Behandelter Abschnitt Jona 1-4
Einleitung
Das Buch Jona enthält keine Prophetie im eigentlichen Sinn, oder besser gesagt, es enthält nur eine einzige, die jedoch wegen der Reue der Bewohner Ninives nicht erfüllt wurde. Einhundert Jahre später verkündete mit Nahum ein anderer Prophet von Neuem das einst aufgeschobene Gericht dieser großen Stadt. Dieses Gericht wurde dann ungefähr ein Jahrhundert später ausgeführt.
Man darf die Hauptbelehrung dieses Buches Jona nicht in dem Urteil über Ninive suchen. Was es uns vom Anfang bis zum Ende vorstellt, ist die Person des Propheten selbst. Dieser Umstand sichert ihm einen einzigartigen Platz inmitten der Propheten des Alten Testamentes. Dazu gehört auch, dass uns das Buch die Wege Gottes in Gnade mit den Nationen vorstellt.
In Bezug auf Jona kann man sagen, dass er selbst die eigentliche Prophetie darstellt. Er dient sowohl als Zeichen als auch als Vorbild auf prophetische Ereignisse. Wir sehen in ihm zunächst das Bild seines verworfenen Volkes Israel. Es ist im Elend versunken und erlebt eine Auferstehung aus den Tiefen des Abgrundes. Aber seine Geschichte beschränkt sich nicht nur darauf.
In der Person Jonas ziehen nacheinander und oft gleichzeitig vor unseren Augen vorbei: der Zeuge, der sich von Gott entfernt hat, der stolze Prophet, das schuldige Volk und die reumütigen Übriggebliebenen, die sich am Aufenthaltsort der Nationen befinden.
Aber darüber hinaus tritt eine geheimnisvolle Person in die Szene ein. Es ist der, der „mehr als Jona“ ist, und als Auferstandener daraus hervorgeht, um das Volk Gottes zu befreien. Als weiteren Höhepunkt dieses wunderbaren Berichtes finden wir schließlich eine Offenbarung von Gott selbst. Wir lernen seine Vorsehung, seine Heiligkeit, seine Gerechtigkeit im Gericht, seine große Geduld, seine unendliche Gnade kennen, die das letzte Wort aller seiner Wege mit dem Menschen, mit Israel und den Nationen bildet.
Das oben Gesagte erklärt die Gliederung in 7 Kapitel, die ich für dieses Buch gewählt habe:
1. Der Zeuge
2. Der Prophet
3. Die Nationen
4. Das Volk Israel
5. Die Übriggebliebenen
6. Christus
7. Gott.
Der Zeuge
Zwischen dem Menschen, der durch den Sündenfall Sünder geworden ist, und dem Menschen, der durch den Glauben an den Erretter und aufgrund der Erlösung ein Heiliger geworden ist, besteht ein unermesslicher Unterschied.
Der Sündenfall von Adam und Eva
1 Adam war vor seinem Fall unschuldig, aber verantwortlich, in Abhängigkeit von Gott zu leben. Nachdem er durch den Fall seine Unschuld und seine Abhängigkeit verloren hat, bleibt er dennoch verantwortlich. Aber er hat als Sünder nun das Bewusstsein von Gut und Böse, d. h. ein Gewissen, das ihn richtet. Dieses macht ihn unentschuldbar und verurteilt ihn. Er kennt nun Gut und Böse. Aber ach, der sündige und verantwortliche Mensch besitzt nur die absolute Unfähigkeit, das Gute zu vollbringen, und den Willen, das Böse zu tun.
Ganz anders steht es mit dem Gläubigen, dem heiligen Menschen, dem Zeugen Gottes in dieser Welt. Wenn er auch das Fleisch in sich trägt, die sündige Natur des ersten Adam, so hat er doch durch den Glauben eine neue Natur erhalten, das göttliche Leben. Er besitzt den Geist Gottes, die Kraft dieses Lebens, und die Fähigkeit, das Gute zu tun und dem Bösen zu widerstehen.
Dies macht ihn zweifellos doppelt verantwortlich. Sein Gewissen weist ihn auf Gut und Böse hin; es gibt nur zwei Möglichkeiten: gehorsam der Leitung des Heiligen Geistes und des neuen Lebens, das er besitzt, zu folgen, oder dem Fleisch gegenüber, das in ihm ist, gehorsam zu sein. Wenn er doppelt verantwortlich ist, so ist er auch doppelt unentschuldbar, wenn er sündigt, denn ihm steht die Kraft des Geistes Gottes und des neuen Menschen zur Verfügung, welche die Kraft des Fleisches und des alten Menschen tausendfach übertrifft.
Die erste Folge vom Fall Adams und vom Fall Jonas
Die Folgen der Sünde sind für den sündigen Menschen, der im Fleisch wandelt, anders als für den Gläubigen, wenn er dem Fleisch gemäß wandelt. Letzterer besitzt nämlich die Fähigkeit, im Geist zu wandeln. Der Sünder kann nichts anderes erwarten als Tod und Gericht; der Heilige begegnet, wenn er sündigt, der Strafe oder der Zucht Gottes, die sich an ihm und an allen Gläubigen vollzieht, damit sie nicht „mit der Welt verurteilt werden“ (1Kor 11,32).
Dieses war bei Jona der Fall. Er war ein Gläubiger, ein Heiliger. Er hatte Leben aus Gott. Er stand in Verbindung mit Gott. Ihm war ein Zeugnis anvertraut worden, aber vor einen Befehl Gottes gestellt, lässt er sich durch den Willen des Fleisches, welches Feindschaft gegen Gott ist, davon abbringen. Obwohl er ein Gläubiger und ein Zeuge ist, handelt er nicht besser als Adam, der von Satan betrogen wurde. Er ist einem ausdrücklichen Befehl Gottes ungehorsam. Sein Fallen ist sogar schlimmer als bei Adam in seiner Unschuld, als dieser vom Teufel verführt wurde. Durch den Glauben besitzt Jona nämlich eine neue Natur, die fähig ist, das Gute zu erwählen und das Böse und die Verführungen zurückzuweisen.
Adam ist Gott ungehorsam und besitzt die Vermessenheit, sich selbst dafür zu entschuldigen (1Mo 3,12). Jona ist Gott ungehorsam und wagt es, Ihm dafür auch noch eine Begründung anzugeben (Jona 4,2). Aber vor Gott gilt keine Entschuldigung, kein Beweggrund für Ungehorsam, und zwar noch weniger der eines Heiligen, als der des ersten Adam. Denn seit Beginn seines geistlichen Lebens besitzt der Heilige den Glaubensgehorsam, durch den er errettet ist (Röm 1,5); und vom ersten Schritt seiner Laufbahn an ist er durch den Heiligen Geist geheiligt zum Gehorsam Jesu Christi (1Pet 1,2), d. h. um so zu gehorchen wie Er.
Für Jona wie für Adam ist die erste Folge des Ungehorsams dieselbe. Adam flieht aus der Gegenwart Gottes, der ihn sucht, und versteckt sich hinter den Bäumen des Gartens. Jona macht sich auf, um vom Angesicht des Herrn weg nach Tarsis zu fliehen (1,3). Welche Tat ist schlimmer? Auf jeden Fall die zweite, denn Jona ist ein Heiliger, der eine gewohnheitsmäßige und innige Beziehung zu Gott besaß. Vor seinem besten Freund fliehen, um sich der Verpflichtung zu entziehen: Welch eine Beleidigung fügt eine solche Tat dem zu, der uns liebt!
Aber da, wo Adam oder Jona gefehlt haben, offenbart ein Mensch Vollkommenheit, ein Mensch, der nicht einmal einen ausdrücklichen Befehl brauchte, um zu gehorchen, obwohl Er alle Gebote seines Vaters hielt (Joh 15,10), ein Mensch, der Gottes Willen zuvorkam, ohne dass dieser Ihn darum bat. „Ich komme“, sagt Er, „um deinen Willen zu tun“ (Heb 10,7). Das ist noch mehr als Gehorsam. Das ist ein Wille, der vollkommen aufgeht in dem Willen eines anderen, sich mit diesem identifiziert und sich davon nährt: „Meine Speise ist, dass ich den Willen dessen tue, der mich gesandt hat, und sein Werk vollbringe“ (Joh 4,34), so sagte dieser Mensch, Jesus Christus.
Die zweite Folge vom Fall Adams und vom Fall Jonas
Die zweite Folge von Adams Ungehorsam lässt nicht auf sich warten. Wohl oder übel muss er in seiner Nacktheit vor dem Angesicht dessen erscheinen, vor dem er floh, und das Urteil über sich anhören. Dieses ist unwiderruflich, aber trotz allem kann die Gnade ein Rettungsmittel schaffen. Adam erscheint vor Gott, bevor das Urteil ausgeführt wird, und das rettet ihn. Er findet die Hilfsmittel in Gott, der für ihn und seine Frau Kleider der Gerechtigkeit schenkt.
Jona zieht durch seinen Fehler eine viel beschwerlichere Züchtigung auf sich als der erste Adam. Es ist notwendig, dass sich die Kinder Gottes dessen erinnern und darüber nachdenken. Lasst uns daher für einen Augenblick diesem Mann Gottes auf seiner Reise nach Tarsis folgen, wo er solch furchtbare Erfahrungen machen muss. Zunächst bezahlt er sein Fährgeld (1,3) und begleicht damit seine Schuld vor Menschen, während er in seiner ersten Pflicht Gott gegenüber fehlt.
Wir müssen bedenken, dass Jona dadurch, dass er seinen Verpflichtungen gegenüber der Welt nachkommt, die Entfernung vergrößert, die ihn von Gott trennt. So geht es auch oft mit uns. Durch einen Geist der Opposition getrieben bezahlt man sein Fährgeld. Indem man verschiedene Verpflichtungen erfüllt, versteckt man sich selbst vor einer viel höheren Aufgabe: Gott zu gehorchen.
Man erfüllt die Verpflichtungen der Familie und der Gesellschaft, der Stadt und des Landes – so richtig und wichtig das auch ist –, aber man ist dem ausdrücklichen Befehl Gottes ungehorsam. Und dieser Auftrag besteht darin, für Ihn zu zeugen.
