Einleitung
Der Brief des Paulus an seinen Freund Philemon ist das bekannteste Beispiel für eine frühe, persönliche christliche Korrespondenz, die erhalten geblieben ist. Paulus schrieb ihn, um einen heimkehrenden, entlaufenen, diebischen Sklaven an seinen Herrn zu empfehlen. Mit der für ihn charakteristischen Großzügigkeit und einem tiefen Gefühl für die Bedeutung der Aufrechterhaltung eines Standards der Rechtschaffenheit bietet Paulus an, für diesen Mann, Onesimus, zu bürgen, und er erklärt sich bereit, für all dessen frühere Verfehlungen aufzukommen. Er wusste, dass das Leben des Onesimus durch die göttliche Gnade völlig verändert worden war. Daher bat er Philemon ohne Zögern, ihn nicht mehr als Sklaven, sondern als Bruder in Christus aufzunehmen.
Luther sagte: „Wir sind alle Gottes Onesimus.“ Denn in diese Begebenheit zeigt uns auf eindrucksvolle Weise, dass wir von Natur aus und in der Praxis verloren sind und dass göttliche Gnade an uns wirkt. Der Brief legt die großen Wahrheiten der Vergebung auf der Grundlage des Sühnewerks eines anderen und der Annahme im Geliebten wunderbar dar.
In Philemon selbst haben wir ein hervorragendes Beispiel dafür, was das Christentum bei einem Menschen bewirken kann. Er war zweifellos ein heidnischer Götzendiener, bevor er Christus kennenlernte. Aber nun sehen wir, wie sich die Liebe des Geistes durch ihn offenbarte, nachdem er zur errettenden Erkenntnis des Herrn Jesus geführt worden war. Offenbar wurde er durch den unmittelbaren Dienst des Paulus bekehrt, obwohl der Apostel Kolossä, wo Philemon wohnte, nie besucht hatte.
Obwohl dieser Brief sehr persönlich ist, gehört er genauso zum inspirierten Wort Gottes wie jeder andere Teil der Heiligen Schrift. Aber die Inspiration lässt der Persönlichkeit des Verfassers Raum, sich zu offenbaren. Dadurch erhalten wir in diesem vertraulichen Brief einen wunderbaren Einblick in die tiefsten Tiefen des Herzens des Apostels. Es ist bemerkenswert, dass ein so großer Teil des Neuen Testaments aus Briefen besteht – einer Literaturform, die Raum für die einfachsten, familiären Empfindungen lässt, die im lebhaftem Kontrast zu schweren theologischen Abhandlungen stehen. Es ist, als ob unser Gott und Vater in einer zärtlichen, vertrauten Weise zu unseren Herzen sprechen würde, um unser Vertrauen zu gewinnen.
Manche meinen, Paulus habe diesen Brief geschrieben, als er in Cäsarea im Gefängnis saß. Aber wahrscheinlicher ist, dass er ihn in Rom schrieb. Onesimus, ein Leibeigener im Haushalt von Philemon, war weggelaufen, nachdem er seinen Herrn bestohlen hatte. Irgendwie war er mit Paulus in Kontakt gekommen, der ihn zu Christus führte. Er war der Meinung, Onesimus solle nach Kolossä zurückkehren und sich Philemon unterordnen. Daher schrieb Paulus diesen Brief, um die Dinge klarzustellen.
Paulus war kein Eigenbrötler. Obwohl er in mancher Hinsicht um des Evangeliums willen ein einsames Leben führte (1Kor 9,5) und auf die Freude und den Komfort von Frau und Haus verzichtete, um freier zu sein, das Wort zu predigen, war er doch ein Mann mit tiefen Gefühlen und aufrichtiger Zuneigung. Er schätzte die christliche Gemeinschaft. Er freute sich, wenn diejenigen, die er in Christus liebte, wohlgefällig arbeiteten und zur Ehre Gottes lebten. Es schmerzte ihn zutiefst, wenn sich jemand abwandte und in seiner Nachfolge „Schiffbruch erlitt“ (2Tim 4,10; vgl. 1Tim 1,19). Seine persönlichen Briefe zeigen, wie tief sein Interesse an anderen war und wie sehr er seine Bekehrten und Freunde liebte. Lies diesen Brief unter diesen Gesichtspunkten aufmerksam, und du wirst sehen, wie ehrlich er ist.
Dieser Brief liefert uns eines der reizvollsten Bilder der Gnade Gottes, wie sie im Evangelium offenbart wird, die wir je zu finden hoffen konnten. Wie Onesimus haben wir alle unserem rechtmäßigen Herrn und Meister Unrecht getan. Wir haben seine Barmherzigkeit missbraucht, seine Gnade mit Füßen getreten und Ihn beraubt, indem wir das, was Er uns anvertraut hat, damit wir es zu seiner Ehre und Herrlichkeit verwenden, für unsere eigenen egoistischen Zwecke eingesetzt haben. Aber der Herr Jesus hat all unsere Schuld bezahlt, jede Verpflichtung gegenüber dem gebrochenen Gesetz Gottes abgegolten. Jetzt können wir in seinem Namen zum Vater kommen in der Gewissheit, dass wir willkommen geheißen werden, und in dem Wissen, dass uns nicht nur vergeben wird, sondern dass wir nun von dem Geliebten angenommen und in die Familie Gottes aufgenommen sind. Es sollte immer unser glückliches Vorrecht und unsere große Verantwortung sein, anderen dieselbe Gnade zu erweisen, die uns zuteilgeworden ist.
Das Christentum und die Sklaverei
Die Verbreitung des Christentums hat die Sklaverei nicht mit einem Schlag aus der Welt geschafft. Aber es etablierte von Anfang an eine neue Auffassung von menschlichen Werten, und christliche Herren lernten, ihre Sklaven als Brüder und Schwestern in Christus zu achten und zu behandeln. Nach römischem Recht wäre es nicht unter allen Umständen angebracht gewesen, die Sklaven zu befreien. Doch im Laufe der Jahrhunderte, als die Menschen immer aufgeklärter wurden, verschwand die Sklaverei durch die Lehren Christi und seiner Apostel aus der zivilisierten Welt.
Aber wir haben gewissermaßen schon zu lange vor der Tür gestanden. Lasst uns hineingehen und die kostbaren Dinge erkunden, die in dem Brief offenbart werden.
Phlm 1: Paulus, ein Gefangener Christi Jesu, und Timotheus, der Bruder, Philemon, dem Geliebten und unserem Mitarbeiter …
Dieser Brief wurde höchstwahrscheinlich von jenem gemieteten Haus in Rom aus geschrieben (Apg 28,30), in dem Paulus zwei Jahre lang gefangen gehalten wurde, während er darauf wartete, vor Nero zu erscheinen. Philemon war ein Gläubiger aus Kolossä, der seine Bekehrung dem Paulus verdankte (vgl. Phlm 19). Wie bereits erwähnt, handelt der Brief von der Rückkehr eines entlaufenen Sklaven. Paulus bedeutet „der Kleine“ und Philemon „der Liebende“, es handelt sich also um einen Brief des „Kleinen“ an den „Liebenden“.