Behandelter Abschnitt Joh 20,1-31
Jesus, der Zertreter der Schlange, ist auferstanden, nachdem Er durch den Tod den zunichte gemacht hat, der die Macht des Todes hatte.
Hier möchte ich für einen Augenblick abschweifen und bemerken, dass der Geist Gottes in allen Schriften die Geheimnisse des Lebens und Todes entfaltet. Er möchte unsere Seelen mit einem tiefen Gefühl davon erfüllen, dass wir das Leben verloren haben, und zwar unwiederbringlich, soweit unser Tun in Frage kommt, aber auch davon, dass wir es in Christus wiedererlangt haben, und zwar ebenfalls unvergänglich und für immer.
Gott ist „der lebendige Gott“, und als solcher handelt Er auf diesem Schauplatz des Todes. Er trat mitten hinein in diesen Schauplatz des Todes als der lebendige Gott. Hätte Er anders kommen können? Wir können sicherlich sagen, dass Er der Herrlichkeit Seines Namens wegen in keinem anderen Charakter hätte erscheinen können. Sein Sieg als der lebendige Gott auf diesem Platz des Todes ist die Auferstehung. Wenn man die Auferstehung leugnet, kennt man Gott nicht und leugnet auch, dass der lebendige Gott hier war und sich mit dem Zustand dieser verderbten, todgeweihten Welt beschäftigte.
Es ist gesegnet, das zu verstehen, und doch ist es eine sichere und einfache Wahrheit. Gott zog sich als der lebendige Gott zurück, und handelte getrennt von der Welt und außerhalb dieses Schauplatzes des Todes. Wenn Sein Geschöpf, das Er mit höchster Würde ausgestattet und über die Werke Seiner Hände gesetzt hatte, untreu geworden war, wenn Adam Ihn sozusagen enttäuscht, sich von Ihm abgewandt und dadurch den Tod eingeführt hatte, so hat Gott auf sich selbst geschaut - es ist wunderbar, das sagen zu können - und aus sich selbst geschöpft. Dort, in Seinen eigenen Hilfsquellen und in den Vorkehrungen, die Er selbst trifft, findet Er das Heilmittel. Dieses besteht in Seinem Sieg als der lebendige Gott - dieser Sieg ist die Auferstehung - in Seiner eigenen Quelle des Lebens, trotz aller Eroberungen der Sünde und des Todes, mögen sie so groß sein, wie sie wollen. Das ist es, was Er in dieser Welt getan hat. Mag der Tod erscheinen, mag das Gericht über die Sünde bereit sein, ausgeführt zu werden, Er hat eine Versöhnung für die Sünden geschaffen, Er bringt aus dem gerechten Urteil und Gericht des Todes Leben hervor. Für dies alles ist der auferstandene Jesus unser Siegel.
Dies war der dritte Tag, der bestimmte Tag, der Tag, an dem Abraham seinen Sohn gleichsam aus den Toten wieder erhielt, der Tag der verheißenen Wiederbelebung Israels (Hos 6,2) und auch der Tag, an dem Jona wieder ans Land gespieen wurde.
Aber die Jünger kennen ihren Herrn noch nicht in Auferstehung. Sie kennen Ihn nur, „nach dem Fleisch“. Deshalb ist Maria früh am Grab, um Seinen Leib zu suchen. In derselben Absicht laufen Petrus und sein Gefährte kurz nach ihr zum Grab, mit bloßer körperlicher Anstrengung, aber nicht in der Kraft des Glaubens. Dort erblicken sie aber nicht Ihn, sondern nur die Trophäen Seines Sieges über die Macht des Todes. Sie sehen „die ehernen Türen und die eisernen Riegel“ zerbrochen. Die Leinenentücher und das Schweißtuch, das um den Kopf des Herrn gewickelt war, als wäre Er ein Gefangener des Todes, lagen da als eine Beute des Überwinders über den Tod. Die ganze Waffenrüstung des Starken wurde hier in seinem eigenen Haus gleichsam zur Schau gestellt. Das verkündet laut, dass Der, der das Ende des Todes und die Vernichtung des Hades ist, vor kurzem an diesem Platz war und Sein glorreiches Werk vollbracht hat. Aber die Jünger verstehen das nicht; sie kennen die Schriften noch nicht, dass Er aus den Toten auferstehen müsse, und gehen wieder nach Hause.
