Fritz Binde
Schriften von Fritz Binde
1Kor 7,23 - Werdet nicht der Menschen Knechte!1Kor 7,23 - Werdet nicht der Menschen Knechte!
«Ihr seid teuer erkauft, werdet nicht der Menschen Knechte!»
Zweimal schreibt der Apostel Paulus den Korinthern: »Ihr seid teuer erkauft!« Wie Sklaven, die ihr Herr um einen Preis gekauft hat, werden die Gläubigen an das ausschließliche Eigentumsrecht erinnert, das Gott in Christus Jesus über sie gewonnen hat und geltend macht. An den ersten diesbezüglichen Hinweis (1Kor 6,20) knüpft der Apostel die Aufforderung: »Darum preist Gott an eurem Leib! « und bringt damit zum Ausdruck: Ihr gehört mit Leib, Seele und Geist nicht mehr euch selbst, sondern eurem himmlischen Herrn! Die zweitgenannte Warnung aber will sagen: Ihr gehört auch nicht den Menschen!
Es ist allezeit sehr nötig, diese Warnung neu zu beachten. Denn das Glaubensschifflein strandet immer an zwei Klippen: herrschender Eigenwille heißt die eine, knechtender Fremdwille die andere. Die einen verführen sich selbst durch ihren blinden Eigensinn, die anderen werden verführt durch den blendenden Herrschersinn anderer Menschen. Meist wohnen sogar beide Gefahren in einem und demselben Menschen. Lasst uns daher der bedeutsamen Warnung des Apostels ein williges Ohr leihen!
Wie beschämend ist es da zunächst, dass Gottes Wort die Menschen vor den Menschen warnen muss! Ja, die Menschheit ist ein gefährliches Geschlecht geworden, wer sich vor diesem Geschlecht nicht in Acht nimmt, wird von ihm mit ins Verderben hinab gezogen. In unserem selbstsüchtigen Eigenwillen haben wir den allernächsten Feind gegen Gott, und im Allgemeinen selbstsüchtigen Menschenwillen haben wir denselben Feind millionenfach um uns. Darum ist die Heilige Schrift tatsächlich der eine, große Protest Gottes gegen alles Menschliche. Dem Worte Gottes im Glauben rechtgeben, heißt deshalb in die Gegenwehr gegen uns selbst und alles Menschliche eintreten. Eine tatsächlich buchstäblich außerordentliche Stellungnahme!
Es war und blieb die Stellungnahme Jesu unter den Menschenkindern. Nie leitete ihn Eigenwille, nie knechtete ihn der Menschen Wille. Ganz gebunden an seinen Vater in den Himmeln, ging er beinahe losgelöst von jeder menschlichen Beeinflussung. Bedeutete es nicht geradezu die Beiseitesetzung der natürlichen menschlichen Blutsbande und nahezu die grundsätzliche Loslösung von der Familie, als er seine Mutter mitsamt seinen ihn suchenden, draußen stehenden Brüdern mit der Frage abwies: »Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder?« und die Hand über seine Jünger ausstreckend sagte: »Siehe, meine Mutter und meine Brüder . . . !« (Mt 12,46-50). Welche, man möchte beinahe sagen, rücksichtslose Abweisung berechtigter menschlicher Ansprüche, wenn sie irgendeinen göttlichen Anspruch störten! Desgleichen die Antwort an jenen, der sich freiwillig zur Nachfolge stellte, aber zuvor seinen Vater begraben wollte: »Lass die Toten ihre Toten begraben . . . !« (Mt 8,22). Und welcher Ärgernis erregende Abbruch aller menschlichen Beziehungen zu Nazareth, seiner Vaterstadt, in strikter Erfüllung des himmlischen Vaterwillens! (Lk 4,14-30). Und wie muss das Menschliche des »reichen Jünglings« verletzt gewesen sein, als er betrübt von Jesus hinweg ging! (Mt 19,16-22). Wie anders hätte ein »Seelsorger« von heute diesen ansprechenden, einflussreichen jungen Mann behandelt! Und was brachte die Pharisäer in tödlichen Hass? Dass Jesus ihre religiösen Satzungen und ihr frommes Gebaren als Men- schenmache entlarvte und verwarf (Mt 15,1 ff). Wie zwingend legte er ihnen den Unterschied zwischen Göttlichem und nur Menschlichem vor, als er sie fragte: »Die Taufe des Johannes, woher war sie? Vom Himmel oder von Menschen?« (Mt 21,25). Wahrlich, der Herr hat das Nur-Menschliche, wo es sich dem Göttlichen neben- oder überordnen wollte, mit rücksichtsloser Vollmacht in die niederen Schranken zurückgewiesen. Da er nun so außerordentlich widersprechend auftrat, musste er notwendig selber zu einem Zeichen werden, dem widersprochen wurde (Lk 2,34). »Wir wissen, dass du nicht das Ansehen der Menschen achtest«, bekannten die Pharisäer heuchlerisch vor ihm (Mt 22,16). Und doch brachten sie ihn gerade wegen seiner unerhörten Unabhängigkeit von Menschen unter der Begründung: »Was machst du aus dir selbst!« (Joh 8,53) aus Neid ans Kreuz. Verletzter Pharisäerdünkel war die äußere, die menschliche Ursache seiner Hinrichtung. Ohne sich vor Herodes, seinem gottlosen Landesvater, den er einmal »Fuchs« genannt (Lk 13,32), und vor Pilatus, dem machtstolzen Menschenknecht, gebeugt zu haben, befahl der Außerordentliche freiwillig, wie er sich gefangen gegeben, auch freiwillig seinen Geist in seines Vaters Hände. Der unmittelbar mit Gott Lebende konnte nur mittelbar durch Menschen sterben. Zuvor aber hatte er dem Petrus, der ihm den Kreuzesweg versperren wollte, die Antwort gegeben: »Gehe hinter mich, Satan! Du bist mir ein Ärgernis; denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist!« (Mt 16,23).
So hat Jesus, der auserwählte Knecht Gottes (Mt 12,18-21; Jes 42,1-3), in seiner unantastbaren Niedrigkeit und Hoheit uns auch ein Beispiel gelassen, was es heißt, nicht durch Eigenwillen herrschen wollen und sich nicht durch Menschenwillen beherrschen lassen wollen. Als das Abbild des unsichtbaren Gottes und Urbild wahrer Menschlichkeit erschien der Gottessohn als der verkörperte Protest gegen die gesamte Menschenart und gegen jeden menschlichen Anspruch, der dem Anspruch Gottes an uns widerstreitet.
