Behandelter Abschnitt Joh 19,1-42
So führt in diesem Evangelium das gute Bekenntnis vor Pilatus die Gedanken des Herrn in völlige Übereinstimmung mit diesem Evangelium. Während Er darauf beharrt und eine Zeitlang bereit ist, für sich selbst Rede und Antwort zu stehen, weiß Er sich doch in höchstem und heiligstem Dienst, ja, ich möchte sagen, diesen Seinen göttlichen Dienst konnte niemand anders erfüllen als der Eingeborene vom Vater, der im Schoß des Vaters ist und der voller Gnade und Wahrheit war.
Das ist sehr eindrucksvoll. Und wenn wir nun dem Herrn hin zum Kreuz folgen, so finden wir Ihn doch als den Sohn Gottes. Wir sehen Seinen Anspruch auf das Reich mit aller Autorität bezeugt; der Feind hätte ihn gern ausgelöscht, aber er kann nichts tun. Pilatus, der vorher die Ansprüche Jesu missachtet und verachtet hatte, indem er zu den Juden sagte: „Siehe, euer König!“, will jetzt diese Ansprüche in den Hauptsprachen der Erde bekannt gemacht wissen, und es steht nicht in der Macht der Juden, wie vorher, seinen Sinn zu ändern. Das Kreuz soll das Banner des Herrn sein, und der Herr will es mit den Insignien Seiner königlichen Würde zieren, mag die Erde auch noch so böse darüber sein.
Nur das Johannesevangelium berichtet uns diese Unterredung zwischen Pilatus und den Juden über die Inschrift des Kreuzes, denn sie sprach von der Herrlichkeit Jesu. Ebenso ist es nur unser Evangelist, der den gewebten Leibrock erwähnt, den die Soldaten nicht zerreißen wollten, an sich ein unbedeutender Umstand, aber er hilft uns, in völliger Harmonie mit unserem Evangelium, die heilige Würde Dessen im Auge zu behalten, der durch diese Stunde der Finsternis hindurchging.
Hier legt der Herr auch Seine menschlichen Zuneigungen ab. Er sieht Seine Mutter und Seinen geliebten Jünger in der Nähe des Kreuzes stehen, aber Er vertraut sie nur einander an, um sich selbst von dem Platz zu lösen, den Er einst unter ihnen ausgefüllt hatte. Es ist in der Tat lieblich zu sehen, wie treu Er sich bis zum letzten Augenblick zu diesen Zuneigungen bekennt. Keine Sorge um sich selbst oder seine Leiden, obwohl diese bitter genug waren, wie wir wissen, ließ Ihn das vergessen. Aber nicht immer sollte Er diese Zuneigungen kennen. Die Söhne der Auferstehung heiraten nicht, noch werden sie verheiratet. Sie sollten Ihn von nun an nicht mehr „nach dem Fleisch“ kennen. Er musste jetzt ihre Erkenntnis von Ihm durch andere Gedanken ersetzen, denn hinfort waren sie mit Ihm als mit „einem Geist“ verbunden. So sind Seine gesegneten Wege. Wenn Er Abstand von uns nimmt, indem Er uns nicht mehr „im Fleisch“ kennt, so geschieht es nur, damit wir Ihm in noch näheren Beziehungen und noch innigeren Zuneigungen verbunden seien.
Wenn wir, um tiefer zu schauen als nur auf die Umstände dieser Stunde, auf den Geist des Herrn am Kreuz Acht haben, werden wir wiederum den Sohn Gottes erkennen. Er dürstete; Er schmeckte den Tod, gewiss; Er kannte die Trockenheit des Landes, wo der lebendige Gott nicht war, aber Sein Gefühl darüber findet doch den Ihm geziemenden Ausdruck. Er bricht nicht in den Schrei aus: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Das wird uns an geeigneterer Stelle berichtet. Hier wird dieser Ruf nicht erwähnt, hier gibt es kein Verwundern des Geistes, keine schreckliche dreistündige Finsternis. Auch übergibt Er sich hier nicht dem Vater. Aber es gibt hier ein einfaches: „Mich dürstet“, und nachdem Er den Essig genommen hat, sagt Er: „Es ist vollbracht!“, indem Er die völlige Erfüllung aller Dinge bezeugt. Er befiehlt Sein Werk nicht der Anerkennung Gottes an, sondern Er versiegelt es mit Seinem eigenen Siegel, bezeugt es als vollendet und gibt ihm die ausreichende Bestätigung Seiner eigenen Befriedigung. Nachdem Er auf diese Weise alles als vollendet bezeugen konnte, übergibt Er selbst Sein Leben.