Jona war gerufen worden, Zeuge Gottes vor der Welt zu sein. Ein Zeugnis für Christus ablegen ist in der Tat das, was Gott von uns will in einer Welt der Sünde und der Entfremdung von Ihm, einer Welt, die dem Gericht entgegen läuft. Genau das ist einer der wichtigen Punkte im Buch Jona. Die Welt ist bereits verurteilt; vor der Ausführung des Gerichts will Gott jedoch, dass die Seinen von seiner Gerechtigkeit zeugen, damit noch Buße in Herzen herbeigeführt wird und Er noch Gnade wirken kann.
Einst hatte Gott dieses Zeugnis seinem Volk Israel anvertraut. Dieses war jedoch ungehorsam, sodass Er das Zeugnis in die Hände der Versammlung gelegt hat. Die Versammlung verlässt jedoch ebenso die Wahrheit und wird zu einer abgefallenen Christenheit. Dieses Thema wird im Alten Testament übrigens nicht behandelt. Schließlich wird in Zukunft ein jüdischer Überrest der treue Zeuge Gottes inmitten der Nationen sein. Das waren in der Vergangenheit weder das Volk noch seine Führer. Das Buch Jona behandelt diesen Überrest in einer geheimnisvollen Weise, wie wir es später sehen werden.
Die Zucht des Herrn
Kehren wir jedoch zu Jona zurück, der die Heiligen, Gottes Zeugen, in dieser Welt repräsentiert. Damit sein Ungehorsam nicht wie der des Sünders zum endgültigen Gericht führt, muss er auf seinem Weg, der ihn immer weiter von Gott wegführt, angehalten werden. Das Wort sagt uns: „Da warf der Herr einen heftigen Wind auf das Meer, und es entstand ein großer Sturm auf dem Meer, sodass das Schiff zu zerbrechen drohte“ (1,4). Das ist erst der Anfang der Züchtigung Gottes für seinen Diener, aber diese Zucht leitet, wie wir es später sehen werden, seine Wege der Gnade mit den Nationen ein. Jona jedoch liegt während dieses Sturms im unteren Schiffsraum, in tiefen Schlaf gesunken (1,5).
Häufig erreichen die bedrohlichsten Situationen nicht das Gewissen der Kinder Gottes. Weder der Sturm noch die Not der Seeleute berühren Jona. Er erkennt nicht, dass er ganz persönlich das Gericht Gottes, gegen den er sich aufgelehnt hat, erfahren muss. Er wird nicht einmal mit Furcht erfüllt. Das ist die Gleichgültigkeit eines eingeschlafenen Gewissens. Wenn es sich um einen sündigen Menschen und seinen moralischen Zustand handelt, dann schläft er immer. Als Kind der Finsternis und der Nacht kennt er nichts anderes als diesen Schlaf (1Thes 5,4.7). Wenn aber ein Jona schläft, ein Sohn des Lichts, dann ist das viel schlimmer! Leider gibt es das so häufig. Die Jünger schliefen angesichts der Leiden ihres Retters in Gethsemane und seiner Herrlichkeit auf dem Berg der Verklärung. Der Jünger Jona schläft angesichts des Gerichts, das über die Welt kommt, ohne dass er erkennt, dass es für ihn bestimmt ist.
Oft haben wir uns gefragt, als wieder grässliche Kriege unter den Nationen herrschten, ob die Gläubigen erwachen und erkennen, dass dieser Sturm in erster Linie ihnen gilt. Zweifellos bedient sich Gott, dem viele Mittel zur Verfügung stehen, einer solchen Not auch, um andere Ziele zu erreichen und andere Absichten zu vollbringen. Lasst uns jedoch nicht vergessen, dass es das erste Ziel im Fall Jona war, diesem Diener Gottes ins Gewissen zu reden.
Häufig benutzt Gott dabei zu unserer Schande und Verwirrung die Welt, die uns aus unserem Schlaf aufweckt. „Was ist mit dir, du Schläfer? Steh auf, rufe deinen Gott an! Vielleicht wird der Gott unser gedenken, dass wir nicht umkommen“ (1,6), sagt der Obersteuermann. „Diener Gottes,“ sagt er gleichsam, „denkst du nicht an diejenigen, die umkommen? Bist du in deinem Egoismus so erstarrt? Wir anderen arbeiten, quälen uns, opfern unsere ganze Habe. Unsere ganze Schiffsladung ist schon im Sturm untergegangen. Und was machst du? Betest du, flehst du zu deinem Gott? Wir zumindest, wir schreien ein jeder zu seinem Gott.“ Ist es nicht wahr, dass die Welt häufig das Recht hat, auf eine solche Weise die Kinder Gottes hart anzufahren, da diese nicht verstanden haben, dass das Gericht ihnen gilt?
Gottes Handeln mit Jona
Gott sucht Jona, seinen Zeugen, so wie Er ehedem Adam, den Sünder, gesucht hat. Der Obersteuermann ist somit die Stimme Gottes, die einst Adam fragte: „Wo bist du?“ Aber hier sehen wir auch schon eine erste Demütigung für Jona, denn die Welt ist das Mittel, durch das Gott ihn daran erinnert, dass er verloren ist. Der Herr antwortet diesen unwissenden, aber aufrichtigen Menschen, die den Gott überhaupt nicht kennen, an den sie sich wenden, durch das Los. Er offenbart ihnen, dass es sein Zeuge ist, mit dem Er sich durch den Sturm in Wirklichkeit beschäftigt.
Die zweite Demütigung Jonas besteht darin, dass er, der Jude, überhaupt keine direkte Mitteilung von Gott erhält. Noch schlimmer, es ist wiederum die Welt, die ihm sagen muss: „Was hast du da getan!“ (1,10) Früher war es Gott selbst, der Eva sagte: „Was hast du da getan!“ (1Mo 3,13) Bei Jona wird die Welt der Richter der Taten eines Zeugen des Herrn. Und auf welch eine Weise! Sie müssen ihm gleichsam sagen: „Du selbst bekennst, dass du den Herrn, den Gott des Himmels, der das Meer und das Trockene gemacht hat, fürchtest (1,9), und du fliehst vor Ihm? Welch eine Narrheit!“
Das Gewissen dieser Heiden ist geradliniger und aufrichtiger, weniger eingeschlafen, als dasjenige von Jona! Aber schließlich wird auch seines erreicht. Jona erkennt die volle Gerechtigkeit des Gerichtes Gottes an: „Nehmt mich und werft mich ins Meer“ (1,12). Er weiß, dass er es verdient hat, in den Abgrund geworfen zu werden, und verkündet dieses. Er sagt den Seeleuten, dass dies für sie die Rettung vom Sturm bedeute, während er verdiene, sein Leben zu verlieren. Er empfängt wie einst Adam das Urteil des Todes. Nur dass es für Jona im gleichen Augenblick vollzogen wird.
Genau so ist es auch mit uns: „Ich bin gestorben.“ „Ich halte mich der Sünde für tot.“ „Ich bin mit Christus gekreuzigt.“ In der Tat, mein Gericht ist gerecht und ich lege davon Zeugnis ab. Aber in den Tiefen der Flut, da finde ich Christus, der sich mit mir in diesem Gericht eins macht, um mich zu erretten!
Gott greift ein, und tatsächlich, wie könnte es sein, dass Er es nicht täte? Ein anderer, auf den Jona in den Tiefen ein Vorbild ist, hat gleichsam den Platz im Bauch des Fisches eingenommen. Genau hier, unter der Zucht und in der Tiefe der Not, findet der schuldige Zeuge seine Abhängigkeit wieder, die er so töricht verloren hat: Er betet (2,2). Niemals hätte er es gewagt, ungehorsam zu sein, wenn er durch das Gebet in wahrer Abhängigkeit geblieben wäre. Die Preisgabe der Abhängigkeit hatte zum Verderben des ersten Adam geführt. Hier muss der Zeuge Gottes diese Lektion wieder völlig neu lernen.
Auf diese Wiederherstellung kann Gott nicht anders antworten als durch Errettung. Jona erkennt an, dass diese Segnung allein der Gnade Gottes zuzuschreiben ist: „Bei dem Herrn ist die Rettung“ (2,10).
Von ihr spricht auch Elihu im Buch Hiob: „Er wird vor den Menschen singen und sagen: Ich hatte gesündigt und die Geradheit verkehrt, und es wurde mir nicht vergolten; er hat meine Seele erlöst, dass sie nicht in die Grube fahre, und mein Leben erfreut sich des Lichts“ (Hiob 33,27.28). Solcher Art ist also die Frucht der Züchtigung für den Zeugen Gottes durch den Erretter: Vollständiges Selbstgericht, tiefe Erkenntnis der Gnade. Von diesem Augenblick an flüchtet Jona nicht mehr, um dem Herrn zu entgehen.
Der Prophet
Bevor Jona den Auftrag bekam, nach Ninive zu gehen, hatte er eine prophetische Mission an Israel weiterzugeben.2 Diese Begebenheit war unter Jerobeam II. bzw. kurze Zeit vor dessen Machtergreifung erfolgt. In 2. Könige 14,25 lesen wir, dass Jerobeam „die Grenze Israels wiederherstellte, vom Eingang Hamats bis an das Meer der Ebene [das Salzmeer], nach dem Wort des Herrn, des Gottes Israels, das er geredet hatte durch seinen Knecht Jona, den Sohn Amittais, den Propheten, der von Gat-Hepher war.“ Hosea, Amos und zweifellos auch Jona kannten den traurigen Zustand der zehn Stämme und des Königtums in Israel. Mit welcher Entrüstung benannten die beiden erstgenannten Propheten die Sünden des Volkes und seiner Führer und kündigten das Gericht an, das beide erreichen würde.
Dennoch hatte der Herr gesehen, „dass das Elend Israels sehr bitter war und dass dahin war der Gebundene und dahin der Freie, und dass kein Helfer da war für Israel. Und der Herr hatte nicht gesagt, dass er den Namen Israels austilgen würde unter dem Himmel weg; und so rettete er sie durch die Hand Jerobeams, des Sohnes des Joas“ (2Kön 14,26.27). An anderer Stelle wird gesagt: „Und der Herr gab Israel einen Retter, und sie kamen aus der Hand der Syrer heraus“ (2Kön 13,5). Wir sehen daher, dass, während die anderen Propheten das Gericht Gottes über Israel ankündigten, Jona dazu aufgerufen wurde, eine zeitliche Errettung durch einen Retter anzukündigen, der zu diesem Zweck erweckt wurde (unabhängig von seinem Charakter).