Wie hat doch Paulus, der auserwählte Knecht Jesu Christi, dies Beispiel seines Herrn so trefflich befolgt! Vor seiner Bekehrung ein Knecht des Eigen- und Menschenwillens, hielt er die Kleider derer, die Stephanus steinigten, und war gerade im Dienste der Feinde Jesu mit Haftbefehlen auf dem Weg nach Damaskus, als er die Befreiung von jeder Menschenknechtschaft erlebte. Gerade ihm bedeutete die Erkenntnis Gottes und Christi die aus Gnaden erlangte Fähigkeit zwischen Göttlichem und Menschlichem klar zu unterscheiden. Diese Unterscheidung ordnet fortan all sein Denken und Tun. Er steht im steten Protest gegen sich und alles verwirrende Menschliche, vor dem er vorausschauend mit unerbittlichen Worten warnt. Zu tief durch die göttlichen Gnadenwirkungen in sich und anderen erfahren, hat er die Er- tragfähigkeit des alten Menschen als auf Null stehend bezeichnen müssen: nichts Gutes! (Röm 7,18). Diese Erfahrung scheidet ihn von allem Fleisch. Nie kann er sich wieder an sich selbst oder an Menschen verlieren. Er sieht sich samt Menschen und Welt im Zeichen des Kreuzes, und die Welt soll ihn so sehen (Gal 6,14). Wie sehr bleibt er sich des Gegensatzes zwischen den Wirkungen seines eigenen Wesens und den Wirkungen des Geistes Christi in sich bewusst! (Apg 16,6.7; 1Kor 9,27; 2Kor 12,7) Wie gründlich sagte er der Menschenweisheit (1Kor 2,4.13), den Menschensatzungen (Klgl 2,20; Gal 5,1), dem Herrschenwollen über Menschen (1Kor 1,13; 2Kor 1,24) und dem Beherrschtwerden durch Menschen (1Kor 9,1; Gal 2,4.5.6.11) ab! Zweifellos, Paulus war entronnen der Herrschaft des Eigenwillens und der Herrschaft des Menschenwillens. So allein vermochte er seiner hohen, himmlischen Berufung und Erwählung treu zu bleiben. Und so allein war er frei, ein Knecht Christi unter Menschen zu sein.
Erstens: damit wir nicht unserer persönlichen, himmlischen Berufung untreu werden.
Zweitens: damit wir Christi Knechte auf Erden zu sein vermögen.
Das erste ist die Voraussetzung für das zweite; denn von der rechten Erkenntnis unserer Erwählung und Berufung und deren Gefährdung durch Menschenknechtschaft hängt unser rechter Dienst für Christus ab. Es gibt, soweit ich sehe,
drei Kreise göttlicher Erwählung und Berufung.
Erstens einen weitesten Kreis der allgemeinen Erwählung und Berufung der Menschen zur Errettung aus der Sünde und vor dem kommenden Zornesgericht Gottes über die Sünder;
zweitens einen engeren Kreis der besonderen Erwählung und Berufung der Menschen nach Zeitaltern, Völkern und Volkszugehörigkeit, innerhalb deren Gott nach seinem Heilsplan die Errettung der Menschen vollzieht. Dass wir nicht vor dreitausend Jahren, sondern jetzt, und nicht in Zentralafrika, sondern hier leben, entspricht diesem zweiten Kreis göttlicher Erwählung;
drittens einen allerengsten Kreis der persönlichen Erwählung und Berufung, der eigentlich immer nur ein Punkt ist, nämlich ein menschliches Eigenleben bedeutet. Dass ich bin, wer ich bin, ist einmalig, und dass ich als solcher von Gott innerhalb der beiden ersten Kreise erwählt und berufen bin, ist ebenso einmalig. Was will das aber besagen? Eben davon lasst uns hören.
Es bedeutet für eine gläubige Seele: Kind Gottes, werde das, wofür du, gerade du, erschaffen, erwählt und berufen bist! Hat dein Leben eine einzigartige Bedeutung, dann hat es auch einen einzigartigen Wert, der in deiner einzigartigen Bestimmung liegt. Diese deine Bestimmung sollst du um jeden Preis erkennen und erreichen. Zu nichts gehört eine feinere, zartere, sorgsamere, geistlichere Aufmerksamkeit, als dazu, die Linie in deinem Leben herauszufinden, die Gott vor Grundlegung der Welt für dich abgemessen und abgesteckt hat, dass sie deine Lebenshilfe werde. Mit Furcht und Zittern dein Seelenheil schaffen, heißt da nichts Geringeres als: Herr, lass mich dir in keiner Weise entgleiten! Lass mich ganz werden, wozu ich geboren und wiedergeboren, erwählt und berufen bin! Welch ein verantwortungsreiches, wach- sames Glaubensleben bringt das! Es ist das Ende aller Ich- und Menschenherrschaft. Es ist der Weg
durch Selbstverneinung zur Selbstgewinnung.
Manche meinen, Selbstverneinung sei Selbstvernichtung. Das ist unvernünftig und unbiblisch. Wir haben nichts Kostbareres als unser Selbst. Aus diesem Selbst soll ein Ewigkeitswert für Gott werden. Eben dazu muss alles Gottfeindliche in uns verneint und ausgeschieden werden. Das Gottfeindlichste in uns ist aber unsere vermeintliche Selbständigkeit als Ichherrschaft wider Gott und Menschen. Selbstverneinung ist nur die Verneinung unserer Selbständigkeit als Selbstherrlichkeit. Es sei hier wiederholt: Die Selbstverneinung schließt nicht das Selbst- bewusstsein aus, sondern schließt es in allerhöchstem Maße in sich ein. Man muss ein Selbst haben, um ein Selbst geben zu können. Jesus hatte das größte Selbstbewusstsein und infolgedessen das Vermögen zur größten Selbsthingabe als Preisgabe jeder Selbstherrlichkeit. Und je mehr auch wir die eigenwillige, eigenmächtige Selbstherrlichkeit unseres persönlichen Lebens preisgeben, desto gottgewollter, gottesmächtiger und gottesherrlicher werden wir gerade unser persönliches Leben gewinnen (Mt 16,25).
Diese Erkenntnis schließt aber auch die andere Seite in sich ein, nämlich durch
Selbstbehauptung zur Selbstgewinnung.
Hier handelt es sich um unsere Stellung den Menschen gegenüber. Gott will nie unser persönliches Selbst auslöschen, aber die Menschen trachten beinahe durchweg danach. In dem Maße als die Menschen eigenmächtig und selbstherrlich Gott gegenüber bleiben, treten sie auch eigenmächtig und selbstherrlich ihren Mitmenschen gegenüber auf. Je weniger sie sich von Gott in Christus beherrschen lassen wollen, desto mehr werden sie ihre Mitmenschen zu beherrschen suchen. Eben da heißt es: Werdet nicht der Menschen Knechte um eures von Gott geprägten einmaligen Selbst willen, in dem euch Gott erwählt und berufen hat! Lasst dieses Selbst nicht durch der Menschen herrschlüsterne Ansprüche verwirrt, verwüstet und seiner göttlichen Bestimmung entzogen werden! Ihr gehört Gott in Christus an, behauptet euch gegen die Herrschsucht selbstherrlicher Menschen! Siehe aber bei der Befolgung dieser Mahnung ja gut zu, dass du nicht etwa nur deine eigene eigenwillige Selbstherrlichkeit gegenüber der Selbstherrlichkeit anderer zu behaupten suchst, wie es so nahe liegt und leider so vielfach geschieht! Mancher trotzt: Werdet nicht der Menschen Knechte! und ist doch nichts anderes als ein trotziger Ichknecht.