Es waren starke Gemütsbewegungen, in welchen Er durch diese Stunden ging, und diese Stunden endeten jetzt. Der Sohn Gottes war jetzt vollendet worden als der Urheber ewigen Heils für alle, die Ihm gehorchen, und der „Quell für Sünde und für Ungerechtigkeit“ ist nun geöffnet. Das Wasser und das Blut kamen hervor zum Zeugnis, „dass Gott uns ewiges Leben gegeben hat, und dieses Leben ist in seinem Sohn“ (1Joh 5,8-12). Wir finden hier nicht das Bekenntnis des Hauptmanns: „Wahrlich, dieser war Gottes Sohn“, noch die Frau von Pilatus, auch nicht die rechtfertigenden Worte von Judas.
Jesus empfängt hier kein Zeugnis von Menschen, sondern nur von Gott. Das Wasser und das Blut sind die Zeugnisse Gottes über Seinen Sohn und über das Leben, das Sünder in Ihm finden können. Es war Sünde, die Ihn durchbohrte, und die Tat des Soldaten war ein Beispiel von der Feindschaft des Menschen. Es war der hinterhältige Schuss des geschlagenen Feindes nach der Schlacht, der unüberhörbare Ausdruck des in der Tiefe des menschlichen Herzens sitzenden Hasses gegen Gott und Seinen Christus. Aber es war gleichzeitig auch die Offenbarung der Reichtümer der überströmenden Gnade, in der die Liebe Gottes darauf antwortete. Die Speerspitze des Soldaten wurde gerötet von dem Blut, und die rote Flut kam hervor, um die rote Sünde hinwegzuspülen.
Das Blut und das Wasser flossen aus der geöffneten Seite des Sohnes Gottes. Jetzt war der Versöhnungstag in Wahrheit angebrochen, und das Wasser der Reinigung sowie die Asche der roten Kuh wurden gesprengt. Das war das Lamm, welches Abel geopfert, und das Blut, das Noah vergossen hatte, das der unumschränkten Gnade Gottes den Sündern gegenüber freie Bahn machte (1Mo 8,21). Dies war der Widder des Berges Morija und das Blut, das täglich um den ehernen Altar im Tempel floss. Es ist das Blut, welches das einzige Lösegeld der ungezählten Tausende vor dem Thron Gottes ist.
Wenn auch der Leib des Herrn durchbohrt war, um die Quelle von Blut und Wasser zu werden, so durfte er doch nicht gebrochen werden. Das Passahlamm musste getötet, aber nicht ein Bein von ihm durfte zerbrochen werden. Es diente in allem den Vorsätzen göttlicher Liebe zum Schutz des Erstgeborenen, aber darüber hinaus war es geheiligt. Keine rohe Hand durfte es berühren. Jesus konnte sagen: „Alle meine Gebeine werden sagen: Herr, wer ist wie du, der du den Elenden errettest vor dem, der stärker ist als er, und den Elenden und Armen vor dem, der ihn beraubt“ (Ps 35,10). Die Kirche ist Sein Leib; Er ist das Haupt, und wir sind die Glieder. Alle Glieder dieses einen Leibes, obwohl es viele sind, bilden einen Leib, und kein Gebein dieses geheimnisvollen Leibes darf fehlen. Denn seit alter Zeit sind alle in Gottes Buch eingeschrieben und auf ausgezeichnete Weise gebildet und zusammengefügt, jedes einzelne von ihnen (Ps 139,16).