Maria indessen verweilt noch an der heiligen Stätte und will sich nicht trösten lassen, weil ihr Herr nicht da war. Sie hätte gern Sacktuch genommen, wie eine andere Frau (2Sam 21,10), und es sich auf dem Felsen ausgebreitet, wenn sie nur Seinen Leib hätte finden können, um ihn zu bewachen und zu bewahren. Sie weinte, bückte sich nieder, um in das Grab zu schauen, und sah die Engel. Aber was waren die Engel für sie? Ihr Anblick erschreckte sie nicht wie die anderen Frauen (Mk 16,5); sie war zu sehr mit anderen Gedanken beschäftigt, als dass sie durch sie hätte erschreckt werden können.
Die Engel waren gewiss erhabene Wesen, die dort in weißen Kleidern saßen, in himmlischer Würde, der eine zu dem Haupt, der andere zu den Füßen des Platzes, wo der Leib Jesu gelegen hatte. Aber was bedeutete aller Glanz für sie? Sie suchte und begehrte nur den toten Leib ihres Herrn und wandte sich von diesen himmlischen Herrlichkeiten ab, aber lediglich um weiter zu suchen. Da sieht sie, wie sie meint, den Gärtner und sagt zu ihm: „Herr, wenn du ihn weggetragen, so sage mir, wo du ihn hingelegt hast, und ich werde ihn wegholen.“ Sie sagt einfach: „Wenn du ihn weggetragen“, ohne den Namen Jesu zu nennen, denn in ihrer zärtlichen Liebe setzt sie voraus, dass jeder so von ihrem Herrn erfüllt sein müsse wie sie selbst.
Das mag wohl nur menschliches Gefühl und unwissende Zuneigung gewesen sein, Geliebte, aber sie galten Jesu. Wären auch in unseren Herzen solche Gefühle! Ihre Liebe suchte den richtigen Gegenstand, aber ihr Suchen war nicht weise. Aber in Seiner gewohnten Freundlichkeit und Gnade lässt der Herr sie die Frucht ihres Suchens finden. Sie hatte, und ihr wurde mehr gegeben. Sie hatte durchaus die Lektion gelernt, Christus „nach dem Fleisch“ zu erkennen. Sie war darin die Treueste von allen, und ihr Herr will sie jetzt zu einer größeren Erkenntnis über sich selbst führen, in höhere Sphären, als sie ihr bis dahin bekannt waren, zum „Myrrhenberge“ und zum „Weihrauchhügel“ (Hld 4,6).
Um dies in aller Sanftheit zu tun, antwortet Er zunächst ihrer menschlichen Zuneigung, indem Er sie noch einmal mit Seiner ihr so wohlbekannten Stimme ihren eigenen Namen hören lässt. Das war gerade der Ton, der die Gefühle ihres Herzens berührte. Es war der einzige Ton, auf den ihre Seele ansprach. Wäre Er ihr in himmlischer Herrlichkeit erschienen, wäre Er ein Fremder für sie gewesen. Aber dies sollte das letzte Mal sein, dass sie Ihn „nach dem Fleisch“ erfassen konnte. Denn Er ist jetzt aus den Toten auferstanden und auf dem Weg zu Seinem Vater im Himmel, und die Erde konnte nicht länger der Platz ihrer Gemeinschaft sein. „Rühre mich nicht an“, sagt Er zu ihr, „denn ich bin noch nicht aufgefahren zu meinem Vater“.