Denn es herrscht ebenso sehr Mangel an gottgewolltem Selbstbewusstsein unter den Gläubigen wie andererseits Überfluss an eigenwilligem Selbstbewusstsein. Auf der einen Seite billige, fromme Dutzendware, immer unreif, immer ungeistlich, ungeübt und urteilslos, immer nur unpersönliche Mitläufer und Anhänger, die nie zu sich selber aufgewacht sind, nie eine Sonderprägung Christi werden konnten, die weniger Schwache im Glauben sind, sondern Verkrüppelte im Glauben durch eigene Trägheit in der Erkenntnis Christi und ihrer hohen göttlichen Berufung. Sind sie nicht immer Knechte der Menschen? Auf der anderen Seite wie viele biblisch äußerlich wohlgeschulte, selbstbewusste Ichlinge, die glückselig sind, wenn sie nur irgendwo und irgendwie sich geltend machen, ein Röllchen spielen, in Selbstklugheit lehren und Selbstherrlichkeit regieren können. Immer sind sie überlegen, immer selbstweise, selbstgerechte Kritiker der anderen, und reden in Hochmut fließend von der Demut und vom ganz nahen Kommen des Herrn. Sie sind es, die uns weismachen möchten, ihr armseliges Menschliche sei bereits das Göttliche und ihre Sorte Christentum die einzig zukunftsfähige auf Erden und im Himmel. Und zwischen beiden Lagern die wenigen in Christus von sich und Menschen freigewordenen Seelen, die nicht mehr in selbstischer Anmaßung sich über andere erheben, aber auch nicht mehr von der Anmaßung anderer sich bedrücken lassen wollen. Oh wie erquicken sie doch, wenn man ihnen durch Gottes Gnade begegnet, diese wahrhaft freien, wahrhaft vornehmen Seelen, in deren Gegenwart man vertrauen darf, weil man es ihnen anmerkt, dass sie ohne selbstische Absicht denken, reden und handeln, die gerade, weil sie nicht herrschen wollen, um so gewisser durch Christus im Glauben herrschen (Röm 5,17), und gerade, weil sie sich nicht menschlich beherrschen lassen wollen, um so freiwilliger und wahrhaftiger in dienender Demut gehen. Wir wollen uns doch sehr ernstlich fragen, ob wir zu diesen erquickenden Menschen, diesen allein echten Söhnen des Friedens, gehören; denn der Ichmensch sinnt immer auf Krieg.
Betrachten wir nun praktisch die Gefährdung unserer hohen Erwählung und Berufung durch die üblichen
Formen der Menschenknechtschaft.
Da ist an erster Stelle die allgemeine Menschenfurcht zu nennen. Wie bezeichnend für den gefallenen Menschen, dass er seine Mitgeschöpfe mehr fürchtet als seinen Schöpfer! Die nie vor Gott gezittert, zittern vor vergänglichen Menschen! Von diesen glauben sie sich abhängig, aber von Gott unabhängig! So suchen sie statt der Gotteshilfe die Menschenhilfe und lieben die Ehre bei Menschen mehr als die Ehre bei Gott (Joh 12,43). Wie viele Erweckte kommen nicht zur vollen Bekehrung wegen dieser elenden Menschenfurcht! Statt glückselige Knechte Christi zu werden, bleiben sie erbärmliche Menschenknechte. Und die Männer erweisen sich hier feiger als die Frauen. Es ist gewiss, dass Christus mehr aus feiger, blasser Menschenfurcht als um grober, roher Sündenliebe willen verleugnet wird.
Im scheinbaren Gegensatz zur blassen Menschenfurcht steht die bunte Menschenvergötterung. Und doch ist auch sie nur eine Abart der Menschenfurcht; denn auch sie entstammt der törichten Überschätzung der Menschennatur. Die Ehrfurcht und hingebende Liebe, die zuallererst Gott zukommt, wird dem Geschöpf, dem »Abgott«, dargebracht. In dieser abgöttischen Kreaturenliebe stehen auch noch viele Gläubige. Ihr Fleisch begehrt noch das Fleisch; ihre ungestillte Seele verliert sich noch an die andere Seele. Man liegt gebunden und versklavt in erlaubten und unerlaubten, offenbaren und geheimen Neigungen, die es einem unmöglich machen, Jesus nachzufolgen, Erwählung und Berufung festzumachen und Christi Knecht zu werden. Zu dieser Form der Menschenknechtschaft gehört auch die fromme Abgötterei: Knechte und Mägde Gottes sind ihr Gegenstand. Aus Dankbarkeit ihnen gegenüber wird Verhimmelung, aus Verehrung Vergötterung. Blindlings hängt man an unzulänglichen Staubgeborenen, deren Bild je länger desto mehr das Bild Christi verdrängt, und schwört auf sie, bis man durch Entdeckung ihrer so genannten Schattenseiten allmählich oder plötzlich enttäuscht wird. Aber welches Unheil birgt solche Menschenknechtschaft in sich! Eine besondere Form dieser Knechtschaft ist sodann die lei-ige Nachahmungssucht gegenüber dem vergötterten Vorbilde. Man möchte nur noch werden wie der Abgott ist. So ahmt man ihn nach in Sprache, Kleidung, Haltung, Gebärden, Schrift und Dienst und setzt sich in solcher albernen Menschenknechtschaft ein ganz falsches Ziel, das uns nicht werden lässt, was wir nach Gottes Willen werden sollen. So gesegnet das Studium edler Vorbilder ist, so fluchvoll kann das sklavische Hängenbleiben an ihnen werden. Für wie viele gibt es nur einen annehmbaren Gottesknecht, nur eine vorbildliche Magd des Herrn, und alles andere ist in ihren Augen und in ihrem Munde nichts. Da sie sich so für die wahrhaft Freien halten, sind sie zu bedauerlichen Knechten der Menschenvergötterung geworden. Sie können wohl der Abdruck ihres Abgottes werden, aber niemals ihre eigene persönliche Bestimmung erreichen.