Die Grenze Israels wurde wiederhergestellt; Hamat, die Hauptgrenze gegen die nördlichen Feinde, wurde wieder eingenommen. Und Jona war von dem Herrn ausgewählt worden, um diese Barmherzigkeiten Gottes in Tagen anzukündigen, in denen Israel unter dem schrecklichen Joch des Königs von Syrien seufzte. Ein Prophet, der nur Errettung ankündigte, war ein Phänomen, und wenn nicht einzigartig, so doch zumindest eine Ausnahme in Israel. Als Jona nach Ninive gesandt worden war, kannte er den Herrn somit, wie er es später in Kapitel 4,2 auch ausdrückt, als einen gnädigen und barmherzigen Gott, der langsam zum Zorn und groß an Güte ist, und der sich des Übels gereuen lässt.
Jonas National- und Prophetenstolz
Als es sich um Israel handelte, hatte Jona nicht gezögert, die Errettung seines Volkes anzukündigen. Sein Herz freute sich darüber und sein Nationalgefühl fand darin Befriedigung. In seinem geistlichen Stolz wollte er aber eine solch einzigartige Botschaft Gottes an Nationen nicht akzeptieren, wie er sie zuvor an Israel gerne ausgerichtet hatte. Das wäre noch nicht so schlimm gewesen, wenn er sich sicher gewesen wäre, dass die Drohung der Zerstörung Ninives auch sicher folgen würde. Aber er hatte schon den barmherzigen Charakter des Herrn erlebt, wie Er sich ja auch früher Mose gegenüber offenbart hatte: „Herr, Herr, Gott, barmherzig und gnädig, langsam zum Zorn und groß an Güte und Wahrheit, der Güte bewahrt auf Tausende hin, der Ungerechtigkeit, Übertretung und Sünde vergibt“ (2Mo 34,6.7).
Jona wollte gerne die Gnade seinem Volk gegenüber anerkennen, die übrigens durch das Gesetz beschränkt wurde, aber er wollte diese nicht anerkennen, wenn es sich um götzendienerische Nationen handelte. Gott hatte diesen nicht das Gesetz als Gabe gegeben; wie konnte man da gestatten, dass ihnen die Gnade frei gewährt werden sollte?
Man sollte jedoch noch an ein anderes Motiv für den Ungehorsam des Propheten denken, vielleicht das wichtigste: Jona dachte an sich selbst und seinen persönlichen Ruf. Man sieht das sehr deutlich an seinem ganzen Verhalten in den Kapiteln 3 und 4. Er würde in Ninive rufen: „Noch vierzig Tage, dann wird Ninive umgekehrt!“ (3,4) Wenn dieses Gericht aber doch nicht eintreffen würde? Wenn Gott es sich gereuen ließe? Was würde dann aus seinem Ruf als Propheten? Die Barmherzigkeit Gottes würde zum Zusammenbruch seiner Autorität und seiner eigenen Würde führen. Es kam Jona nicht einen Augenblick in den Sinn, dass die Menschen in Ninive Buße tun könnten und sich deshalb die Wege Gottes mit ihnen verändern könnten.
Andere Propheten und später der größte unter ihnen, Johannes der Täufer, haben dagegen Gericht und Buße gepredigt. Jona wünschte sich eine solche Botschaft nicht. Das, was er unter allen Umständen retten wollte, waren sein Ruf, seine Würde, seine Autorität als Prophet. Was würde aus diesem allen, wenn sich seine Worte nicht erfüllten? Als er im Voraus prophezeit hatte, dass Hamat wieder eingenommen würde, hatte er einen hervorragenden Ruf bei seinem Volk bekommen. Nun wollte er durch das Aufrufen des Gerichts auch einen guten Ruf unter den Nationen erhalten. Was für eine traurige Sache ist doch der Egoismus des Menschen. Aber wie viel schlimmer noch ist der Egoismus eines Propheten!
Der Ungehorsam des Propheten
Aus diesem Grund flieht Jona und muss die Strafe dieser Tat des Ungehorsams tragen. Wie viele Diener Gottes sind durch ihren Eigenwillen nutzlos geblieben und haben ihrer Berufung nicht Folge geleistet, was auch immer sonst ihre Motive gewesen sein mögen. „Der Herr will mich nach Ninive senden; ich jedoch ziehe vor, nach Tarsis in Spanien wegzugehen!“ In unseren Tagen gehört dieser Ungehorsam schon fast natürlicherweise zu den Sitten der Jünger des Herrn. Man begibt sich auf ein Schiff, das einen innerlich von Gott entfernt. Und wir machen es häufig noch schlimmer als Jona, indem wir diesen Ungehorsam als einen göttlichen Auftrag und als Gehorsam gegenüber der Führung des Heiligen Geistes deklarieren.
Jona war einerseits weniger schuldig als diejenigen, von denen wir gerade sprechen, da er sich nicht fürchtete, seine Flucht vor dem Angesicht des Herrn auch als solche zu bezeichnen (1,10). Andererseits war er schuldiger, da er wusste, dass er seinen eigenen Willen tat, indem er auf der Flucht war. Heute ist es häufig einfach Unwissenheit bei Dienern. Ihnen bleibt zudem die Zucht erspart, während der Diener, „der den Willen seines Herrn kannte und nicht . . . nach seinem Willen getan hat, . . . mit vielen Schlägen geschlagen“ wird (Lk 12,47). Schenke es der Herr, dass die Diener oder Evangelisten, die den wahren Auftrag Gottes unbeachtet lassen, aufrichtig vor Ihm sind und ihr Gewissen nicht dadurch beruhigen, dass sie das Gehorsam nennen, was das Gegenteil davon ist.
Die Hartherzigkeit des Propheten
Am Ende von Kapitel 2 scheint es, als habe Jona seine Lektion als Zeuge durch die Zucht Gottes gelernt, denn der Fisch hatte Jona an das Land ausgespien. Dadurch war der alte Jona, der dem alten Adam so ähnlich war, im Gleichnis zu einem auferstandenen Jona geworden. Als Prophet jedoch ist er noch weit davon entfernt, die ganze Lektion verstanden zu haben, die – wie der Bericht zeigt – offenbar sehr schwierig zu lernen ist. Er hatte zweifellos durch die Züchtigung erkannt, dass es hart ist, sich gegen den Stachel zu sträuben, und dass er, koste es was es wolle, gehorchen musste.
So lesen wir anlässlich des zweiten Auftrages Gottes an Jona, dass er nicht erneut die Ausführung ablehnt: „Da machte sich Jona auf und ging nach Ninive, nach dem Wort des Herrn“ (3,3). Aber wie und in welchem Geist gehorchte er? Wie ein Jude unter dem Gesetz gehorchte, so handelt er in Nationalstolz und voller Selbstgerechtigkeit. Dabei war er sich sicher, dass Gott die Nationen richten musste, die überhaupt kein Bürgerrecht in Israel besaßen und zudem Fremdlinge in Bezug auf die Bündnisse der Verheißungen waren. Schließlich lebten sie ohne Gott in der Welt (Eph 2,12).
Jona musste lernen, dass das letzte Wort eines Propheten nicht das Gericht ist: Wie gewiss dieses auch sein mag, es bleibt immer Hoffnung, solange das Urteil (noch) nicht ausgeführt ist. Gott hatte gesagt: „Noch vierzig Tage.“ Aber einst waren durch die Fürbitte Moses nicht mehr Tage nötig gewesen, um das Gericht abzuwenden (2Mo 24,18; 34,28). Auch später nicht, um die Listen Satans kraft des Gehorsams Christi zu vereiteln (Lk 4,2).
Das letzte Wort der Prophetie ist Gnade und Herrlichkeit. Und das wusste Jona ohne jeden Zweifel. Sein Herz war gesetzlich, hochmütig, hart, und freute sich am Gericht. Er, den das gleiche Gericht gerade erst erreicht hatte, hätte die Gnade kennen müssen. Und das nicht nur, weil er sie selbst früher angekündigt hatte, sondern auch, weil er selbst Gegenstand dieser Gnade geworden war. Wie hartherzig muss der natürliche Mensch sein, wenn man das gleiche Herz unter dem Mantel eines Propheten schlagen sieht! Wie demütigend ist es doch, daran zu denken, dass wir unsere Lektionen so langsam lernen.
Gesetzlichkeit und Gnade
Das Prophetenwort Jonas führt zu einem nachhaltigen Eindruck auf das Gewissen der Menschen in Ninive. Das Ziel, das Gott im Auge hatte, war damit erreicht. Denn wenn Er seine Gerichte bekannt macht, dann möchte Er damit erreichen, dass sich die Seelen bekehren und zu Ihm zurückkehren. Auf diese Weise kann sich das Herz des Gottes voller Gnade offenbaren. Wenn jedoch die Gnade ausgerufen wird, machen Hochmut und Selbstgerechtigkeit des Propheten Platz für eine taube Gereiztheit. Das hat die Juden in der Tat schon immer gekennzeichnet. Es erzürnte sie zu sehen, dass das Heil auch den Nationen gepredigt wurde. Sie konnten es nicht ertragen, dass diese auch in Bezug auf das Gericht in gleicher Weise behandelt wurden.
Wir denken bei Jona unwillkürlich an den älteren Bruder des sogenannten „verlorenen Sohnes“, der seinem Vater zürnt und ablehnt, in das Haus zu kommen, da sein Bruder der Gegenstand der Gnade und der Freude geworden ist. Wie der Vater im Gleichnis tadelt Gott Jona – und mit welcher Geduld –, aber Er überlässt ihn schließlich seinem Eigensinn in der Hütte, die er sich selbst gebaut hatte, seines Wunderbaumes beraubt in der Gluthitze der Sonne. Hier endet die Geschichte Jonas. Wenn wir auch nicht wissen, welche Veränderung danach im Herzen des Propheten stattgefunden hat, so wissen wir doch, dass die Gnade des Herrn sich auch heute in Bezug auf die Nationen nicht geändert hat. Davon dürfen wir selbst glückliche Zeugen sein.
Im ersten Teil der Geschichte offenbart Jona mehr Gnade in seinem Herzen als im zweiten Teil. So ist es häufig in der Laufbahn von Dienern Gottes. In dem Maße, wie ihr Einfluss – zu Recht – zunimmt, verstärkt sich auch ihre Selbstzufriedenheit und führt dazu, dass sie mit den Gedanken Gottes nicht mehr übereinstimmen, was sie zu ihrem Dienst unfähig macht. Wie viele von ihnen stehen wie Jona mit einer gescheiterten Laufbahn da, weil sie darin durch Selbstzufriedenheit gekennzeichnet waren, anstatt in der Erkenntnis der Gnade zu wachsen.