Ich brauche kaum darauf hinzuweisen, dass dies völlig unserem Evangelium entspricht. Im Matthäus- Evangelium sehen wir im Gegensatz hierzu, dass der Herr den von der Gruft zurückkehrenden Frauen erlaubt, Seine Füße zu umfassen und Ihm zu huldigen. Aber hier sagt Er zu Maria: „Rühre mich nicht an“, denn das Johannesevangelium zeigt uns den Herrn inmitten Seiner himmlischen Familie, nicht in Seinem Königtum in Israel und in Seiner irdischen Herrlichkeit. Zweifellos ist die Auferstehung das Unterpfand aller irdischen Herrlichkeit und des Reiches (Apg 13,34), aber sie war auch eine Stufe auf dem Weg zu den himmlischen Örtern. Und diesen Gesichtspunkt stellt uns das Johannesevangelium vor.
Maria genießt, wie wir gesehen haben, als erste das Vorrecht, diese höheren Wege Seiner Gnade und Liebe kennen zu lernen und die glückliche Überbringerin dieser guten Botschaft aus fernem und unbekanntem Land an die Brüder zu sein. Jesus sagt zu ihr: „Geh aber hin zu meinen Brüdern und sprich zu ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater und meinem Gott und eurem Gott“23.
So wird Maria geehrt, und sie geht, um die Brüder für ihren Herrn zuzubereiten, während Er sich vorbereitet, ihnen mit einer Segnung zu begegnen, die über alles hinausging, was sie bisher erfahren hatten. Marias Botschaft scheint die Jünger in der Tat vorbereitet zu haben. Denn als Er sie am Abend desselben Tages sieht, sind sie nicht erstaunt oder ungläubig, wie sie es im Lukas-Evangelium sind, sondern sie scheinen alle auf Ihn zu warten. Sie sind nicht länger zerstreut wie vorher (V. 10), sondern zusammengebracht als die Familie Gottes, und Er tritt als der Erstgeborene der Brüder in ihre Mitte, beladen mit der Frucht Seiner heiligen Tätigkeit für sie.
Dies war in der Tat eine besondere Zusammenkunft. Es war ein Besuch des himmlischen Vaters durch den Erstgeborenen bei der Familie auf einem Platz, der jenseits des Todes und außerhalb der Welt lag. Und das ist der für das Zusammentreffen mit unserem Herrn vorgesehene Platz. Die, welche im Geist in der Welt sind, begegnen Ihm niemals, denn Er ist der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der Gott der Fremdlinge und Pilger. Die Welt ist ein befleckter Ort, und wir müssen Ihm in Auferstehung in dem Reich begegnen, das nicht von der Welt ist.
So stand es hier um den Herrn und Seine Brüder. Er begegnete ihnen jetzt in der ersten Zeit wirklich, auf dem bestimmten Platz außerhalb der Welt und in keinem anderen Charakter als dem Seiner eigenen Brüder. Jetzt begann Er, Seine Gelübde zu bezahlen, die Er auf dem Kreuz getan hatte (Ps 22,23). Zuerst wollte Er den Brüdern den Namen des Vaters verkündigen und zweitens inmitten der Versammlung Ihn loben. Das erste dieser Gelübde begann Er jetzt zu bezahlen, und Er hat es die ganze gegenwärtige Haushaltung hindurch getan, indem Er durch den Heiligen Geist unsere Seelen mit dem Namen des Vaters bekannt machte. Das zweite wird Er ebenso gewiss bezahlen, wenn alle Brüder versammelt sind und Er auf ewig ihren Lobgesang in Auferstehungsfreude anführt.