Dieser massenhaft betriebenen, abgöttisch-knechtenden Verehrungssucht steht die knechtende Herrschsucht zahlloser Einzelner gegenüber. Diese Art geht planmäßig darauf aus, sich den Menschen überzuordnen, um sie dem eigenen Willen gefügig zu machen. Es gibt eine göttliche Gnadengabe, in der Arbeit für den Herrn gebietend und ordnend ein- und durchzugreifen (1Kor 12,28), indem Gott neben Aposteln usw. auch »Helfer« und »Regierer« in der Gemeinde gesetzt hat, deren göttliche Gnadengabe zur Erfüllung ihrer göttlichen Gnadenaufgabe dienen soll. Aber wehe, wenn diese Berufenen samt unzähligen Unberufenen sich zu eigenwilligen Herren in der Gemeinde aufwerfen! Und es wimmelt von solchen fleischlichen Herrschernaturen, großen und kleinen Päpsten, wie man sie nennt. Nicht alle sind von Natur aus herrschsüchtig gewesen. Viele sind es erst geworden durch eben die sklavische Verehrungssucht ihrer Verehrer und Verehrerinnen. Ihre Anhängerschaft hat sie auf den Thron gesetzt. Welch unheilvolle Krönung! Nun kennen diese »Herren« nur eines: Herrschen! Und es ist furchtbar unheimlich, wahrzunehmen, wie sie dabei die geistliche Aufsicht über sich selbst verloren haben, indem sie immer blinder ihren Eigenwillen mit Gottes Willen verwechselten. Wehe dem, der nicht ihr Gepräge anerkennt und annimmt! Sie können ihm nie verzeihen. Wehe dem, der bewusst oder unbewusst in ihr Reich eindringt! Ihre geheime oder offene Rachsucht kennt da keine Grenzen. Und wie viele werden und bleiben solcher Menschen Knechte!
Unser Herr hat einst gesagt: »Ihr wisset, dass die Fürsten der Völker sie unterjochen, und dass die Großen sie vergewaltigen; unter euch aber soll es nicht also sein . . . « (Mt 20,25.26). Und Paulus schrieb damals: »Nicht dass wir Herren seien über euren Glauben, sondern wir sind Gehilfen eurer Freude; denn ihr stehet im Glauben« (2Kor 1,24). Die ganze Kirchengeschichte ist eine einzige Sündengeschichte angesichts dieses Christus- und dieses Apostelwortes; denn sie ist die Geschichte der weltförmigen Herrschsucht im so genannten Reiche Christi. Unterjochung und Vergewaltigung des Glaubenslebens anderer durch herrschsüchtige Glaubensgenossen, ist die schändlichste und verderblichste aller Formen der Menschenknechtschaft. Früher wurde sie mehr im Großen betrieben, jetzt wird sie nicht minder schändlich im Kleinen und einzelnen ausgeübt. Kleine Päpste legen allenthalben ihre Joche auf. Nur ihre Meinung, Auslegung und Art darf gelten. Nur ihre Glaubensregel wird geduldet. Alles andere wird von ihnen verdächtigt und verketzert. Soweit ihr Einfluss reicht, wird alles planmäßig ih- rer allein gültigen Auffassung untertan gemacht und fein oder grob innerlich vergewaltigt. Mit welchem Ergebnis? Starre, öde Gedankenlosigkeit ringsum, platte oder ängstliche oder auch dummstolze Nachschwatzerei des immer wieder Gehörten, unbrauchbare Stumpfheit oder knechtsselig funktionierende Dienstbarkeit oder aufgestachelte, angelehrte Parteilichkeit, jedenfalls aber hässlich und bedauerlich verkrüppeltes Seelenleben, verdorbene Entwicklung, verfehlte Bestimmung. Der Gräuel menschlicher Verwüstung an der heiligen Stätte eines Menschenherzens. Ich kenne ganze Gemeinschaften, ja ganze Gemeinschaftsgebiete, die von solchen ichstarken Herrschernaturen in geistliche Wüsteneien verwandelt worden sind. Sie sind Knechte von Menschen geworden.
Sehr oft aber erzeugt Druck Gegendruck, und dann kommt es in solchen versklavten Herden zu Aufständen. Ein Gegenherrscher, den die eigene Herrschlust und der Neid geschult, tritt auf und reißt die Gewonnenen mit sich unter das Banner seiner Lehre und in den Bann seines Wesens. Wieder ein Verderber im Weinberg mehr. So entsteht und blüht das knechtende Rotten- und Sektenwesen. Für mich ist Sekte alles was nicht Christus, das Haupt, im gemeinsamen Wachstum festhält (Kol 2,18-23), sondern sich selbst als Haupt gebärdet. Da muss man sich dann unterscheiden durch Sonderlehren, Sondergebräuche, Sonderheiligkeit, in denen man nach eigener Wahl einhergeht in Demut und Geistlichkeit der Engel, in seinem aufgeblasenen fleischlichen Sinn, in eigenwilligem Gottesdienst. Sektenwesen entsteht immer durch herrschsüchtigen Eigenwillen; darum ist es gleichbedeutend mit Menschenknechtschaft, möge es im Größten oder im Kleinsten wirksam sein, möge es als breite Hierarchie (Priesterherrschaft) oder als Konventikel (Winkelwesen) regieren. Wo Menschenwesen herrscht, herrscht Sektenwesen.
Und da herrscht auch immer der knechtende religiöse Betrieb. Er ist heute die häufigste Form der Menschenknechtschaft unter den Gläubigen. Man hat dem Staate, den Machtkirchen, dem Sozialismus und Industriealismus das Organisieren nachgeahmt und das Glaubensleben auf menschlich gelegten Geleisen in Bewegung setzen wollen. Da sollte es nach menschlicher Zahl und Zeit laufen. Da sollten die Erfolge äußerlich gemessen, gezählt und gebucht werden wie die Geschäfts-Erfolge in einem Kontor oder die statistischen Erhebungen im Amt. Dazu bedurfte es, genau wie in den weltlichen Betrieben, der Arbeitsteilung und äußerlich geordneten Arbeitsleistung. Dies führte aber, ungleich schädlicher als in weltlichen Betrieben, zur abstumpfenden Arbeitseintönigkeit und zugleich zur aufreibenden Arbeitshetze. Da blieb immer weniger Zeit und Raum für unmittelbare göttliche Geisteswirkungen, die sich ja nicht nach der Uhr der Menschen richten. Und doch sollte immer etwas geschehen; denn man wollte doch »Erfolge« sehen. So trat denn immer unheilvoller an Stelle des Wirkens Gottes das eigenmächtige Wirken der Menschen, die menschliche »Mache«, die kulturell-religiöse »Leistung«, und damit die elende Versklavung an den religiösen Betrieb, diese Geist, Seele und Leib tötende Form der modernen Menschenknechtschaft.