Im ersten Kapitel ist die Zucht, die den Propheten trifft, voller Belehrung für ihn. Er erkennt an – welch schmerzliche Feststellung –, dass er, der Prophet des Herrn, der Grund für das Gericht ist, das seine Genossen und das Schiff trifft (1,12). Er nimmt das Gericht, welches ihn selbst trifft, als gerecht hin und verkündet, dass seine Verwerfung die Rettung der Nationen ist. Wie schön wäre es gewesen, wenn diese Demütigung im zweiten Teil der Geschichte des Propheten ihre Früchte getragen hätte!
Lasst uns durch diese Dinge lernen und vor allem nicht dort anfangen, wo Jona begann. Lasst uns auch nicht die Gegenwart Gottes meiden, sondern im Licht wandeln. Lasst uns Ihm sagen: „Erforsche mich und erkenne mich.“ So werden wir schmerzliche Züchtigungen vermeiden. Gott sendet uns nicht als Propheten in die Welt, aber Er vertraut uns eine Aufgabe als Diener an. Dieser nicht treu nachzukommen hieße, wie Jona zu handeln und Gott den Rücken zuzukehren.
Die Nationen
Der Zustand der Nationen wird durch Ninive vorgestellt, das wie das Bild des moralischen Zustandes der Heiden in den Augen Gottes ist. „Mach dich auf, geh nach Ninive, der großen Stadt, und predige gegen sie; denn ihre Bosheit ist vor mir heraufgestiegen“, sagt der Herr zu Jona (1,2).
Sie waren in den Augen des heiligen Gottes durch Bosheit, also die vollständige Abwesenheit des Guten, gekennzeichnet. Seine Geduld hatte diese Bosheit lange Zeit ertragen, und diese hatte die Gelegenheit ergriffen, sich bis an ihre äußersten Grenzen zu entwickeln. Auch blieb Ninive nur noch das Gericht, wenn es nicht von Gottes Seite irgendeine Quelle oder ein Mittel der Rettung gegeben hätte. Aber wer konnte dieses ankündigen? Der Prophet Jona, der hier ein Bild des Volkes Israel ist, stand unter demselben Gericht. Er hatte sich Gott gegenüber ungehorsam und rebellisch gezeigt, und konnte von Gottes Seite nur Verurteilung erwarten.
Ein anderer Prophet, Jesaja, der ein Bild des treuen Überrestes aus Israel ist, befand sich später in der Gegenwart Gottes und suchte nicht, von dort zu fliehen (Jes 6). Bevor er ausgesandt wurde, erkannte er seine Unreinheit und wurde durch die glühende Kohle gereinigt, die das Opfer verzehrt hatte. Der Herr sprach zu ihm: „Wen soll ich senden, und wer wird für uns gehen?“ Und der Prophet antwortete: „Hier bin ich, sende mich.“ Gott sendet ihn zu Israel, um das Gericht anzukündigen, das es treffen wird, und die Gnade, die einen schwachen Überrest verschonen würde. Jona, weit davon entfernt, sich vor Gott zu befinden, flieht seine Gegenwart, um nicht zu den Nationen gesandt zu werden. Dabei waren es nämlich gerade jene, die Gott verschonen wollte, und Jona war sich dessen wohl bewusst.
Die Matrosen sind das Abbild aller Nationen, die sich auf einem Schiff befinden, das sie immer weiter von Gott entfernt. Sie schreien ein jeder zu „seinem Gott“ (1,5), aber in dem Sturm, der sie zu verschlingen droht, lernen sie, was die stummen Götzen wert sind, die ihnen nicht antworten. „Vielleicht“, so denken sie, wird der Gott Jonas ihrer gedenken, und sie würden nicht umkommen (1,6). Aber was ist der wirkliche Grund ihres Elends?
Aus Unkenntnis über ihren eigenen Zustand führen sie dieses Unglück auf jemand anderen zurück, vielleicht auf jemand unter ihnen: „Kommt und lasst uns Lose werfen, damit wir erfahren, um wessentwillen dieses Unglück uns trifft“ (1,7). Da sie Gott nicht kennen, wenden sie sich an eine ihnen unbekannte Macht, das Los, um Antwort zu erhalten. Man sieht hier die Unkenntnis des natürlichen menschlichen Herzens, ohne sich selbst und ohne Gott zu kennen. Das sind die zwei großen Themen, in denen sich die vollständige Offenbarung Gottes zusammenfassen lässt, und die dem Ungläubigen unbekannt sind.
Die Matrosen gleichen somit blinden Menschen, aber Gott antwortet ihnen in seiner Gnade, indem Er sich auf das Niveau ihres Verständnisses herablässt. Das Los spricht gleichsam die Sprache Gottes und fällt auf Jona. Jona bezeugt nun den wahren Charakter Gottes trotz des Gerichtes, das ihn erwartet, und trotz seiner Flucht vor dem Angesicht Gottes, die er ihnen zuvor mitgeteilt hatte (1,10), indem er ihnen etwas von dem mitteilt, was sie sogar in ihrem verfinsterten Verstand verstehen konnten: „Ich bin ein Hebräer; und ich fürchte den Herrn, den Gott des Himmels, der das Meer und das Trockene gemacht hat“ (1,9). Das Zeugnis Israels, an einen einigen Schöpfergott zu glauben, erinnert die Nationen daran, was Gott ihnen durch seine Werke offenbart hat, damit sie ohne Entschuldigung seien (Röm 1,20). Die Predigt des Paulus an die Athener (Apg 17) trägt keinen anderen Charakter.
Die drei Fragen der Heiden
Diese armen, unwissenden Heiden stellen drei Fragen:
„Tu uns doch kund, um wessentwillen uns dieses Unglück trifft!“ (1,8) Auf diese Frage hatte Gott mittlerweile durch das Los geantwortet. Er hatte jedoch gleichsam Israel benutzt, also den Gegenstand seines Gerichtes, um den Nationen Licht zu bringen, wie es auch geschrieben steht: „Das Heil ist aus den Juden“ (Joh 4,22).
„Was hast du da getan!“ (1,10). Jona hatte schon zuvor eine Antwort auf diese Frage gegeben, sodass sich die Seeleute hier nicht irren konnten: Jona floh „vom Angesicht des Herrn weg“ (1,10). So können sie ihn tadeln und sagen: „Du sagst, dass du Gott fürchtest, aber du fürchtest dich nicht, Ihm ungehorsam zu sein?“ Wie häufig haben sich die Juden – zu ihrer Schande – unter der Rute der Nationen befunden, so wie heutzutage die Christen unter der der Welt!
„Was sollen wir mit dir tun?“ (1,11) Das Vertrauen in das Wort des Herrn ist in ihren Herzen geboren, und anstatt sich von Israel, dem untreuen Diener, abzuwenden, haben sie verstanden, dass der Abgesandte dieses Volkes allein in der Lage ist, ihnen den Willen Gottes kundzutun. Jona auf der anderen Seite erkennt an, dass seine Untreue der Grund dieses Handelns Gottes auch mit den Nationen ist. Er sagt: „Ich weiß, dass dieser große Sturm um meinetwillen über euch gekommen ist“ (1,12). „Nehmt mich und werft mich ins Meer.“ Auf diese Weise ist die Verwerfung Israels die Versöhnung der Welt (Röm 11,15).
Die Seeleute scheuen sich, den Auftrag des Propheten auszuführen und schöpfen, bevor sie dem Wort gehorchen, alle erdenklichen Mittel aus, um anders ans Ziel zu gelangen. Aber sie können keinen Erfolg haben, „weil das Meer immer stürmischer gegen sie wurde“ (1,13). Damit sie gerettet werden konnten, bedurfte es eines Opfers, sonst würden sie durch das Gericht verschlungen werden. Wir werden später sehen, wer dieses Opfer in Wirklichkeit ist, doch hier erfahren wir, dass es Jona ist, ein Bild des verworfenen Israels.
Die Verwerfung Israels ermöglicht den Segen für die Nationen
Nachdem das Gericht ausgeführt worden ist, kann das Schiff der Nationen seinen Kurs fortsetzen. Die Verwerfung Israels hat die Türen des Segens für die Nationen geöffnet. Diese Szene ist ein Bild von der heutigen Zeit. Sie ist ein Bild für die Rettung einzelner Menschen, die Teil der götzendienerischen Völker waren, die „jeder zu seinem Gott schrien“. So lesen wir in Offenbarung 5,9: „Du hast für Gott erkauft, durch dein Blut, aus jedem Stamm und jeder Sprache und jedem Volk und jeder Nation.“
Angesichts der großen Gefahren rufen sie zu Gott (1,14). Genau an diesem Punkt beginnen unsere Beziehungen zu Gott. Jedoch stoßen ihre natürlichen Herzen die Offenbarung zurück, dass sie ein Opfer nötig haben, für dessen Tod sie verantwortlich sind und welches das Gericht für immer vorüberziehen lässt. Sie bevorzugen, hart zu rudern, um das Schiff ans Land zurückzuführen (1,13). Auch können sie nicht daran vorbeigehen, dass sie „unschuldiges Blut“ auf sich bringen, indem sie den Diener des Herrn in die Fluten stürzen (1,14). Sie sind somit schuldig, aber Gott belehrt sie, dass dieses Opfer – trotz ihres Anteils daran – für sie das einzige Mittel des Heils ist.
Sofort nach Ausführung des Befehls Gottes sehen wir einen moralischen Wandel, der sich in dieser Schiffsbesatzung vollzogen hat: „Und die Männer fürchteten sich vor dem Herrn mit großer Furcht, und sie schlachteten dem Herrn Schlachtopfer und taten Gelübde“ (1,16).
Ihr erster Schritt auf dem Weg der Weisheit ist es, sich mit großer Furcht vor dem Herrn zu fürchten. Dazu nehmen sie vor Ihm die Stellung von Anbetern ein, indem sie Ihm Opfer bringen. Und sie „taten Gelübde dem Herrn“. Ein Gelübde ist eine freiwillige Widmung an Gott, um Ihm ohne jeden Vorbehalt zu dienen (5Mo 23,22; 3Mo 7,16). Wir finden somit hier eine Anzahl von geretteten Menschen, die zu Gott gebracht und Zeugen seiner Gnade werden. Sie sind nun Ihm geweihte Anbeter und Diener. In diesem Schiff der Nationen befinden sich seither Gerettete, während Jona als ein Bild von Israel in die Tiefen des Völkermeeres hineingestürzt wurde.