Jetzt wird auch das verheißene Leben tatsächlich mitgeteilt. „Noch eine kleine Zeit, und die Welt sieht mich nicht mehr; ihr aber seht mich: weil ich lebe, werdet auch ihr leben“ (Joh 14,19). Der Sohn Gottes, der Leben in sich selbst hat, kommt nun damit zu den Seinen. Er haucht in sie, wie Er einst in des Menschen Nase gehaucht hatte (1Mo 2). Allerdings war dies der Odem des letzten Adam, des lebendig machenden Geistes, der ein Leben mitzuteilen hatte, das aus der Macht des Todes gewonnen und daher für den Tod völlig unerreichbar war. Die Brüder lernten jetzt den Frieden des Kreuzes kennen. Er zeigt ihnen Seine Hände und Seine Seite. Ihre Traurigkeit ist zur Freude geworden, denn sie freuten sich, „als sie den Herrn sahen“. Er offenbarte sich ihnen, wie Er es der Welt gegenüber nicht tut. Die Welt war von dieser Zusammenkunft völlig ausgeschlossen, und die Jünger, die von der Welt gehasst waren, sind abgeschlossen in ihrem eigenen Kreis, um dort eine besondere Offenbarung von Ihm selbst zu empfangen, wie Er zu ihnen gesagt hatte (Joh 14,22-24). In der Welt hatten sie Bedrängnis, in Ihm aber Frieden.
Alles dieses wurde ihnen zuteil in diesem kurzen, aber gesegneten Besuch des „Erstgeborenen aus den Toten“ bei Seinen Brüdern, indem Er ihnen den Segen mitteilte, der ihnen als Kindern zukam. So war diese kurze Unterredung ein Beispiel der Gemeinschaft, die wir in der gegenwärtigen Haushaltung genießen. Unsere Gemeinschaft mit Christus ändert weder unsere Stellung in der Welt noch erleichtert sie die natürlichen Lebensumstände. Sie lässt uns an einem Ort der Prüfungen, aber wir sind glücklich in Ihm und in dem vollen Bewusstsein Seiner Gegenwart und Gunst. Wir sind belehrt über unser Einssein mit Christus. Durch die Sohnschaft und unsere Gemeinschaft mit dem Vater erfreuen wir uns eines unerschütterlichen Friedens; wir erfreuen uns Seiner Auferstehung aus den Toten und besitzen in dem auferstandenen Herrn das uns mitgeteilte Leben. Sahen wir vorhin auf dem fernen Schlachtfeld die Waffenrüstung des besiegten Feindes, so erblicken wir hier die Frucht des Sieges heimgebracht, um die Familie des Siegers zu erfreuen und zu stärken.
Diese Früchte des Sieges des Sohnes Gottes sollen jetzt in heiligem Triumph in alle Welt getragen werden. „Wie der Vater mich ausgesandt hat, sende auch ich euch“, sagt der Herr zu Seinen Brüdern. Mit einer Botschaft der Gnade, nicht des Gerichts, war Er selbst vom Vater gekommen, und mit einem Auftrag derselben Gnade werden jetzt die Brüder ausgesandt. Sie werden von dem Herrn des Lebens und des Friedens ausgesandt, und durch einen solchen Dienst prüfen sie den Zustand jeder lebenden Seele. Die Botschaft, die sie bringen, ist von dem Sohn des Vaters; es ist die Botschaft eines in Ihm und durch Ihn völlig gesicherten Friedens und Lebens. Heute wie damals gilt das Wort: „Wer den Sohn hat, hat das Leben; wer den Sohn Gottes nicht hat, hat das Leben nicht“ (1Joh 5,12), und der Herr fügt hinzu, indem Er sie in diesem Punkt zu Zeugen macht über den Zustand jedes einzelnen, ob er den Sohn hat oder nicht: „Welchen irgend ihr die Sünden vergebt, denen sind sie vergeben, welchen irgend ihr sie behaltet, sind sie behalten.“
Das war die erste Zusammenkunft des Herrn mit Seinen Jüngern nach Seiner Auferstehung aus den Toten. Sie stellt uns die Heiligen als Kinder des Vaters vor und ihren Dienst als solche, und sie gibt uns ein Beispiel oder eine Erstlingsfrucht jener Ernte im Heiligen Geist, die sie seit jeher in der gegenwärtigen Haushaltung eingesammelt haben.