Wie viele arme Sklaven zerarbeiten sich heute in ihrem Dienst! Wie viele »Reichsgottesarbeiter« sind doch nur religiöse Tagelöhner, nämlich schauerlich arme Menschenknechte! Nur noch zwangsmäßige Abhängigkeit von Menschen, vorgesetzten Behörden, Komitees, Vorständen usw. bewegt sie. Und diese Behörden, Komitees, Vorstände usw. selber sind nichts anderes als meist überlastete, gehetzte Sklaven ihres Amtes und Pöstchens, oder richtiger: ihrer vielen Ämter und Pöstchen, die sie nicht mehr zu wahrhaft geistlichem Atemholen kommen lassen. Auf der anderen Seite aber steht die gläubige Menge, die nun von Gottesdienst zu Gottesdienst, von Versammlung zu Versammlung gehetzt wird, so viel hört, so wenig behält, noch weniger lebt, so viel läuft und so wenig erjagt, so viel liest, so wenig weiß, so Herrliches ersehnt und so Gewöhnliches aufweist! Was kann denn bei all diesem geräuschvollen Betrieb anderes herauskommen als Selbstbetrug und Betrug anderer, nämlich innere Leere = äußerer Wortschwall, innere Erschöpfung = äußeres Heldenspiel, innerliche Überführung von Unwahrhaftigkeit = äu- ßerliches Streiten für die Wahrheit, Entartung der Persönlichkeit, Verlust am göttlichen Selbst! Wohl denen, die im verödenden Dienste des religiösen Betriebes bereits zu dieser notwendigen Einsicht gelangt sind! Und wehe denen, die vor lauter Dienstrausch oder Predigtzauber den Fluch des knechtenden religiösen Betriebes, der sie bannt, nicht einmal spüren! Oh Menschenknechtschaft, unsere hohe Erwählung und Berufung schwer beeinträchtigende, ja gefährdende Menschenknechtschaft! Eine böse Seite der menschlich-religiösen Betriebsherrschaft unter Gläubigen ist die Titel- und Geldherrschaft. Es gibt doch keinen ehrenderen Titel als den Titel »Bruder« und »Schwester im Herrn«; ich wenigstens wünsche mir keinen höheren und bedauere es allemal, wenn Kinder Gottes mich statt »Bruder« »Herr« nennen. Ja, ich will lieber missbräuchlich »Bruder« als gebräuchlich »Herr« genannt werden. Wie viel weniger sollte doch bei Christen »Herr« statt »Bruder« gelten! Aber es ist leider umgekehrt. Wer irgendwie innerlich noch ein »Herr« sein möchte, hört sich auch gerne
äußerlich so nennen. Darum ertragen viele den biblischen Titel »Bruder« ebenso wenig, wie sie sonstige biblische Wahrheiten, die der Selbstherrlichkeit ans Leben gehen, nicht ertragen mögen. Mir graut immer ein wenig vor jedem als gläubig bezeichneten Menschen, den ich nicht freimütig »Bruder« oder »Schwester« nennen kann. Da ist immer ein Bann von Menschenknechtschaft. Wie sind wir da Sklaven einer so bezeichnenden Weltsitte geworden. Wo unterjocht und vergewaltigt wird, da mag der Titel »Herr« ein beliebter und doch ach, so täuschender Klang sein, aber bei Kindern Gottes soll es nicht also sein; da heißt nur einer »Herr«; wir alle aber sind Brüder (Joh 13,13; Mt 23,7-11). Wie
aber, wenn man sich in gläubigen Kreisen gar nicht genug tun kann mit An- und Aufführungen von Titeln, denen gegenüber der Titel »Herr« beinahe eine nackte Schande ist! Lest sie nur, die großartigen Unterschriften unter großartigen Aufschriften, die prunkenden Rednerlisten und stolzen Komiteeherrennamen! Lest sie nur, damit ihr sehen lernt, wie Gottes Volk auch nach dieser Seite hin das Apostelwort nötig hat: »Werdet nicht der Menschen Knechte!« Und das gilt auch in Bezug auf die Geldherrschaft. Die Jak 2,1-9 bezeichnete Sünde geschieht unter uns alle Tage. Wo reiche Brüder infolge ihrer Geldmacht in Gemeinde oder Gemeinschaft herrschen, sind andere Brüder gewöhnlich so gut
wie entmündigt. Was der Mann mit dem »goldenen Ring« und »herrlichem Kleide« sagt, geschieht. Es ist aber andererseits sehr zu betonen, dass es unter Gläubigen auch eine demokratische Herrschsucht gibt, die nichts mit Christi Geist zu tun hat, sondern dem Zeitgeist entstammt, dessen Züge sie trägt; denn sie pocht auf Menschenrechte, und ihre fleischlichen Waffen heißen: Neid, Begehren nach Besitz, Macht und Genuss, Ichtrotz, Klassentrotz. Auch da gilt: »Werdet nicht der Menschen Knechte!«
Wo und wie aber auch menschlicher Herrschgeist sich unter Kindern Gottes entfaltet, überall und immer zeitigt er die gleichen Früchte, nämlich Ungeduld, Unbarmherzigkeit, Ungerechtigkeit, infolgedessen ist sein Gesamtergebnis geistliche Unfruchtbarkeit. Wie der menschliche Herrschgeist in der Gemeinde wirkt, habe ich einmal aus dem Munde eines geistgesalbten Führers gehört, der sich selber seines früheren harten Herrscherregimentes anklagte. Seine Stimme bebte vor bitterer Reue, als er erklärte: »Mein größter Fehler war die Ungeduld. Ich konnte weder auf die Einzelnen noch auf die Gemeinde warten. Ich wollte vorwärts. Ich wollte zum geistlichen Ziele hin. Aber ich bediente mich dabei fleischlicher Mittel und wusste es nicht. Wenn jemand von meinen Leuten sein Ich nicht so schnell und so gründlich in den Tod geben wollte, wie ich es wünschte und selber glaubte getan zu haben, so schlug ich ihn »tot«. Ja, ich habe auch einige unbarmherzig tot getreten. Nun war ihr Ich ertötet, aber keine Spur von Christi Leben entwuchs diesem Tod. Was der Geist hatte tun wollen, hatte meine Herrscherfaust getan, aber zum fruchtlosen Verderben.« Welch ein erschütterndes, lehrreiches Bekenntnis! Möge es allen Seelsorgern zur Warnung dienen, gleichwie es auch mir gedient hat. Dieselbe Unfruchtbarkeit wirkt derselbe Herrschgeist in der Familie. Wie manches Ehepaar hat mir schmerzlich erklärt: »Keines unserer Kinder ist bekehrt. Aber wir sind selber daran schuld. Wir sind zu streng gewesen. Wir glaubten in gewissen Jahren die Bekehrung erzwingen zu müssen, und damit hatten wir alles verdorben. Wir wollten eben selber machen, was allein Gott wirken kann. Nun können wir nur noch beten, der Herr möge unsere Torheit wieder gut machen.« Müssen nicht auch Frauen in Bezug auf ihre Männer dasselbe bekennen, und umgekehrt Männer in Bezug auf ihre Frauen?
So hat also die Menschenknechtschaft vielerlei Formen, aber immer die gleiche geisttötende Wirkung. Stets entspringt der Herrschsinn dem Eigensinn, sei es in guter oder böser Absicht. Und stets entspricht auch der Sklavensinn irgendeinem törichten Eigensinn; denn Christi Sinn macht weder selbstbewusste Gebieter noch an Menschen verkaufte Sklaven.
Wie aber entfliehen wir sowohl dem Verderben der Herrschsucht als auch dem der Knechtschaft?
Nicht dadurch, dass wir es aufgeben, auf Menschen zu wirken, und auch nicht dadurch, dass wir es vermeiden, Menschen auf uns wirken zu lassen. Sondern allein dadurch, dass wir Menschen in Christus werden, die mehr und mehr allein von ihm beherrscht, auch mehr und mehr allein ihm dienen, und zwar gerade mitten unter den Menschen. In ihm sind wir erwählt, in ihm allein werden wir, was wir werden sollen für uns und für die Menschen. Lernen wir es also
inmitten der Menschen nach oben leben!