Der Glaubensgehorsam der Nationen
Wir lernen also in diesem ersten Kapitel des Buches, wie der Glaubensgehorsam heute das Teil der Nationen geworden ist. Das dritte Kapitel führt unsere Gedanken in eine noch zukünftige Zeit. Das Gericht wird Ninive, „der großen Stadt“, angekündigt. Sie ist als Hauptstadt der Repräsentant aller Völker. Uns wird gesagt, dass „die Leute von Ninive Gott glaubten; und sie riefen ein Fasten aus und kleideten sich in Sacktuch, von ihrem Größten bis zu ihrem Kleinsten“ (3,5).
Bedenken wir, dass es sich hierbei um ein nationales Fasten handelt. Man kann nicht sagen, dass dies nicht wirklich geschah, denn es ist gegründet auf den Glauben an das Wort Gottes. Allerdings wissen wir, dass dieser Glaube bei den Bewohnern Ninives „nur für eine Zeit“ (Mt 13,21) wirksam war. Wenn es auch nur eine äußerliche Buße ist, die auf die Furcht vor dem Gericht gegründet ist, so führt sie doch dazu, dass das Gericht für eine Zeit ausbleibt.
Zwei Jahrhunderte später wird das hier angekündigte Gericht der Stadt Ninive buchstäblich ausgeführt und die Stadt vollständig zerstört. Das gleiche wird zur Zeit der Aufrichtung des Königreiches Christi geschehen. Angesichts der Gerichte werden sich die Nationen unterwerfen und Ihn als Gott Israels anerkennen (Ps 18,46). Wenn jedoch Satan nach diesen herrlichen 1.000 Jahren der Herrschaft Christi wieder freigelassen wird (Off 20,7) und aufs Neue die Menschen verführen kann, werden diese Menschen das endgültige Gericht erleben.
Diese Buße der Menschen von Ninive lenkt unsere Gedanken zu den ernsten Tagen, in denen wir leben. Die Hand Gottes liegt schwer auf den Völkern. Man hat fast den Eindruck, seine Stimme zu hören: „Noch vierzig Tage, dann wird Ninive umgekehrt!“ Sollten die Nationen nicht Buße tun und ein Fasten ausrufen?
Herrscher und Könige, Große und Kleine, sollten sie nicht heftig zu Gott rufen und ein jeder von seinem bösen Weg und dem Unrecht umkehren, das in seinen Händen ist (3,8)? „Wer weiß? Gott könnte sich wenden und es sich gereuen lassen und umkehren von der Glut seines Zorns, dass wir nicht umkommen“ (3,9). Gott kann es sich gereuen lassen und die Richtung seiner Regierungswege mit den Menschen ändern, wenn, ja wenn diese ihre eigenen Wege ändern und umkehren, Buße tun. Mögen diese Worte doch so, wie einst diejenigen von Jona, ein Echo in den Herzen der Menschen finden!
Israel
Wir haben bereits gesehen, dass Jona trotz seines Glaubens und seines Charakters als Prophet den Geist des Volkes in sich vereint, zu dem er gehört. Es ist ein Geist des Ungehorsams, der Unabhängigkeit vom Herrn, des geistlichen Hochmuts und der Selbstgerechtigkeit. Darauf wies Gott ständig durch seine Propheten hin. Es handelt sich dabei nicht um den praktischen Götzendienst, der so oft angeprangert wird. Diesen hatte das Volk schon lange verlassen, ehe es durch die Verwerfung Christi unter die Nationen zerstreut wurde. Von dieser Zeit aber spricht – im Bild – das Buch Jona. Wir wohnen hier dem Augenblick bei, an dem die Geschichte Israels beendet wird. Das Volk verharrt in den Wegen der Unabhängigkeit und des Eigenwillens, ohne wirklich Buße in Bezug auf die „nichtigen Götzen“ (2,9) getan zu haben, die es so lange Zeit charakterisiert hatten. Das Haus war leer, gekehrt und geschmückt (Mt 12,44).
Der Zustand des Volkes, das der Dämon des Götzendienstes nicht mehr heimsuchte, ist in ganz besonderer Weise in der Zeit der letzten Propheten und des Kommens des Herrn kennzeichnend: Das ist eine ungläubige und verdrehte Generation, übertünchte Gräber, die von außen zwar schön scheinen, inwendig aber voll von Totengebeinen und aller Unreinigkeit sind (Mt 23,27). Es ist eine heuchlerische Rasse, stolz auf die Selbstgerechtigkeit, hochmütig und sich rühmend, Abraham als Vater zu besitzen, das Licht und das Zeugnis Gottes meidend, Feinde der Wahrheit und Gegner der Gnade. Genau das ist es, was sie mit einem Anschein an Gottesfurcht zu überdecken suchten, der strikten Treue zu den Formen des Gesetzes, die lediglich äußere Formen darstellten und zu denen sie noch etliche Traditionen hinzufügten, die das Gebot Gottes aufhoben (Mk 7,9).
Die Führer versuchten mit allen Mitteln, ihre Würde, ihren Ruf und ihren Einfluss auf das Volk zu erhalten. Was sie jedoch am meisten hassten, war die Gnade, die ihnen die Wahrheit über ihren eigenen Zustand offenlegte. Wenn sie verurteilt würden, dann gäbe es nämlich keinen Unterschied zwischen ihnen und den anderen Menschen, und die Gnade würde die Tür des Heils für jeden armen Sünder aus den Nationen öffnen.
Auch wenn Jona ein Mann Gottes war, so stellt er uns doch mehr als nur einen dieser Charakterzüge des Volkes Israel dar. Es kam dann auch ein Augenblick, von dem ab durch die Verwerfung des Retters und des Heiligen Geistes die endgültige Verurteilung der Juden ausgesprochen wurde: „Ich werde euch verpflanzen über Babylon hinaus“ (Apg 7,43). Israel wurde ins Völkermeer geworfen und wird dort bis zum Tag seiner nationalen Auferstehung (Hes 37) verwahrt werden.
Das Volk wird also wiedergeboren werden, aber wenn wir damit in Kapitel 3 zum zweiten Teil seiner Geschichte kommen, hat sich dann sein Herz geändert? Überhaupt nicht! Äußerlich wird es unter dem Antichristen die alten Formen des Gottesdienstes wieder aufnehmen (Dan 9,27), innerlich ist sein moralischer Zustand die ganze Zeit durch den Zorn gegen Gott charakterisiert. Es ist erzürnt bis zum Tod (4,9). Dieses Buch schweigt über das Ende der Geschichte Jonas und damit Israels. Es wirkt fast so, als ob dieses aufrührerische Volk im Nichts verschwände. Lasst uns dieses ernste und feierliche Schweigen für uns selbst überdenken!
Die Verwerfung Israels wird uns – in Verbindung mit der Prophetie Jonas – durch den Herrn Jesus in einer bemerkenswerten Weise angekündigt. In Matthäus 12 spricht der Herr Jesus von Jona als einem Zeichen seines Todes und seiner Auferstehung. Darauf werden wir später noch eingehen. In Kapitel 16 kommt Er jedoch – wie ich nicht zweifle – mit einer gänzlich anderen Absicht auf Jona zurück.
Die Pharisäer und die Sadduzäer verlangen von Ihm erneut ein Zeichen. Daraufhin spricht Er zu ihnen von Zeichen des Himmels, dem guten Wetter und dem Sturm (Bilder der Gnade und des Gerichts), die sie gut zu unterscheiden wussten, während sie die „Zeichen der Zeiten“ nicht verstanden. Das Gericht stand vor der Tür, aber davon erkannten sie nichts. Ihnen würde jedoch „kein Zeichen gegeben werden als nur das Zeichen Jonas“. Israel würde endgültig ins Meer geworfen werden, verlassen sein, um Platz für die Wege der Gnade Gottes zu den Nationen zu machen. So hören wir den Evangelisten sagen: „Und er verließ sie und ging hinweg.“
Aber das wahre Israel wird auferstehen und, wie wir schon gesehen haben, als der Zeuge des Herrn ausgesandt werden, um die großen Völkerschaften zur Buße aufzurufen.
Die Übriggebliebenen
Das Hauptziel des Buches Jona liegt – wie mir scheint – im zweiten Kapitel, das ich bisher absichtlich ausgelassen habe. Bislang haben wir gesehen, dass die Person Jona uns Charakterzüge vorstellt, die Hinweise für die Zeugen des Herrn geben, und auch ein Bild des jüdischen Propheten als Zeugen darstellt. Schließlich haben wir gesehen, dass die gleiche Person uns die Geschichte des Volkes Israel zeigt, das trotz allem der Zeuge Gottes für die Nationen gewesen ist und sein wird. Ich sage „sein wird“, da das Volk als Ganzes zwar endgültig verworfen wurde, als die Geduld Gottes ihr Ende erreichte, in Zukunft jedoch ein Überrest aus dem Volk kommen wird.
Die Übriggebliebenen werden der Kern eines künftigen Volkes sein, das wie das gesamte Volk Israel die Blutschuld zu tragen hat, das heißt die Verantwortung für den Tod des Messias zu übernehmen hat, und so die Folgen in der Drangsalszeit über sich ergehen lassen muss. Dieses Elend erzeugt jedoch im Herzen dieser Treuen eine Buße zur Rettung. Sie werden nicht versuchen, ihre eigene Verantwortung von der des Volkes, aus dem sie stammen, zu trennen. Sie werden ihre Züchtigung als verdient anerkennen, dass der Sturm, der immer stürmischer wird, die gerechte Vergeltung ihrer Schandtaten ist, und dass sie „aus dem Land der Lebendigen abgeschnitten“ (Jes 53,8) werden müssen, da sie den Sohn Gottes gekreuzigt haben.
Wenn sie jedoch durch den großen Fisch verschlungen sein werden, werden sie in ihrer Not erkennen, dass ihr Messias die gleichen Qualen durchlitten hat und dass der Herr Ihm geantwortet hat (2,3). Diese Überzeugung wird diesen Treuen eine große Sicherheit geben, so dass sie zu Gott mit der Sicherheit schreien werden, dass Er sie hört. Ihre Erfahrungen werden uns im zweiten Kapitel des Propheten wiedergegeben.
Das Gebet Jonas
Dieses Gebet Jonas enthält zwei Themen:
Die Erfahrungen der gläubigen Übriggebliebenen, des wahren Israel, am Tag der Bedrängnis3 (2,3), aus der sie gerettet werden.
