Behandelter Abschnitt Phlm 1,1-3
Einleitung
Dieser Brief, ein Anhang zu den Hirtenbriefen, hat einen eigenen Charakter; so sehr, dass diejenigen, deren Manie es war, seine Echtheit als eine inspirierte Mitteilung des Apostels anzuzweifeln, ohne Schwierigkeiten einige geringfügige Erscheinungen zusammengestellt haben, auf denen sie ihr zerstörerisches Argument aufbauen konnten. In der Tat sieht man, dass Dr. Ellicott den Brief an Philemon nicht dazu rechnet, sondern nur die an Timotheus und Titus als die Hirtenbriefe angibt; und darin unterscheidet er sich nicht von anderen. Dennoch ist er, wenn man einen deutlichen Unterschied zulässt, ihre schöne Ergänzung und folgt ihnen so natürlich, dass wir sie ohne zwanglos zusammenfassen können, anstatt den Brief an Philemon völlig isoliert zu betrachten.
Aber Besonderheiten konnten in einem Dokument nicht ausbleiben, das sich so sehr von den leitenden Anweisungen unterscheidet, die den Mitarbeitern des Paulus in ihrer allgemeinen Arbeit der Aufsicht gegeben wurden. Denn der Gegenstand, um den es hier geht, ist die Kehrseite der gnädigen Fürsorge in einer Angelegenheit des häuslichen Lebens. Die göttliche Liebe wendet sich in einer ihr eigenen Art und Weise aktiv der Erleichterung eines entlaufenen Sklaven aus Kolossä zu, der durch den Apostel während seiner ersten Gefangenschaft in Rom zu Gott gebracht worden war. Denn das Datum dieses Briefes ist mindestens so sicher wie das des zweiten Briefes an Timotheus, der die letzte Schrift des Apostels war, kurz vor seinem bevorstehenden Tod, der die zweite Gefangenschaft in der großen Metropole beendete: Das ist ein Datum, das, wie wissen, viel genauer bestimmt werden kann als das des ersten Briefes an Timotheus oder des Briefes an Titus. Er wurde, allgemein gesprochen, etwa zur gleichen Zeit geschrieben wie die Briefe an die Epheser und an die Kolosser sowie an die Philipper.
Aus einem Vergleich der apostolischen Aussagen geht auch hervor, dass Kolossä in Phrygien die Stadt war, in der Philemon lebte, wobei Archippus (wie es scheint) ein Bewohner seines Hauses war. Auch das war nicht alles, was es charakterisierte. Wie es eine Versammlung im Haus des Nymphas, des Laodizeers, gab, während wir von der Versammlung der Laodizeer hören, so lesen wir von der Versammlung in Philemons Haus, obwohl es außerdem die Versammlung der Gläubigen in Kolossä gab. Alle Gläubigen bildeten die Versammlung an jenem Ort; doch das verbot keineswegs die Versammlung in diesem oder jenem Haus, sondern gehörte wohl dazu.
Der einfache Gläubige mag sich wundern, dass es notwendig sein sollte, auf einer so eindeutigen Schlussfolgerung aus Kolosser 4,9.17 im Vergleich zu unserem Brief zu bestehen, dass Philemon und natürlich auch Onesimus sowie Archippus in Kolossä wohnten. Doch Grotius (Annott. in V. et N. Test. in loco) will, dass Philemon nicht nur ein Einwohner von Ephesus war, sondern auch ein Ältester oder Aufseher der dortigen Gemeinde. Und neuerdings behauptet Wieseler, Philemon und die anderen hätten zu Laodizea gehört! Ist es der Mühe wert, die schwache und falsche Argumentation zu entlarven, die zur Unterstützung solch seltsamer Annahmen vorgebracht wird? Es ist in der Tat wahrscheinlich, da der Apostel weder Kolossä noch Laodizea besucht hatte, bevor er seinen Brief an erstere schrieb (Kol 2,1), dass Philemon die Wahrheit in Ephesus gehört und empfangen haben mag (Apg 19,10); er war schuldete dem Apostel sicherlich seine Bekehrung (Phlm 19). Aber „Mitarbeiter“ ist ein viel zu allgemeines Wort, um die Konstruktion zu begründen, dass Philemon entweder zum Ältesten oder zum Diakon ernannt wurde. Er arbeitete in der Wahrheit, er kümmerte sich um die Gläubigen; und der Apostel erkannte ihn als seinen Mitarbeiter an, so wie später noch der Apostel Johannes Gajus (3Joh 5-8) auf mindestens ebenso breiter Grundlage anerkannte. Was auch immer der Charakter seiner Arbeit sein mag, sie ist nicht definiert in einem Brief, der von seiner Natur her weder für den Apostel selbst noch für Archippus eine offizielle Unterscheidung vornimmt, obwohl wir aus Kolosser 4,17 wissen, dass letzterer einen bestimmten Dienst im Herrn hatte, zu dessen Erfüllung er ermahnt wurde. In unserem Brief aber möchte der Heilige Geist aus den weisesten und besten Gründen, dass alles auf dem Boden der Gnade steht.