Das ist befreiende Glaubensarbeit. Das ist bindende Gebetsarbeit. Das ist Einsamkeit im Gedränge. Das ist Festigkeit bei aller Beweglichkeit, Selbsthingabe und Selbstgewinnung in einem. Von Jesus uns beherrschen lassen, macht uns zu Herrschern unter den Menschen ohne Herrschsucht und ist die einzige Sicherheit gegen jede Beherrschung durch Menschen. Abhängigkeit von ihm gibt eine staunenswerte Unabhängigkeit von allen Staubgeborenen. Aus ihm leben, zu ihm hinleben, ist die einzige Gewähr für die Erreichung unserer ewigen Bestimmung in persönlicher Vollendung. Nach oben leben erhebt uns über die Menschen und macht uns doch nicht hochmütig. Nach oben leben löst uns von den Menschen und trennt uns doch nicht von ihnen. Nach oben leben entrückt uns allem Jammer der Erde und macht uns doch nicht mitleidslos. Nach oben leben bringt uns völlige Geduld und lässt uns doch keine Zeit versäumen. Nach oben leben nimmt uns alle Sorgen und hält uns doch in der einen Sorge, der Verbindung nach oben, nämlich das Leben in Christus nicht zu verlieren. Nach oben leben das heißt, getreu unserer himmlischen Erwählung und Berufung, das Gotteswunder unserer menschlich-persönlichen Einmaligkeit erleben, die ihre besondere Arbeit bringt auf Erden und ihre gottgewollte, persönliche Herrlichkeit bringen wird im Himmel.
Die besondere, ureigene Arbeit auf Erden - das leitet uns hinüber zum zweiten, das wir betrachten wollen. Denn wir müssen uns nicht nur hüten, der Menschen Knechte zu werden, damit wir unser göttliches Selbst nicht verlieren und unserer ewigen, himmlischen Erwählung und Berufung nicht untreu werden, sondern wir dürfen auch nicht Knechte der Menschen werden, weil wir sonst nicht Christi Knechte auf Erden zu sein vermögen.
Nicht nur die Erhaltung unseres Persönlichkeitswertes, der sich mit dem Werte unserer Seele deckt, nötigt uns zur Befreiung aus der Menschenherrschaft, sondern praktisch sind wir ganz besonders zur Abweisung der Menschenknechtschaft genötigt, weil wir sonst nicht Freiheit erlangen und behalten, Christi Knechte zu werden und zu bleiben. Unsere himmlische Erwählung und Berufung wird in irdischer Arbeit, nämlich im Dienst für den Herrn festgemacht. Befreiung von der Menschenknechtschaft soll uns praktische Freiheit zum und im Dienste Christi bringen. Ein Menschenknecht kann kein Knecht Christi sein. Das ist das Entscheidende. Viele versuchen es, den Menschen und dem Herrn zu dienen, aber sie können es nicht vollbringen. Der Gegensatz bleibt und zwingt uns zum Entweder-Oder. Aber wunderbar! Je ungeteilter wir Christi Knechte werden, desto ungeschmälerter kommt unser Knechtsdienst für den Herrn den Menschen zugute. Also müssen wir auch um der Menschen willen, nämlich um ihnen wirklich dienen zu können, aufhören, der Menschen Knechte und Diener zu sein. Das lasst uns verstehen lernen.
Schauen wir Jesus an, wie er in allem, was er tat, doch nur Gott allein diente. Denn wäre der Sohn Gottes ein Menschendiener gewesen, so wäre er ein Sündendiener gewesen (Gal 2,17). Das sei ferne! Nur weil sein Dienst vollkommener Gottesdienst war, konnte er den Menschen völlige Erlösung bringen. Wie unvergleichlich hat sich der Herr dienend den Menschen geneigt; aber er hat dabei nur das Werk getan, das der Vater ihm aufgetragen hatte, dass er es tun sollte. Alles geschah, damit die Schrift als die Offenbarung des unverbrüchlichen Vaterwillens erfüllt würde und die Menschen glauben sollten an den, der den Sohn gesandt hatte. Wie sehr dabei Jesus jeden selbständigen Eigenwillen und jeden andringenden fremden Menschenwillen ausschloss, haben wir einleitend ein wenig gesehen. Sein Tun wurde nur göttlich bestimmt, nie menschlich. So sehen wir den, den die Menschen mit Recht »Herr« nannten (Joh 13,13), als aller Knecht und Diener (Mt 23,11), und er war doch ganz allein Gottes auserwählter Knecht. Wie aber waren die Pharisäer, die alles durch sich selbst und vor Menschen taten, und sich dabei rühmten: »Wir sind nie jemandes Knecht gewesen!« (Joh 8,33) richtige Ich- und Menschenknechte! Und schauen wir Paulus an. Gleichwie die anderen Apostel bezeichnet er sich grundsätzlich als »Knecht«, eigentlich Sklave Jesu Christi. Die Apostel hätten sich ja auch »Freunde« Jesu Christi nennen können; denn der Herr hat einmal zu ihnen gesagt: »Ich sage hinfort nicht, dass ihr Knechte seid, denn ein Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Euch aber habe ich gesagt, dass ihr Freunde seid; denn alles, was ich von meinem Vater gehört habe, habe ich euch kundgetan. Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch gebiete« (Joh 15,14). Und sie hätten sich auch »Brüder« Jesu Christi nennen können; denn der Auferstandene trug der Maria auf: »Gehe hin zu meinen Brüdern . . . « (Joh 20,17). Aber nein, sie nannten sich grundsätzlich Knechte Jesu Christi. Warum wohl? Nun ich denke, um ihre bedingungslose Abhängigkeit von ihrem Herrn und ihre ebenso bedingungslose Unabhängigkeit von den Menschen zum Ausdruck zu bringen. So gab es für sie keinen höheren Dienst- und zugleich Freiheitsgrad als eben den »Knechte Jesu Christi«. Das hat Paulus, der »geringste unter den Aposteln« (1Kor 15,9), ganz besonders bezeugt. Keiner hat seine totale Abhängigkeit von Jesus so betont wie er. Von und durch Jesus Christus wusste er Apostelamt, Offenbarungen, Evangelium, Weisheit und Predigt, also allen Dienst empfangen zu haben, in dem er seinem Herrn ein Sklave geworden war. Aber eben deshalb wusste er sich auch in der Gebundenheit an seinen Herrn frei allen Menschen gegenüber. »Predige ich denn jetzt Menschen oder Gott zu Dienst?« fragte er die unverständig gewordenen Galater. »Oder gedenke ich, Menschen gefällig zu sein? Wenn ich den Menschen noch gefällig wäre, so wäre ich Christi Knecht nicht« (Gal 1,10). Deutlicher kann man seine Freiheit in Christus nicht zum Ausdruck bringen. Und wunderbar! Derselbe Mann, der solche Sprache führt, schreibt den in sich selbst verengten Korinthern: »Denn wiewohl ich frei bin von jedermann, habe ich mich doch zu jedermanns Knecht gemacht, auf dass ich ihrer viele gewinne« (1Kor 9,19). Und dann führt er auf, wie er allen alles geworden ist, auf dass er auf alle Weise etliche errette (1Kor 9,20-23). So hat der große Apostel, um den Menschen recht zu dienen, aufgehört, ihr Knecht zu sein, und um Christus recht zu dienen, ist er aller Knecht geworden. Wie treulich hat Paulus seinen Meister verstanden!