Der Tod und die Leiden Christi, die ich im nächsten Kapitel behandeln möchte.
In Verbindung mit dem ersten Thema, das uns jetzt beschäftigt, hoffen wir, dass der Leser ausreichend mit dem Alten Testament vertraut ist, um zu wissen, dass die Propheten und die Psalmen uns fast durchgehend über die gläubigen jüdischen Übriggebliebenen des Endes und die Drangsale berichten, die sie erdulden müssen. Das Gebet Jonas ist ein Beweis dafür. Die acht Verse geben eine solche Anzahl von Stellen aus den Psalmen und dem Propheten Jesaja wieder, dass es eine Überlastung dieses kurzen Betrachtungstextes sein würde, sie alle hier zu zitieren. Jeder Leser, der eine gute Konkordanz besitzt, kann für sich selbst eine Liste aufstellen. Wir beschränken uns daher darauf, einige wichtige Stellen zu zitieren.
Das Gebet Jonas
„Und Jona betete zu dem Herrn, seinem Gott, aus dem Bauch des Fisches und sprach: Ich rief aus meiner Bedrängnis zu dem Herrn, und er antwortete mir“ (2,2.3).
Es ist bemerkenswert, dass der Schrei Jonas erst nach dem der Nationen kommt. So wird es in der Tat auch mit dem Überrest sein. Das Schiff der Nationen heute, das diejenigen enthält, die durch den Glauben Anbeter des wahren Gottes geworden sind, setzt seinen Kurs fort, und diejenigen, die hinein steigen, haben auf ihr Schreien zu dem Herrn (1,14) Errettung erfahren. Israel dagegen ist von dem Völkermeer verschlungen worden, aber ein Überrest wird im Schoß des Scheols erwachen. Aus den Tiefen ihrer Not, aus dem Schoß dieser großen Drangsal, die in erster Linie auf den Treuen des alten Volkes Gottes lasten wird, rufen diese Übriggebliebenen zu Gott, an dem sie sich versündigt haben.
Dieser Vers ist in eine Form gekleidet, die wir auch aus den Psalmen kennen. Er stellt ein Resümee des ganzen Inhalts des Gebets dar und gibt im Voraus das Ergebnis an, während die folgenden Verse den Weg beschreiben, über den dieses Ergebnis erreicht wird. In die Tiefen des Abgrunds geworfen, von dem Ungeheuer verschlungen, das Gott als Mittel der Bewahrung bereitet hat, betet und ruft der Treue zu Gott. Mit welcher Freude kann er feststellen, dass die Antwort bereits eingetroffen ist.
Psalm 120, der als Vorwort der kleinen Sammlung der Stufenlieder dient, spricht in den gleichen Ausdrücken. Es handelt sich in diesem Psalm um die Übriggebliebenen, die aufs Neue durch Verfolgungen aus ihrem Land hinaus geworfen worden sind, nachdem sie dorthin zusammen mit der ungläubigen Nation zurückgekehrt sind. Das ist der Tag der Drangsal Jakobs (vgl. Off 12,13-16). Daher sagen die Übriggebliebenen: „Zu dem Herrn rief ich in meiner Bedrängnis, und er erhörte mich“ (Ps 120,1).
Der Herr rettet sie aus allen ihren Bedrängnissen, wie es häufig im Psalm 107 heißt, der seinerseits wie ein Vorwort des fünften Buches der Psalmen ist, zu dem die Stufenlieder gehören. „Er erhörte mich“, ist die Zusammenfassung aller Erfahrungen, welche die Treuen machen durften: eine vollständige Erlösung. Das finden wir auch in Psalm 130: „Aus den Tiefen rufe ich, Herr, zu dir“ (Ps 130,1). Dieser Psalm beschreibt die ernsten Übungen des Gewissens der Übriggebliebenen und die Ergebnisse ihrer Errettung: ewiger Segen (vgl. auch Ps 18,7; 86,7).
Das Resümee
„Ich schrie aus dem Schoß des Scheols, du hörtest meine Stimme.“ (2,3)
Nach der Zusammenfassung, von der wir gerade gesprochen haben, finden wir in Jonas Gebet die Erfahrungen, welche die Antwort des Herrn herbeiführen. Zunächst schreit der Treue aus dem Schoß des Scheols, und Gott hört. Die Antwort ist noch nicht eingetroffen, aber der Betende hat die tröstliche Sicherheit, dass das Gebet des Glaubens zu den Ohren des Herrn gelangt ist. Das Gebet Hiskias (Jes 38,10) hat viele Ähnlichkeiten mit demjenigen Jonas, nur ist seine Not nicht so tief wie die Jonas. Hiskia geht hin zum Scheol, Jona ist dort, David wird in Psalm 30,4 von dort heraufgeführt (vgl. auch Psalm 18,5-7).
„Denn du hattest mich in die Tiefe, in das Herz der Meere geworfen, und der Strom umschloss mich; alle deine Wogen und deine Wellen fuhren über mich hin.“ (2,4)
Man findet genau den gleichen Ausspruch in Psalm 42,8. Jeder, der ein wenig mit der Prophetie vertraut ist, weiß, dass das zweite Buch der Psalmen (Ps 42-72) die Empfindungen und Erfahrungen des Überrestes Judas beschreibt, der während der großen Drangsal unter die Nationen verjagt wird. Genau das sind auch die Erfahrungen, die uns das Gebet Jonas vorstellt4.
„Und ich sprach: Verstoßen bin ich aus deinen Augen; dennoch werde ich wieder hinschauen zu deinem heiligen Tempel.“ (2,5)
Auch hier treffen wir wieder das Gebet Hiskias (Jesaja 38,10.11), aber auch viele Verse aus dem zweiten Buch der Psalmen (43,2; 44,10; 60,3.12) und andere Textstellen (Ps 74,1; 77,8; 31,23; Klgl 5,22). Das Bewusstsein, verworfen zu sein, zerstört bei dem armen Überrest jedoch in der Not nicht die Sicherheit des Glaubens. Aus Jerusalem vertrieben hört er nicht auf, zum Tempel zu schauen, so wie Daniel sein Fenster nach Jerusalem hatte (Dan 6,11; vgl. auch Ps 42,5; 43,3.4; 18,7; Hab 2,20). Die Gläubigen, die diese Stelle heute auf sich anwenden, wenn sie sich in Bedrängnis befinden, wissen, dass der Tempel für sie das Vaterhaus in den Himmeln ist.
Die Erfahrung der Drangsal
„Die Wasser umngen mich bis an die Seele, die Tiefe umschloss mich, das Meergras schlang sich um mein Haupt.“ (2,6)
Die Seele macht in dieser Drangsal die Erfahrung, was das Gericht Gottes aufgrund der Sünde in Wirklichkeit bedeutet. Im zweiten Buch der Psalmen, von dem wir bereits gesprochen haben, wird dieser schreckliche Zustand in unauslöschlichen Zügen aufgezeichnet: „Tiefe ruft der Tiefe beim Brausen deiner Wassergüsse; alle deine Wogen und deine Wellen sind über mich hingegangen“ (Ps 42,8).
In Psalm 69 wird die Schwere dieser Qualen beschrieben. Das Eintreten in den tiefen Schlamm der Sünde schließt das Gericht als Konsequenz in sich: die Tiefe der Wasser, die verschlingt, und die Flut, die überschwemmt, im selben Moment, in dem sich eine Grube öffnet, die keinen Grund hat (Ps 69,3.15.16). Wir werden später sehen, dass der Treue in dieser Grube auf Christus trifft, auf den Jesus, der für ihn dort hinabgestiegen ist. Auch wir Christen haben die gleiche Erfahrung gemacht, ohne dass wir jedoch wie der Überrest diesen Abgrund kennenlernen mussten, außer in unseren Gewissen.
„Ich fuhr hinab zu den Gründen der Berge; die Riegel der Erde waren hinter mir auf ewig. Da führtest du mein Leben aus der Grube herauf, Herr, mein Gott.“ (2,7)
Die Not stößt an ihre letzten Grenzen. Der Elende kann nicht mehr weiter hinabsteigen. Hier finden wir den Tod mit seinem ganzen Schrecken. Die Türen, die den Zugang zu der Erde der Lebendigen verschließen, sind für immer verschlossen. Diese gleichen Erfahrungen finden wir auch in dem Lied Hiskias (Jes 38,10.11) und in der Antwort Gottes darauf: „Du zogst liebevoll meine Seele aus der Vernichtung Grube; denn alle meine Sünden hast du hinter deinen Rücken geworfen . . . Der Herr war bereit, mich zu retten“ (Jes 38,17.20). Durch die Auferstehung Christi sind alle unsere Sünden im Abgrund zurückgeblieben, wo sie nie wieder gefunden werden können.
„Als meine Seele in mir verschmachtete, erinnerte ich mich an den Herrn, und zu dir kam mein Gebet in deinen heiligen Tempel.“ (2,8)
Im Moment der größten Angst und des größten Todeskampfes erinnert sich der Treue an den Herrn, und sein Gebet wird nicht mehr nur gehört, sondern an dem Ort, wo Gott wohnt, angenommen.
Die Erfahrung der Drangsal
„Die auf nichtige Götzen achten, verlassen ihre Gnade.“ (2,9)
Hier folgt die ewige Verdammnis, die über das abtrünnige Volk ausgesprochen wird, das von Neuem durch den Dämon des Götzendienstes eingenommen wird (Mt 12,43-45) und für nichtige Götzen den ihm angebotenen Platz der Gnade verlassen wird. Besser wäre es, in tiefe Not gestürzt zu werden – aber mit einer wirklichen Hoffnung –, als das Teil derer zu besitzen, die den Antichristen als Herrn haben und anerkennen. In Psalm 31 können wir den Unterschied sehen zwischen denjenigen, „die auf nichtige Götzen achten“ (Vers 7), und denjenigen, die ihre Zuflucht zum Herrn nehmen (Vers 2), und für welche die Gnade die einzige Quelle ist.
