Fünftes Kapitel - Sabbatheilung am Teiche Bethesda
Die Geschichte von der Heilung des Gichtbrüchigen, die uns im fünften Kapitel erzählt wird, hat etwas Eigentümliches, und es steht in Bezug auf sie in der Miniaturbibel die Anmerkung, daß in vielen Lesarten der vierte Vers ausgelassen ist. Etwas auffallend klingt er allerdings, wie es auch merkwürdig erscheint, daß die Heilung nur erfolgte, wenn die verborgene Quelle plötzlich durchbrach und ein Engel erschien — wie es im Volksmunde hieß. Vers 1 lesen wir: „Danach war ein Fest der Juden, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem." Als Glied Seines Volkes hat sich der Herr an die Festzeiten gehalten und ist auch hinaufgezogen nach Jerusalem wie jeder andere erwachsene Israelit. Vers 2 heißt es weiter: „Es ist aber zu Jerusalem bei dem Schaftor ein Teich, der heißt auf hebräisch Bethesda" — Haus der Barmherzigkeit, des Erbarmens. Wie wir aus dem Verlauf der Geschichte sehen, ist dieses Haus der Barmherzigkeit aber mit der Zeit eine Stätte des Neides und der Eifersucht geworden. Ach, wieviel Eifersucht, Neid und Zwietracht mag es heute noch in den sogenannten Häusern der Barmherzigkeit geben, in Krankenhäusern und anderen Anstalten, wo sich die Kranken häufig vernachlässigt glauben oder wirklich vernachlässigt werden, und das Gute, das man ihnen tut, dann ganz darüber vergessen. Meinen sie, es geschehe anderen etwas mehr als ihnen, so sind sie verstimmt. Auch im großen Gottesspital der Welt gibt es eine Menge Verstimmter — die Verstimmung hört erst auf, wenn die Gnade über die Sünde triumphiert hat — wenn sich das Wort erfüllt: „Wo die Sünde mächtig geworden ist, ist doch die Gnade noch viel mächtiger geworden." Das Spital in Bethesda hatte „fünf Hallen, in welchen lagen viele Kranke, Blinde, Lahme, Verdorrte, die warteten, wann sich das Wasser bewegte." Wieviele gehen von Ort zu Ort, von Land zu Land, um von ihren Krankheiten geheilt zu werden, sobald sie von der Heilung eines Mitmenschen hören, der die gleiche Krankheit hatte wie sie! Wir Gotteskinder wollen unseren Blick je länger je mehr aufwärts anstatt seitwärts richten — aufwärts zu unserem Herrn und Heiland. Er heilt heute noch, und wenn wir der Hilfe bedürfen, so wenden wir uns an die Ältesten und lassen sie über uns beten und uns mit Öl salben — kurz, wir gehen den uns in Jakobus 5 vorgeschriebenen Weg und erinnern uns daran, daß der Herr derselbe ist gestern, heute und in Ewigkeit, und daß Er heute noch heilen kann. Die Hauptsache ist, daß wir uns zuerst innerlich vom Herrn heilen lassen, und uns danach stramm in Zucht nehmen, strammer denn je.
„Eine große Menge Kranker versammelte sich daselbst. . ." Alle warteten, alle wollten geheilt werden, und doch konnte nur einer geheilt werden. „Denn" — Vers 4 — „ein Engel fuhr herab zu seiner Zeit in den Teich, und bewegte das Wasser. Welcher nun zuerst, nachdem das Wasser bewegt war, hineinsiieg, der ward gesund, mit welcherlei Seuche er behaftet war." Wie gesagt, es hat das auf den ersten Blick etwas Eigentümliches — andererseits aber ist es richtig, daß der Herr Engel gebraucht, um den Menschen zu dienen, und wir ahnen vielleicht gar nicht, wieviel wir persönlich dem Dienste der Engel zu verdanken haben. Möglicherweise wurde das Wasser auch von innen heraus in Bewegung gesetzt, und es handelte sich hier um eine Heilquelle, die nur zu gewissen Zeiten in Kraft trat. Jedenfalls — wären nicht häufige Heilungen vorgekommen, so hätten sich nicht immer wieder so viele Kranke in der Halle zu Bethesda gesammelt. Alle erdenklichen Kranken kamen dahin — und ach, wie viele verborgene Schäden und Gebrechen gibt es auch unter uns, und wie viele innere Nöte aller Art, von denen andere keine Ahnung haben! Wie gut ist es da, daß wir nicht an solche äußere Heilquellen gebunden sind, an Badeorte und dergleichen! Es haben ja nicht alle die Mittel, um teure Badeorte besuchen zu können. Gottlob, daß es für alle Schäden, Gebrechen und Gebundenheiten äußerer und innerer Art einen Heiland gibt, um den man sich nicht zu streiten braucht, wie sich die Kinder darüber streiten, wer auf dem Schoße der Mutter sitzen darf. Bei unserem Heiland haben wir alle Platz, und Er hat Macht über alle Schäden, wenn wir sie Ihm nur offen bekennen wollen und merken, daß sie nur Mittel und Zweck für uns sind, daß wir dem großen Mittler zwischen Gott und den Menschen näher kommen, und die Quellen unseres Lebens samt allem, was es in sich schließt, aus unserer Hand abgeben in Gottes Hand, wohin sie gehören. Da braucht man dann nicht alle möglichen Kuren durchzumachen oder alle möglichen Kurorte aufzusuchen.
„Das war zu gewissen Zeiten" — nicht regelmäßig, daß da eine Quelle hervorsprudelte. Es waren Zeiten der Gnadenheimsuchung Gottes. Und so haben wir alle, lieber Leser, unsere Zeiten der Gnadenheimsuchung. Mögen Krankheit, Vermögensverluste oder irgendwelche andere Nöte, die wir durchzumachen haben, uns eine Segensquelle werden! Aus allem Schweren kann uns ein Segensquell werden; denn soviel ist gewiß, daß Gott kein Übel irgendwelcher Art in unseren Weg legt, ohne daß wir dadurch Ihn, unseren Heiland, unsere Bibel besser kennen lernen könnten und sollten, so daß wir Ihm in alle Ewigkeit dafür danken werden, daß Er Mittel und Wege gebraucht hat, um dem verborgenen Schaden auf den Grund zu kommen. Die Art unseres Schadens — ob er innerlich oder äußerlich ist — das macht keinen Unterschied für unseren Gott. Ebensowenig macht es einen Unterschied für Ihn, wir lange uns die Sache schon anhaftet, wenn sie nur Veranlassung für uns wird, uns ganz in die Wasser der Gnade zu werfen, um gereinigt und geheiligt daraus hervorzugehen, neugestärkt durch die erfahrene Gnade.