Von hier ging auch Luther aus, als er im Jahre 1520 an den Anfang seiner Schrift: »Von der Freiheit eines Christenmenschen« die zwei Beschlüsse setzte: »Ein Christenmensch (Knecht Christi) ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch (Knecht Christi) ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.« Wie haben wir doch diese apostolische und reformatorische Begründung des Gesetzes der vollkommenen Dienstbarkeit so schmählich vergessen! Und wie haben wir es, angesichts der verführerischen Zeitideen und falschen Freiheitsbestrebungen, die auch die Gläubigen erfassen, so hochnötig, neu in dieser allein heilsamen, christlichen, vollkommenen Freiheit und vollkommenen Dienstbarkeit zu stehen und zu bestehen! Werden wir ganze Knechte Christi, wie Paulus, wie Luther, und wir werden ganz freie Herren und ganz frohe Diener! Nichts hilft uns, der Gemeinde und der Welt, als dieses!
Aber der größte Feind dieser gottseligen freien Dienstbarkeit ist und bleibt eben die betrügerische, ichselige Versklavung an uns selbst; denn sie führt allezeit auch zur unseligen Versklavung an die Menschen. Heute wollen Millionen nicht mehr der Menschen Knechte sein, aber dieselben Millionen wollen auch nicht Christi Knechte werden, sondern selbstherrlich leben, und gerade deshalb bleiben sie der Menschen Knechte. Denn wer selber Herr sein will, braucht die Menschen immer irgendwie als Knechte, und eben dadurch begibt er sich in die Abhängigkeit von Menschen, die ihm dann selber zur Knechtschaft wird, weil er die Menschen zur Aufrechterhaltung seiner Herrschaft nötig hat, und weil diese wiederum selber Herren sein wollen. Nur einer und eines kann diese fluchvolle gegenseitige Versklavung auflösen und beenden: Christus unser einziger Herr, wir einzig seine Knechte allein! Allen Menschen aber freie Diener.
Dann tun wir je länger desto mehr alles, was wir Menschen dienend tun, nicht mehr um unseretwillen, auch nicht um der Menschen willen, sondern tatsächlich um Christi willen. Tun wir, was wir tun, um unseretwillen, das heißt im Eigenwillen zum Eigennutz, so beanspruchen und erwarten wir selbstsüchtigen Menschen gerade dann um so mehr Anerkennung, Ansehen, Dank und Lohn. Und die raffinierteste Selbstsucht ist dabei die scheinbar selbstlose Selbstsucht, die zu vornehm ist, um den gewünschten Lohn von Menschen zu erwarten und zu empfangen, sondern sich selbst mit dem Bewusstsein der Uneigennützigkeit belohnt und bewertet. Der Mensch kommt eben niemals durch sich selbst von sich selbst los; er bleibt ein Knecht seiner selbst, bis er Christi Knecht geworden ist.
Und tun wir andererseits, was wir tun, um der Menschen willen, so werden wir Sklaven ihres und unseres Ansehens, ihrer und unserer Artverschiedenheit, Begierden, Launen, Einfälle, Ausfälle, Vorliebe und Ablehnung, Vorzüglichkeit und Abscheulichkeit, Schmeichelei und Dreistigkeit, Dünkelhaftigkeit und Erbärmlichkeit. Oh, welch bunte Menschenknechtschaft! Bis wir, je besser wir die Menschen mit biblisch geöffneten Augen kennenlernen, einsehen, dass sie um ihrer selbst willen durchaus nicht liebenswürdig sind, und wir einsehen, dass wir es auch nicht sind. Diese biblische Einsicht leitet uns hin zum Ende aller fleischlichen Menschenliebe und alles fleischlichen Menschenhasses. Endlich bleibt uns nur noch eine Stellung den Menschen gegenüber übrig, nämlich die in Christus, und nur noch ein Dienst, nämlich der um Christi willen.
Fortan ziehen und schrecken uns die Menschen nicht mehr besonders. Wir suchen und fliehen sie nicht eigentlich mehr. Wir verehren und verachten sie nicht mehr wie früher. Wir gebrauchen sie weniger und lassen uns weniger gebrauchen. Aber gerade so vermögen wir, frei von ihrer und unserer Willkür, frei von knechtender Zuneigung oder Abneigung, frei von knechtender Ehr- und Habsucht, ihnen in steter Unwillkürlichkeit des Geistes zu dienen und allen alles zu werden, ohne uns an sie zu verlieren und sie an uns zu binden-, denn wir sind teuer erkaufte Knechte Christi, und sie sind sein Erbgut, und wir wollen nur Gehilfen ihrer Freude an ihm werden. Und wie wird uns dann jede einzelne Menschenseele um Christi willen so lieb und teuer! Mag ein Mensch seiner fleischlichen Art und Erscheinung nach noch so abstoßend auf unser Fleisch wirken, wir können ihn doch lieben. Denn wir lieben ihn ja nicht mit unserer eigenen Liebe und Liebesfähigkeit, sondern mit der Liebe Christi, ja mit dem Herzen Christi, dem unser Herz gehört. Wir brauchen nur im Geist zu erwägen, dass Gott auch um dieses Menschen willen seines eigenen Sohnes nicht verschont, sondern ihn für ihn hingegeben hat zur Versöhnung und Erlösung, und der unangenehmste Mensch wird uns annehmbar; denn siehe, Gott liebt, Christus liebt ihn! Wir können dem Menschen, der für Christus bestimmt ist, mit dem, was in Christus für ihn bestimmt, nämlich mit Christi Liebe, in herzlichem Erbarmen und in großer Geduld dienen, für ihn glauben, beten und hoffen, auch durch und für ihn leiden. Und das alles umso williger, wenn ein Mensch bereits im Glauben steht und selber Christi Knecht ist. Wie viele Mängel er auch noch haben mag, wir kennen ihn nicht mehr nach dem Fleische (2Kor 5,16), so dass unser Fleisch sich an seinem Fleisch ärgern müsste, wie es in Hochmut, Neid, Hass so oft geschieht. Sondern wir begegnen ihm helfend, wartend im Geist, und achten ihn höher als uns selbst (Phil 2,3); denn wer bin ich, dass ich einen fremden Knecht richte? Er steht und fällt seinem eigenen Herrn, und sein Herr ist Christus (Röm 14,4). Auch legen wir niemandem ein knechtisches Joch auf, noch lassen wir uns selbst in ein solches Joch fangen (Gal 5,1), sondern kennen nur das sanfte Joch Christi. Und so erleben wir das Wunderbare, nämlich: Nichts kann uns zu Menschenknechten machen, wenn wir wirklich Knechte Christi und um seinetwillen aller Diener sind!