Obwohl es mich ein wenig von meinem Gegenstand abbringt, kann ich es mir doch nicht versagen zu erwähnen, dass der vom Herrn Seinen Jüngern nach Seiner Auferstehung aus den Toten anvertraute Dienst in jedem der Evangelien einen anderen Charakter trägt. Wie jedes Evangelium einen bestimmten Zweck verfolgt, dem entsprechend die Erzählungen ausgewählt und berichtet werden, so sind auch die vom Herrn bei der Beauftragung der Jünger mit diesem Dienst gebrauchten Worte dem besonderen Charakter eines jeden Evangeliums angepasst.
Im Matthäus-Evangelium lautet der Auftrag folgendermaßen: „Geht nun hin und macht alle Nationen zu Jüngern, und tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, und lehrt sie, alles zu bewahren, was ich euch geboten habe.“ Dieser Auftrag war für die Apostel, die vom Herrn bereits eingesetzt und mit Ihm als dem Diener der Beschneidung (Röm 15,8) verbunden waren, genau umschrieben. Sie werden als in Jerusalem seiend betrachtet, um von dort ausgehend alle Nationen zu Jüngern zu machen und sie zu lehren, die Verordnungen und Gebote des Herrn zu bewahren. Denn es ist der Zweck dieses Evangeliums, den Herrn in Seinen Beziehungen zu den Juden als die Hoffnung Israels darzustellen, zu dem hin die Sammlung der Nationen erfolgen sollte. Demgemäß wird die Bekehrung der Nationen und die Sammlung der ganzen Welt um Jerusalem als dem Mittelpunkt der Anbetung vorausgesetzt. Ein System wiederhergestellter, gehorsamer und mit Israel gesegneter Nationen wird gesehen werden, und der auferstandene Herr hat dieses vor Augen, wenn Er in Matthäus Seinen Aposteln diesen Auftrag erteilt24.
Im Markus-Evangelium dagegen ist diese Aussicht auf die Bekehrung des Volkes weitgehend eingeschränkt. Die Worte des Auftrages lauten hier: „Geht hin in die ganze Welt und predigt das Evangelium der ganzen Schöpfung. Wer da glaubt und getauft wird, wird errettet werden; wer aber nicht glaubt, wird verdammt werden.“ Hier sollen nicht die Nationen zu Jüngern gemacht werden, sondern es wird ihnen ein allgemeines Zeugnis anvertraut, das nur teilweise angenommen werden würde. Denn das Markus-Evangelium zeigt den Herrn als den Knecht oder den Diener, und es wird vorausgesetzt, dass einige das Wort annehmen und andere wieder es verwerfen werden, weil dies das Ergebnis jedes Dienstes des Wortes ist, wie es an einer Stelle heißt: „Und einige wurden überzeugt von dem, was gesagt wurde, andere aber glaubten nicht“ (Apg 28,24).
Im Lukas-Evangelium überträgt der Herr den Jüngern, nachdem Er ihnen Moses, die Propheten und die Psalmen erklärt und ihr Verständnis geöffnet hat, um die Schriften zu verstehen, den Auftrag in folgender Form: „So steht geschrieben, und dass der Christus leiden und am dritten Tag auferstehen sollte aus den Toten, und in seinem Namen Buße und Vergebung der Sünden gepredigt werden sollten allen Nationen, angefangen von Jerusalem. Ihr aber seid Zeugen hiervon; und siehe, ich sende die Verheißung meines Vaters auf euch. Ihr aber, bleibt in der Stadt, bis ihr angetan werdet mit Kraft aus der Höhe.“ Dieser Auftrag scheint nicht nur an die Elf, sondern auch an andere gerichtet zu sein (S. Lk 24,33). Ihr Dienst sollte mit Jerusalem beginnen und nicht von Jerusalem ausgehen; auch wurde ihnen nicht gestattet, zum Dienst auszugehen, bevor sie neue Kraft empfangen hatten. Dadurch wird gewissermaßen eingeräumt, dass das, was sie vom Herrn empfangen hatten, während Er auf der Erde war, nicht ausreichend war; es bedeutete einen Bruch mit der rein jüdischen Ordnung. Deshalb trug der Auftrag einen dem Lukas-Evangelium entsprechenden, etwas veränderten Charakter, weil dieses den Herrn mehr draußen zeigt und nicht in so strengen jüdischen Verbindungen.
