie unsere Mitmenschen es tun würden, wenn sie die Macht dazu hätten. Und zu solchen Zeiten beten Menschen, die noch nie zuvor gebetet haben; und wer auch sonst betet, spricht plötzlich mit einer leidenschaftlichen Ernsthaftigkeit wie noch nie zuvor. Aber was kommt dabei heraus?“ – „Auch wenn ich schrie und um Hilfe rief, verschloss er sein Ohr vor meinem Gebet“ (Klgl 3,8). Diese Erfahrung haben schon Tausende gemacht. Es ist kein einzigartiges Erlebnis, dass der Himmel nach einem Gebet weiter schweigt. „Diese absolute und andauernde Stille prüft den Glauben und verwandelt Unglauben in wahre Untreue“, schreibt Anderson (S. 63). Es war dieses ununterbrochene Schweigen, das Habakuk irritierte. Warum sprach der Allmächtige nicht? Wieso tat Er nichts, um seine Heiligkeit zu verteidigen? Aber die Himmel schienen aus Erz zu bestehen.
Alles wirkte so unerklärlich. Täglich musste er Elend und Ungerechtigkeit mit ansehen, während es sich ungehemmt ausbreitete. Die Armen und Unschuldigen litten unter der Unterdrückung durch die königliche Verschwendung und unter anderen Machthabern, aber niemand versuchte die Missstände in Ordnung zu bringen oder sich um die Unterdrückten zu kümmern. Es gab grausame Misshandlungen und Beleidigungen, und Gewaltanwendungen. Streitereien, hervorgerufen durch die allgemeine Ruhelosigkeit, verstärkten die herrschenden Probleme nur noch mehr.
Die meisten Ausleger sind der Meinung, dass die vom Propheten beschriebenen Missstände das Ergebnis der schlechten Regierung und der ungerechten Behandlung durch Judas herrschende Klasse war, obwohl man durch die weite Verbreitung dieser Umstände davon ausgehen muss, dass wohl die meisten Einwohner einfach machten, was sie wollten. Es herrschte praktisch eine völlige Missachtung des Rechts.
Dagegen behaupten manche Schreiber, dass alle Einwohner von Juda insgesamt als fromme Leidende gesehen werden sollten, und dass alle Unruhen nur durch die heidnischen Unterdrücker hervorgerufen wurden. Es spricht allerdings mehr dafür, dass der Ursprung der Missstände innerstaatlich war.
Gerechtigkeit war aus dem zivilen und politischen Leben verbannt worden, das Böse schien zu triumphieren. Deshalb war das Gesetz (Thora) handlungsunfähig und die Gerechtigkeit (Mischpat) führte zu nichts. Es herrschte völlige Gesetzlosigkeit. Das Gesetz wurde für ineffektiv erklärt, und ihm wurde jegliche Macht und Autorität abgesprochen. Die Ausübung des Rechts, die einer der Grundpfeiler des öffentlichen Lebens sein sollte, wurde unmöglich gemacht und Gerichtsentscheidungen wurden verfälscht. Diejenigen, die rechtschaffen leben wollten, wurden angefeindet und von den Gottlosen so unterdrückt, dass ihre Bemühungen vergeblich blieben. Fehlgeleitete Justiz wurde zu dieser Zeit oft erlebt und Feinberg schreibt dazu in seinem Buch Habakuk (S. 14): „Die Frommen wurden von Betrügern verwirrt; denn die Gottlosen verdrehten Recht und Wahrheit.“ Die Gerechtigkeit wurde völlig missachtet. Trotzdem unternahm Gott nichts, um diese Missstände in Ordnung zu bringen und der Prophet fragte sich nach dem Grund dafür. „So eine Frage“, schreibt L. E. H. Stephens-Hodge in seinem New Bible Commentary,
S. 733). „konnte nur in Israel aufkommen. Nur für Menschen, die an einen gerechten und guten Gott glauben, der zugleich der allmächtige Schöpfer und Erhalter dieser Welt ist, stellt sich die Frage der Theodizee. Das Dilemma „Wenn es einen Gott gibt, warum gibt es dann Böses?“ ist für die unbedeutend, die von einer Götterschar ausgehen, deren Moral sich kaum von der der Menschen unterscheidet. Nur der Gedanke an die unendliche Gerechtigkeit Gottes erschafft eine Spannung im Licht von alltäglichen Erlebnissen und fordert eine Antwort.“
Dieselbe Frage kommt noch heute auf. Wir leben in einer toleranten Gesellschaft, in der moralische Standards über Bord geworfen wurden und moralische Vorschriften abgelehnt werden. Ehebruch, Unzucht, Homosexualität und Abtreibung sind nicht nur toleriert, sondern werden von den meisten als normal betrachtet. Sünde wird gebilligt und Gesetzlosigkeit bleibt ungestraft. Die Rechte der anderen werden ignoriert und die Freiheit, seinem Gewissen zu folgen wird eingeschränkt. Wie kann es unbehelligt solche Missstände geben? Wenn es einen Gott im Himmel gibt, dann muss Er doch eingreifen. Doch der Allmächtige schweigt und die uralte Frage kommt wieder auf: Warum?
Für viele ist das heute nicht weniger verwirrend als es das damals für Habakuk war – trotz der weiteren Offenbarungen über Gott und seiner Wege. Warum lässt Gott das Böse ungestraft geschehen? Warum kann jeder Einzelne ungehindert seinen eigenen Weg gehen und „sein Ding durchziehen“, ohne dass sein Schöpfer eingreift?