„Ich aber werde dir opfern mit der Stimme des Lobes; was ich gelobt habe, werde ich bezahlen. Bei dem Herrn ist die Rettung.“ (2,10)
Hier findet der treue Überrest die wahre Anbetung, welche die Nationen während der Zeit seiner Untreue ausüben durften. Diese Verehrung dürfen die Christen schon heute Gott bringen. Später, in der prophetischen Zukunft, werden die Nationen unter der Herrschaft des Messias dem Herrn, dem Gott Israels, Opfer bringen und zusammen mit seinem Volk nach Jerusalem hinaufgehen, um anzubeten (Ps 116,13.14; 22,26). Es wird also sowohl für Israel als auch für die Nationen eine Zeit kommen, wo sie Gelübde bezahlen (Jona 1,16), dem Herrn freiwillig und ohne Zurückhaltung dienen als ein Volk, das freiwillig gelobt (Ps 56,13; 61,9; 66,13; 76,12; 3Mo 7,16; 5Mo 23,22).
Das letzte Wort dieses prophetischen Gebetes ist: „Bei dem Herrn ist die Rettung.“ Sie ist da und nur durch Ihn bewirkt. Sie ist einzig die Frucht seiner Gnade (Jes 38,20; 52,10). Israel wird am Ende der Tage diese große Wahrheit erfassen, die schon heute die Freude und die Sicherheit aller Gläubigen sein darf, und auf die jede Heilsgewissheit für immer gestützt ist. Wie wird diese Rettung bewirkt? Das ist es, was wir im nächsten Kapitel dieser kurzen Abhandlung betrachten werden.
Der Christus
Die Person des Jona stellt Christus unter zwei verschiedenen Aspekten dar. Den ersten finden wir in den Evangelien nach Matthäus und Lukas. Dieser betrifft den Tod und die Auferstehung Christi, um das Werk der Erlösung zu vollbringen.
Der Tod und die Auferstehung Jesu
In Matthäus 12 finden wir die Schriftgelehrten und die Pharisäer, die den Herrn soeben beschuldigt haben, „die Dämonen nicht anders auszutreiben als durch den Beelzebul, den Fürsten der Dämonen“ (Vers 24). Nun verlangen sie von Ihm „ein Zeichen“ (Vers 38), ein Wunder, das Ihn in ihren Augen als König rechtfertigen könnte. Man muss sich das einmal vorstellen: Von Jesus zu verlangen, dass Er sich in dieser Hinsicht rechtfertigen solle, wo doch sein ganzes Leben und die Wunder seiner Güte, die Er mit jedem Schritt bewirkt hatte, deutlich machten, dass Er Emmanuel ist, Gott mit uns!
Konnte dieses böse und ehebrecherische Geschlecht überhaupt durch ein Zeichen überzeugt werden? Daher antwortet der Herr Jesus ihnen: „Kein Zeichen wird ihm [dem bösen und ehebrecherischen Geschlecht] gegeben werden als nur das Zeichen Jonas, des Propheten. Denn so wie Jona drei Tage und drei Nächte in dem Bauch des großen Fisches war, so wird der Sohn des Menschen drei Tage und drei Nächte in dem Herzen der Erde sein“ (Verse 39.40). Welch ein herrliches Bild, das in der Person des Jona von den Leiden Christi ungefähr 900 Jahre vor seinem Kommen gegeben wurde. In der Tat sind seine Leiden und sein Tod das vorherrschende Thema der Prophetie.
Der Aufenthalt Christi im Grab war jedoch ebenfalls das Zeichen, dass es nun für dieses Volk zu spät war und es jetzt keine Gelegenheit mehr hatte, den Propheten, den Gesandten, den Sohn des Menschen, den Sohn Gottes als seinen König anzunehmen. Von diesem Augenblick an waren alle alten Beziehungen Gottes mit seinem Volk unterbrochen. Wenn sie wieder aufgenommen werden sollten, dann nur auf Grundlage seiner Verwerfung, nicht mehr auf seiner Einführung bei seinem Volk als Messias und König.
Christus ist gekommen, um in Liebe den Platz Israels als Verworfener aufgrund des Ungehorsams des Volkes Israel einzunehmen, damit dieses im Wert der vollbrachten Sühnung seinen Platz im Reich wieder einnehmen könnte. Für uns Christen, die wir Sünder waren, hat Er unseren Platz im Gericht eingenommen, damit uns die Himmel geöffnet werden könnten.
An seine Worte an die Pharisäer und Schriftgelehrten schließt der Herr Jesus dann in Vers 41 an: „Männer von Ninive werden aufstehen im Gericht mit diesem Geschlecht und werden es verdammen, denn sie taten Buße auf die Predigt Jonas hin; und siehe, mehr als Jona ist hier.“ Die von den Juden so verachteten Nationen waren in der Tat viel weniger schuldig als dieses Volk. Ninive hatte ohne irgendein Zeichen Buße getan, durch die einfache Predigt eines Propheten, der Gericht ankündigte. Hat Jerusalem Buße getan auf die Predigt eines Größeren als Jona, der nicht nur Prophet der Gnade war und den Willen Gottes vollbrachte, sondern Sohn Gottes ist? Daher werden diese Menschen am Tag des Gerichts die erdrückenden Zeugen der gerechten Verdammung Israels sein, das Gott in der Person des in Gnade gekommenen Christus verworfen hat.
Der Tod Christi als Gerichtsurteil über Israel
In Lukas 11,29-32 finden wir eine etwas andere Belehrung. Nachdem der Herr gesagt hat, dass diesem bösen Geschlecht kein Zeichen gegeben werde, als nur das Zeichen Jonas, fügt Er hinzu: „Denn wie Jona den Niniviten ein Zeichen war, so wird es auch der Sohn des Menschen diesem Geschlecht sein“ (Vers 30). Er vergleicht somit diese schuldige jüdische Generation mit den Niniviten, einem heidnischen Volk.
Der im Bild gestorbene und wiederauferstandene Jona war den Niniviten nicht nur ein Prediger, sondern auch ein Zeichen gewesen, das ihn für sie glaubwürdig machte. In der Tat handelt es sich in der Stelle in Lukas nicht so sehr um die Predigt als um die Person des Jona. Ein gestorbener und wiederauferstandener Christus, der nun unter den Nationen als Erretter aufgenommen wird und von dem Jona ein Bild ist, verurteilt von da an Israel. Dieses Volk war seines Todes schuldig, und indem Gott Ihn wieder auferweckte, zeigte Er damit seine volle Befriedigung über das vollbrachte Werk seines Vielgeliebten, das Israel nicht annehmen wollte und was sie unwiderruflich verurteilte.
Der Herr fügt hinzu: „Männer von Ninive werden aufstehen im Gericht mit diesem Geschlecht und werden es verdammen; denn sie taten Buße auf die Predigt Jonas hin; und siehe, mehr als Jona ist hier“ (Vers 32). In der Tat hatten die Niniviten ohne ein Zeichen Buße getan, während die Juden eines forderten. Die Predigt Jonas hatte sie zur Buße geführt; sein Wort hatte dieses Ergebnis hervorgebracht. Was haben diese Juden aber mit der Predigt Christi gemacht? Und welch ein Unterschied bestand doch zwischen diesen beiden Zeugnissen! Jona hatte das Gericht und die Zerstörung Ninives angekündigt, während Christus einem schuldigen Volk die Gnade verkündet hatte. Wie groß muss da die Verhärtung Israels gewesen sein, eine solche Botschaft abzulehnen!
Dieses Gegenbild dürfen wir also von Jona im Neuen Testament sehen: Der verworfene Jona, der drei Tage und drei Nächte im Bauch des Fisches zubrachte, ist wiederauferstanden. Das ist Christus, und so wird Er heute zum Heil aller Menschen, die an Ihn glauben, gepredigt.
Das Buch Jona zeigt uns übrigens auch mehr als jedes andere Buch der Bibel, dass die Prophetie nicht durch die Erfüllung von historischen Ereignissen erklärt werden darf. Dies ist einer der vielen Fehler, der von der modernen Theologie begangen wird. Nein, Christus ist letztlich die Erfüllung und die einzige Erklärung für jede Prophetie.
Christus hat das Gericht über Israel getragen
Christus wird uns in diesem Buch jedoch auch noch unter einem zweiten Aspekt vorgestellt. Jona ist ein Bild von Christus, der selbst den Zorn Gottes in dessen Regierung erduldet hat und daraus errettet worden ist, damit die Treuen des Endes, die Übriggebliebenen Israels, darin Trost und Ermunterung finden können, wenn sie durch die große Drangsal hindurchgehen müssen. Sie werden diese Ermutigung nötig haben, um die Qualen durchstehen zu können.
Diese wichtige Wahrheit wird auch in einer Stelle im Propheten Jesaja zusammengefasst: „Er wurde ihnen zum Erretter. In all ihrer Bedrängnis war er bedrängt, und der Engel seines Angesichts hat sie gerettet“ (Jes 63,8.9). In dieser Hinsicht muss der Überrest aus Juda, welcher der Verwerfung des Messias schuldig ist, aufgrund dieser Sünde durch den Schmelzofen und die Bedrängnis hindurchgehen. Er wird selber verworfen sein, wie wir es in Matthäus 16,4 sehen, wenn er in den tiefen Wassern verschlungen ist. Aber er wird dann erkennen, dass ein anderer, sein Retter, dort vor ihm und für ihn gewesen ist und aus der Bedrängnis errettet worden ist.
Welche Sicherheit wird diese Entdeckung der Seele des Überrestes geben. In der Tat konnte der Herr im Garten Gethsemane sagen: „Verbirg dein Angesicht nicht vor mir am Tag meiner Bedrängnis; neige zu mir dein Ohr . . . Meinen Trank vermische ich mit Tränen vor deinem Zorn und deinem Grimm; denn du hast mich emporgehoben und hast mich hingeworfen“ (Ps 102,3.10.11). Er hat auch gesagt: „Die Wasser sind bis an die Seele gekommen“ (Ps 69,2). Er selbst hat in den Tagen seines Fleisches „sowohl Bitten als Flehen dem, der ihn aus dem Tod zu erretten vermochte, mit starkem Schreien und Tränen dargebracht“ (Heb 5,7).
Wir sehen in diesen und vielen anderen Stellen Christus in Gethsemane, wie Er den Tag seiner Bedrängnis (Ps 102,3) und die Ängste des Gerichts erlitt, die sein Volk verdient hat. Daher vermag Er Mitleid mit ihnen zu haben, da Er in seiner Seele erlebte, was es heißt, den Zorn Gottes gegen das schuldige Israel zu erleiden. Indem die Treuen der Übriggebliebenen am Ende der Tage dieses überdenken, werden sie Ermutigung zur Gottesfurcht finden in ihrem Vertrauen auf Gott, in der Sicherheit, dass sie am Ende errettet werden. Sie werden sagen können „Bis wann?“, in der Zuversicht, dass sie eines Tages erhört werden. Sie werden Christus in den Tiefen der Wasser kennenlernen, wie Er an ihrer Not teilnahm. Aber sie werden auch erkennen, dass Er in Auferstehung aus dem großen Abgrund hervorkam, damit auch sie die Segnungen auf „der Erde der Lebendigen“ wiederfinden könnten.