Dann kommt es auch nicht mehr darauf an, in welcher äußeren gesellschaftlichen Lage wir uns befinden. Knechte Christi sind überall Herren und überall Knechte. Der Ich- und Menschenknecht erwartet sein Heil beinahe durchweg von einem Wechsel seiner äußeren persönlichen und wirtschaftlichen Lebensverhältnisse. Mehr äußerer Besitz und mehr äußere Macht scheint ihm gleichbedeutend mit mehr Freiheit-, denn auch die Freiheit kennt er nur als äußerliche Ichfreiheit, nämlich Freiheit, zu tun, was man selber will. Natürlich bleibt er ein Knecht seiner selbst und der Menschen in allen Lebenslagen. Wie anders der wahre Knecht Christi! Er ist immer frei, weil nur einer überall sein Herr ist, Christus, dem er allein gehorcht. Und wäre er unter erdrückendster menschlicher Gewalt und in beengendster äußerer Lage, er hätte es doch immer nur mit einem Herrn zu tun, der ihn nimmer drückt und beengt, Christus. Fasse es, wer es kann! Wie sein Herr einst vor Pilatus zeugte: »Du hättest keine Macht über mich, wenn sie dir nicht wäre von oben herab gegeben« (Joh 19,11), so darf auch der Knecht Christi zeugen vor jeder ungerechten Gewalt. Er bleibt doch nur an Christus gebunden und bänden sie ihn mit den dicksten Stricken. Dem Ichknecht scheint das lächerliche Scheinfreiheit, dem Knecht Christi wird es beseligende Loslösung von jeder Scheinfreiheit. Nie war Stephanus freier, als im Sterben unter der Juden Gewalt. Aber andererseits bleibt der Knecht Christi immer ein Knecht; denn eben um Christi willen bleibt er in jeder Lebenslage aller Diener. Besitzt er in der Freiheit Christi Geld, so besitzt er es als Knecht Christi zum Dienen. Sonstige Güter, Gaben, Macht, Einfluss, Ansehen ebenso. Alles ist sein, er aber ist mit allem Christi Knecht, Diener und Haushalter (1Kor 3,22.23; 4,1.2). Hat er Überfluss, so dient sein Überfluss dem Mangel, ebenso dient er auch noch mit seinem Mangel dem Herrn (Mk 12,43.44). Nie werden die Menschen die so genannte »soziale Frage« lösen und eine gerechte Wirtschaftsweise herbeiführen können, die Men- schenherrschaft und Menschenknechtschaft ausschließt; denn sie sind weit überwiegend Ichknechte, und nur der wiederkommende Christus wird Gerechtigkeit schaffen. Aber die Knechte Christi haben es im Dienen um Christi willen zu beweisen, dass sie den Weg zur Gerechtigkeit kennen, wenn sie auch jetzt nicht Gerechtigkeit schaffen können. Versagen die Knechte Christi in diesem Dienst, so sind sie eben keine treuen Knechte ihres Herrn. Was ihnen an Dienstfähigkeit fehlt, wird ihnen auch an Herrscherfähigkeit fehlen; sie gleichen dann nur den weltlichen Ichknechten.
Den aber im eigentlichen äußeren Knechtsstande dienenden Gläubigen schreibt Paulus noch einen besonderen Freibrief. Er schreibt ihnen Epheser 6,7: »Denkt daran, dass ihr dem Herrn dient und nicht den Menschen!« Sie könnten sich ja zuallermeist für Menschenknechte halten, aber da belehrt er: Haltet euch für Christi Knechte, und euer Jammer und Trotz hören auf! Seht nicht auf die ungerechten Menschen als auf eure Dienstherrn, seht auf euren vollkommen gerechten Dienstherrn im Himmel! Den Menschen könnt ihr nur mit Schmeichelei oder Groll für vergänglichen Lohn dienen, eurem göttlichen Herrn aber, der euch mit seiner Gnade dient, vermögt ihr mit Freuden zu dienen! (Kol 3,22-25). Und habt ihr gläubige Herren, so wisst: Sie sind auch nur Knechte Christi, gleichwie ihr, und ihr, obgleich ihr Knechte der Menschen seid, seid Freie im Herrn, gleichwie sie! (1Kor 7,22) Und ich möchte hinzufügen: Verstehet, dass der Apostel damals an wirkliche Sklaven schrieb, solche seid ihr nicht. Darum dienet Eurem Herrn ohne Kummer in Eurem jetzigen Stande. Er kann Euch aber auch den Weg in äußerlich höhere Stellungen bahnen (1Kor 7,21). Jedenfalls: Werdet nicht der Menschen Knechte (1Kor 7,23)! Seid aber untertan aller menschlichen Ordnung um des Herrn willen (1Pet 2,13; Röm 13,1-8; Mt 17,24-27).
Wie oft hört man den Vorwurf, das Christentum erziehe zur verdummenden, knechtsseligen Kriecherei vor Menschen. Das ist jedoch nur da wahr, wo es zu herrschsüchtigen Zwecken missbraucht wird. In Wirklichkeit ist das Evangelium das einzige Mittel, durch das wir jede menschliche Fessel los werden. Es gibt uns unsere höchste Würde wieder. Es entreißt uns aller erniedrigenden Menschenherrschaft und bindet uns allein an Gott. Es ist der immer neue göttliche Einspruch gegen jede menschliche Überhebung in anmaßender Selbstherrlichkeit. Aber es ist auch der immer neue göttliche Einspruch gegen jede versklavende Erniedrigung des Menschen durch Menschen zur schmachvollen Verkrüppelung unseres Selbst. So ist es die einzige Kraft, die uns wirklich sicher zwischen Despotismus (Willkürherrschaft) und Servilismus (Kriecherei) durchbringt. Aber mehr als das! Es stellt Gottes Bild wieder in uns her, indem es uns christusförmig und zu wirklichen Herren der Erde und zu Erben des Himmels macht. Es macht aus Freien Knechte und aus Knechten Freie und aus beiden Diener Christi, Diener Gottes. Und so ist es die einzige Macht, die uns wahrhaft frei, wahrhaft froh und wahrhaft glücklich zu machen vermag; denn es ist die einzige Macht, die uns, gemäß unserer ewigen göttlichen Erwählung und Berufung, unserer ureigenen Bestimmung entgegenführt, nämlich für Gott da zu sein. Übereinstimmung aber mit unserer Bestimmung ist allein Glückseligkeit: Gottseligkeit!
Darum: »Werdet weder der Menschen Herren noch Knechte! Werdet aber in Wahrheit Knechte des Allerhöchsten als Knechte Jesu Christi!