Aber hier bei Johannes begegnen wir diesem Auftrag überhaupt nicht, auch wird hier „die Kraft aus der Höhe“ nicht erwähnt25. Wir hören einfach von dem Leben, das von dem auferstandenen Menschen mitgeteilt wird, und von der Aussendung der Jünger mit diesem Leben in sich, um durch die Kraft dieses Lebens den Zustand jeder Seele zu prüfen. Der Herr gibt ihnen ihren Dienst gleichsam vom Himmel aus und nicht von dem Berg in Galiläa. Er sendet sie vom Vater aus und nicht von Jerusalem. Denn in unserem Evangelium hat der Herr alle Erinnerungen an Jerusalem und jede Hoffnung auf eine Wiederherstellung Israels und eine Sammlung der Nationen für die Gegenwart aufgegeben.
Dieser Unterschied im Wortlaut des Auftrages für den Dienst ist sehr beachtenswert und in Anbetracht der Absichten eines jeden der Evangelien kostbar und vollkommen. Der reine Vernunftmensch mag daran Anstoß nehmen, aber wer die Schrift achtet und gern ihr uneingeschränktes Ansehen bewahren möchte, wird auf mancherlei Wegen versuchen, die wörtliche Übereinstimmung dieser Dinge zu beweisen. Aber das Wort Gottes, Geliebte, bedarf keiner Protektion und keiner Rechtfertigung, mag sie auch noch so gut gemeint sein. In allen diesen Dingen gibt es keine Ungereimtheit, sondern nur Vielfältigkeit, und diese Vielseitigkeit entspricht vollkommen den verschiedenen Absichten und Zwecken desselben Geistes. Trotz dieser Vielfalt stimmen alle Gedanken und Worte überein und sind alle zusammen göttlich. Uns bleibt nur übrig, Gott zu preisen für die Zuverlässigkeit, den Trost und die das volle Genüge Seiner eigenen vollkommenen Zeugnisse. Möge der Herr bei allen unseren Betrachtungen unsere Sinne und alle Überlegungen unserer Herzen bewahren!
Wir verließen den Herrn in Gemeinschaft mit Seinen Brüdern. Er versetzte sie in die Stellung von Kindern des Vaters und erhob sie in himmlische Örter. Aber Seine Vorsätze betreffen sowohl Israel als auch die Kirche. In späteren Tagen wird Er Israel zur Buße und zum Glauben rufen und ihnen ihre rechtmäßige Stellung und ihren Dienst geben. Diese Dinge finden wir nun der Reihe nach dargelegt.
Thomas war, wie wir lesen, nicht bei den Brüdern, als der Herr sie besuchte. Er hatte seinen ersten Zustand nicht bewahrt, sondern war abwesend, während die kleine Versammlung sich in Bereitschaft hielt für ihren auferstandenen Herrn. Und jetzt weigert er sich, seinen Brüdern ohne das weitere Zeugnis seiner eigenen Hände und Augen zu glauben. Wie Thomas weisen auch die Juden bis auf den heutigen Tag das Evangelium und die gute Botschaft von dem auferstandenen Herrn zurück.