So sehen wir unseren Herrn in diesem Evangelium am Kreuz. In jedem Charakterzug sehen wir den Sohn Gottes. Und wenn wir Ihm vom Kreuz zum Grab folgen, sehen wir Ihn wiederum als den Sohn Gottes. Wir sehen Ihn dort nicht „den Übertretern beigezählt“ und nicht bei den Gesetzlosen in Seinem Tod. Sein Grab ist bei einem Reichen. Zwei geehrte Söhne Israels kommen und bekennen sich zu Ihm, sie nehmen Seinen Leib ab, um ihre Gewürzsalben und ihre Bemühungen der Liebe diesem Leib zu weihen.
Hierüber möchte ich noch einiges bemerken. Wenn der Leib des Herrn durchbohrt wurde, so geschah das nicht nur, um, wie oben bemerkt, das Zeugnis Gottes, das Blut und das Wasser, zu verkünden, sondern auch zur Erfüllung der Schrift: „Sie werden den anschauen, den sie durchstochen haben.“ Diese Worte, die von Israels Buße in späteren Tagen reden, geben der Tat Josephs und Nikodemus‘ eine vorbildliche Bedeutung und machen diese zu Repräsentanten des bußfertigen Israel. Sie erscheinen als letzte in der Reihenfolge des Glaubens. Sie fürchteten sich vor ihrem ungläubigen Volk, vor dem Tadel der Synagoge, und hatten nicht bei dem Herrn in Seinen Versuchungen ausgeharrt, sondern sie waren nur heimliche Jünger. Sie waren trägen Herzens; trotzdem bekennen sie sich am Ende zum Herrn und werden dahin gebracht, Den anzuschauen, den sie durchstochen haben. Sie nehmen den Leib mit der durch den Speer des Soldaten verursachten Wunde vom Kreuz herunter, und dabei mussten sie notwendigerweise Seine Hände, Seine Füße und Seine Seite sehen. Sie werden getrauert haben, denn ihre Herzen waren weich geworden beim Anblick des Gekreuzigten. So wird es einst mit Israel sein. Sie kommen zuletzt in der Ordnung des Glaubens und sind trägen Herzens, aber schließlich werden sie kommen und Den anschauen, den sie durchstochen haben, und über Ihn Leid tragen, wie man über den Erstgeborenen Leid trägt.
So war es jetzt mit Joseph und Nikodemus, und so wird es bald mit den Bewohnern Jerusalems sein. Diese beiden Israeliten beanspruchen als wahre Söhne Abrahams den Leib des Herrn und balsamieren ihn ein in der Glaubensweise der Patriarchen (1Mo 50,2.26). Als wahre Untertanen des Königs von Israel ehren sie Ihn mit den Ehren eines Sohnes Davids (2Chr 16,14). Sie spenden viele und kostbare Gewürzsalben und legen den Leib in dem Garten in ein neues, unbeflecktes Grab, in das bis jetzt der Geruch des Todes noch nicht gedrungen war.
Für den Augenblick endet hier alles. Hier, im zweiten Garten, möchte ich sagen, liegt nun der zweite Mensch im Tod. Im ersten Garten, in dem der erste Mensch lebte, hatte er Zutritt zu dem Baum des Lebens, aber er hatte in dem Irrtum seines Weges den Tod gewählt. Hier, im zweiten Garten, haben wir die Strafe, den Tod. Jesus erleidet den Tod, ohne von der Frucht des Baumes der Erkenntnis gegessen zu haben. Im ersten Garten befanden sich alle Arten von Bäumen, „lieblich anzusehen und gut zur Speise“, aber hier sieht man nichts als das Grab Jesu. Was den Menschen betrifft, endete so die Sünde des Menschen. Aber warten wir ein wenig! Trotz allem wird der Sohn Gottes bald der Tod des Todes und der Vernichter des Hades sein! Um Leben und Unverweslichkeit ans Licht zu bringen, pflanzt Er wiederum für den Menschen den Baum des Lebens in den Garten. Warten wir den dritten Morgen ab! Und dieser Garten, der jetzt nur ein Zeugnis vom Tod Jesu ist, wird den Sohn Gottes in Auferstehung und Sieg sehen, in siegreichem Leben für den Sünder.
Dies finden wir am Anfang von Kapitel 20.