Diese Errettung, die wir gläubigen Christen schon heute kennen und besitzen dürfen, hat uns den Himmel geöffnet. Die Errettung Israels in den letzten Tagen wird den Übriggebliebenen die erneuerte Erde unter der Herrschaft des Königs des Friedens öffnen, sodass das Volk mit der gleichen Überzeugung wie wir heute sagen kann: „Bei dem Herrn ist die Rettung!“
Gott
Gott oenbart sich im Buch Jona unter zwei Charakterzügen
Der Erretter-Gott
Wenn Er den Sturm als ein Gericht für seinen untreuen Propheten und die Nationen sendet, dann hat Er für letztere ein Ziel der Gnade. Sie waren bis zu diesem Zeitpunkt durch Gleichgültigkeit und Unwissenheit dem wahren Gott gegenüber gekennzeichnet. Aber Er bringt diese Schiffsleute an den Rand des Todes, um sie zum Herrn rufen zu lassen (Jona 1,14; Ps 107,23-32). So offenbart Er sich ihnen als der Erretter-Gott, der zu ihren Gunsten den Propheten opfert.
Es ist nötig, dass der Diener Gottes in den Tod hingegeben wird, damit Seelen, die Fremdlinge in Bezug auf Gott sind, Ihn kennenlernen und dahin geführt werden, Ihm zu dienen. Aber Gott ist auch ein Retter-Gott für sein Volk. Er kann Ungehorsam nicht ertragen, und es ist notwendig, dass Er die Übertretungen bestraft, da Er seine Gerechtigkeit und seine Heiligkeit nicht verleugnen kann. Aber der Bauch des Fisches, der Jona verschlingt, birgt gleichsam einen anderen Jona. Dieser ist gehorsam und treu, leidet ohne Grund und ist auferstanden, damit für Israel „bei dem Herrn die Rettung ist“.
Der Schöpfer-Gott
Den zweiten Charakterzug Gottes, den wir in diesem Buch erkennen dürfen, können wir in Epheser 4,6 finden: „Ein Gott und Vater aller, der über allen und durch alle und in uns allen ist.“ Er ist der Schöpfer-Gott und Erhalter aller Menschen und auch aller tierischen Schöpfung. Er lenkt nach seinem Wohlgefallen die Elemente, die Winde und das Meer. Er kann einen großen Fisch bestellen, einen Wunderbaum, einen Wurm, einen Ostwind, um seine Ratschlüsse zu erfüllen. Seine Vorsehung wacht über alles. Seine allumfassende Barmherzigkeit ist durch nichts beschränkt. Diesen „Gott des Himmels, der das Meer und das Trockene gemacht hat“ (1,9), werden die Nationen am Ende anbeten, wenn sie den „Vater aller“ in Gott erkennen werden, der „ohne Ansehen der Person richtet nach eines jeden Werk“ (1Pet 1,17). Die Liebe Gottes zu allen seinen Kreaturen ist unumschränkt. Das wollten die Menschen heute gerne anerkennen, wenn sie dadurch nicht genötigt würden, Buße zu tun.
Das war allerdings bei Ninive nicht der Fall: Als die Menschen aus den Nationen verstanden, dass der Gott der Langmut und Sanftmut sie richten würde, weil sie gegen Ihn gesündigt hatten, wurden sie zur Buße getrieben. Gott offenbarte sich in Ninive nicht als der Herr, der Gott Israels, sondern als Gott, Elohim, der Schöpfer (3,5.8.9.10). Diese Stadt, deren Bosheit vor Gott heraufgestiegen war (1,2) und die sich vor den Götzen niederwarf, tat Buße. Ein Fasten wurde ausgerufen, und es war nicht der Erretter-Gott, sondern der Schöpfer-Gott, der diesem Rechnung trug und Ninive für eine Zeit vor dem Gericht verschonte.
Die Bekehrung der Nationen in den letzten Tagen durch das ewige Evangelium wird keinen anderen Charakter tragen. Der Engel wird es mit lauter Stimme verkünden: „Fürchtet Gott und gebt ihm Ehre, denn die Stunde seines Gerichts ist gekommen; und betet den an, der den Himmel und die Erde gemacht hat und das Meer und die Wasserquellen“ (Off 14,7). Die Nationen werden Buße tun und während der 1.000 Jahre verschont werden, so wie Ninive für zwei Jahrhunderte diese Errettung erleben durfte.
Die Liebe und Gnade Gottes
Diese Grundwahrheit der unumschränkten Liebe Gottes und der Vorsehung des „Vaters aller“ musste Jona noch lernen. Er kannte den Herrn, den Gott Israels, als einen Gott, der unter dem Gesetz barmherzig regierte. Er kannte Ihn auch als einen Erretter-Gott, der ihn aus der Bedrängnis errettet hatte. Sein Stolz als Jude konnte jedoch nicht zulassen, dass das Herz Gottes ebenso für alle seine Geschöpfe geöffnet sein könnte. Sein Egoismus brachte ihn dazu, zu glauben, die Bemühungen Gottes müssten sich ausschließlich um seine eigene Person drehen. Dass Jona verschont blieb, war schon recht so; dass aber die große Stadt zerstört würde, das war notwendig, um die Ehre des Propheten zu retten. Ist es nicht oft so, dass unsere Eigenliebe dazu führt, dass wir selbst die elementarsten Wahrheiten außer Acht lassen, die den Charakter Gottes betreffen?
Selbst die letzte Lektion, die wir in diesem Buch finden, richtet sich an den Propheten. Die Vorsehung Gottes lässt einen Wunderbaum hervorkommen, um Schatten für Jonas Kopf zu bewirken und ihn von seinem Missmut zu befreien (4,6). Sofort rechnet Jona voller Freude mit dem Schutz, der ihm durch eine Pflanze geschenkt wird, die zu der primitiven Schöpfung Gottes gehört, anstatt den anzuschauen, der diese Pflanze hervorgebracht hatte.
Gott gibt die Pflanze dann einem Wurm als Nahrung, den Er in gleicher Weise gemacht hat. Auf diese Weise verbindet sich alles in den Wegen der Vorsehung. Der Schöpfer denkt an alles, an eine Pflanze, an einen Wurm, an einen Jona (welche Demütigung für den Propheten!), an eine große Stadt mit ihrer ganzen Bevölkerung und ihrem König, an die kleinen Kinder, die nicht in der Lage sind, zwischen ihrer rechten und linken Hand zu unterscheiden, an eine Menge Vieh, das die Ställe füllt. „Wo ist nun dein Herz in Vergleich mit meinem?“ sagt der Vater aller zu Jona. „Dein Egoismus macht dich blind in Bezug auf das, was ich bin, und du zürnst? Ist es recht, dass du zürnst? Bin ich denn deinetwegen erzürnt?“ Das Herz Jonas wird gerichtet, zumindest wird es von seinem Egoismus und Stolz überführt.
Der gerechte Hiob musste eine ähnliche Erfahrung machen, aber das Wort Gottes zeigt uns bei ihm die Ergebnisse davon. Nachdem er den Schöpfer-Gott, den Vater aller, von Angesicht zu Angesicht kennengelernt hat, ruft er aus: „Ich verabscheue mich und bereue in Staub und Asche“ (Hiob 42,6). Jona dagegen trifft auf Gott und wagt zu sagen: „Mit Recht zürne ich bis zum Tod!“ (4,9) Das ist in diesem Buch das letzte Wort des Propheten Israels. Die Seeleute fahren glücklich und voller Freude über das beruhigte Meer; Ninive hat Buße getan und freut sich seiner Errettung; die Blicke des Vaters aller suchen die unwissendsten seiner Geschöpfe, um sie zu segnen; ein Einziger bleibt abseits, er, der Träger der Geheimnisse Gottes, düster und zornig, da er so sehr mit sich selbst beschäftigt ist, dass er das Herz seines Gottes nicht erkennt!
Wie wir jedoch schon mehrfach gesagt haben, steht diese unumschränkte Güte des Vaters aller dem Bösen niemals gleichgültig gegenüber. Der gleiche Vater richtet alle nach ihren Werken (Off 20,13). Er richtet diejenigen, die sich auf das Meer hinauswagen und dem Schutz ihrer falschen Götter vertrauen; Er richtet seine Zeugen, die in einem Geist des Ungehorsams sich von Ihm entfernen; Er richtet eine Nation voll böser Wege und Gewalttat; Er verschont niemanden, damit Er alle Menschen retten kann. Selbst wenn der Wille des Menschen, der bei Gläubigen häufig hartnäckiger und eigensinniger als bei den schlimmsten Sündern ist, darin verharrt, Ihm zu widerstehen und zu widersprechen, zürnt der Vater aller nicht, sondern übt Geduld, eine Geduld, von der wir in dieser Geschichte weder das Ergebnis noch das Ende sehen.
1 Die Zwischenüberschriften der einzelnen Kapitel wurden der Übersichtlichkeit halber von den Herausgebern eingefügt.↩︎
2 Ich glaube, dass Jona diese andere Mission zuvor ausgeführt hat, da das Wort „und“, mit dem das Buch Jona – genau wie einige andere Bücher des Alten Testamentes wie z. B. Josua, Ruth, 1. Samuel, Hesekiel – beginnt, anzudeuten scheint, dass die dann im Folgenden aufgezeichneten Begebenheiten in Verbindung mit Dingen stehen, die mehr oder weniger kurze Zeit zuvor stattgefunden haben.↩︎
3 Diese Bedrängnis wird auch „Drangsal für Jakob“ (Jer 30,7) und „die große Drangsal“ (Mt 24,21) ganz allgemein genannt. Vergleiche auch in Verbindung mit dem Wort „Bedrängnis“ oder „Drangsal“ die vielen Stellen in den Psalmen und Propheten, die diese Gedanken aufgreifen.↩︎
4 Vgl. dazu auch das Buch „Betrachtungen über die Psalmen“ von Henri Rossier und hier vor allem das Kapitel „Die Stufenlieder“, erschienen im Ernst Paulus Verlag, Neustadt.↩︎