Aber das sollte nicht so bleiben. Thomas nimmt seinen Platz unter den anderen wieder ein und ist „nach acht Tagen“ wieder in Gemeinschaft mit den Brüdern. Dann zeigt Jesus sich ihm, und dieser zweite Besuch geschah um Thomas‘ willen. Der ungläubige Jünger wird dahin gebracht, Ihn als seinen Herrn und seinen Gott anzuerkennen. So wird auch bald, „nach acht Tagen“, nachdem eine volle Woche oder Haushaltung vergangen ist, im Land Israel gesagt werden: „Siehe da, unser Gott, auf den wir harrten, dass er uns retten würde; da ist der Herr, auf den wir harrten! Lasst uns frohlocken und uns freuen in seiner Rettung!“ (Jes 25,9). Israel wird dann Immanuel anerkennen, und wie der Herr hier Thomas annimmt, wird Er dann zu Israel sagen: „Du bist mein Volk.“
Doch ist hier noch einiges mehr als bezeichnend zu vermerken. Wohl nimmt der Herr Thomas auf, aber gleichzeitig sagt Er ihm: „Weil du mich gesehen hast, hast du geglaubt. Glückselig sind, die nicht gesehen und geglaubt haben!“ So wird es auch mit Israel in späteren Tagen sein. Sie werden den Frieden des Kreuzes kennen lernen, den völligen Frieden aus der durchbohrten Hand und Seite Jesu, wie sie hier Thomas gezeigt wurden, aber ihre Segnung wird die der Kirche nicht erreichen. Sie werden Leben empfangen von dem Sohn Gottes, aber sie werden nur auf dem Schemel Seiner Füße wandeln, während die Kirche auf dem Thron sitzen wird (Off 5).
Hier endet das Geheimnis des Lebens sowohl für die Kirche jetzt wie auch später für Israel, und unser Evangelist hält daher einen Augenblick inne. Dies war das Evangelium Jesu Christi, des Sohnes Gottes, damit jeder, der an Ihn glaubt, Leben habe in Seinem Namen. Vieles hätte hinzugefügt werden können, aber das Gesagte genügt, um Ihn als den Sohn, die Quelle des Lebens, zu bezeugen. Das dritte Zeugnis Gottes war nun gehört worden. Das Wasser und das Blut waren aus der Seite des gekreuzigten Sohnes geflossen, und jetzt war der Geist durch den auferstandenen Sohn gegeben. Diese drei trugen das Zeugnis auf der Erde und konnten vernommen werden, und das Zeugnis Gottes, dass „er uns ewiges Leben gegeben hat, und dieses Leben ist in seinem Sohn“, war deshalb vollkommen. Unser Evangelist kann sagen: „Diese aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr glaubend Leben habt in seinem Namen.“
23 Hier möchte ich wiederum auf einen anderen charakteristischen Unterschied in den Evangelien aufmerksam machen. In Matthäus lautet die Botschaft, dass sie Ihm in Galiläa begegnen sollten, und die Jünger folgen der Aufforderung. Hier aber nennt Er keinen Ort auf der Erde, sondern Er sagt einfach, dass Er zum Himmel auffahren werde, um ihnen dort im Geist vor Seinem und ihrem Vater, vor Seinem und ihrem Gott, zu begegnen.↩︎
24 Ich möchte bemerken, dass hier die Tür der Hoffnung für Israel noch nicht völlig verschlossen war. Das Zeugnis des Heiligen Geistes durch die Apostel über den auferstandenen Jesus war noch nicht verworfen worden. Die Möglichkeit, dass dieses Zeugnis angenommen wurde, konnte noch vorausgesetzt werden, und der Herr scheint dies im Matthäus- Evangelium anzunehmen.↩︎
25 Ja, selbst das Wort „Apostel“ kommt in diesem Evangelium nicht ein einziges Mal vor, und das entspricht seinem Charakter.↩︎