Dies ist also der Grundgedanke. Der Apostel handelt ganz praktisch von der unvergleichlichen Gnade Christi. Das bedeutet nicht nur, dass Gott niemand verachtet, oder dass menschliches Mitleid dem Elend des Mitmenschen begegnet, sogar wenn jemand ein Sklave war, ja, umso mehr, weil er es war. Es gibt das feinste und lebendigste Betätigungsfeld für die Zuneigung; aber die Quelle ist von oben, und die Kraft ist im Heiligen Geist, damit Gott in allen Dingen durch Jesus Christus verherrlicht werde, dessen Herrlichkeit und Herrschaft bis in alle Ewigkeit reicht. Der Anspruch des Meisters wird nicht nur von Paulus in Worten, sondern auch von dem zurückkehrenden Sklaven in Taten freimütig zugegeben. Es gibt kein Beschönigen des begangenen Unrechts. Was auch immer positiv oder negativ geschuldet war, Paulus wollte, dass es ihm angerechnet würde und er würde verantwortlich dafür sein. Denn die wahre Gnade entkräftet niemals das Gesetz und schwächt niemals die Gerechtigkeit, sondern erkennt sie im Gegenteil an, während sie sich selbst weit darüber erhebt und freiwillig und unermesslich darüber hinaus fließt.
Die unendliche Wirklichkeit Christi erfüllt das Herz des Apostels, wie sie es gewöhnlich tat. Die Vorsehung Gottes lenkte die Füße des Flüchtenden nach Rom, wo die Entdeckung am schwersten für einen so unbedeutenden Menschen inmitten einer riesigen Bevölkerung mit Extremen von Größe und Erniedrigung war, von Reichtum und Armut. Doch sogar die niedrigsten waren nicht ohne Demütigung durch die Herren der Welt, die durch sündige Vergnügungen und systematische Selbstsucht, die alle weit mehr entkräften als sie irgendjemanden befriedigten und zum völligen Verderben hinabsanken. Da gab die Gnade Gottes, durch welches Motiv auch immer, oder vielleicht auch ohne ein solches, es Onesimus, Paulus zu hören und an das Evangelium zu glauben. Es wurde ihm zur Freude, dem Apostel zu dienen, besonders in seinen Leiden um Christi und des Evangeliums willen. Doch ein einfältiges Auge auf Christus legt Paulus den irdischen Herrn aufs Herz, dem Onesimus Unrecht getan hatte. Auch er fühlt sich verpflichtet, und das Evangelium hat sein Empfinden für die Verpflichtung noch verstärkt, um jeden Preis zu seinem Herrn zurückzukehren, wie auch immer die Folgen sein mögen. Daher wurde der Apostel, bei aller Liebe zu seinem Kind im Evangelium, bei aller Wertschätzung für die damals geleisteten und annehmbaren Liebesdienste, bei allem Mitleid mit jemandem, dessen Fehlverhalten ihn für sein eigenes Unrecht und als Beispiel für andere einer schweren Strafe ausgesetzt hatte, vom Geist geleitet, diesen Brief zu schreiben, der von der ersten bis zur letzten Zeile von der Gnade des Evangeliums durchdrungen ist, wie sich beim Überdenken jedes einzelnen Wortes noch deutlicher zeigen wird.
Er ist der Brief der Höflichkeit genannt worden, was man nicht mit christlicher Schicklichkeit sagen kann, obwohl es ganz wahr ist, dass die, die sich am meisten auf ihren netten Sinn für Ehre und Höflichkeit, für Takt und Mut, für Klugheit und Freundschaft, für Reinheit und Zärtlichkeit berufen, auf dem Boden der menschlichen Natur oder des gesellschaftlichen Standes, sich in der Gegenwart dessen fühlen müssen, was nicht nur ihre Erfahrung, sondern ihr Ideal übersteigt. Es ist nicht der Gentleman1, der in dem Brief offenbart wird, sondern der Christ; und dies nicht nur in der Theorie oder in der Ermahnung, sondern in der lebendigen Wirklichkeit; damit wir, die wir denselben Christus und denselben Geist haben, durch die Gnade dasselbe göttliche Wort selbst umsetzen und so diese Schrift anderen umso mehr empfehlen können. In der Tat ist es die umfassende Verwirklichung des göttlichen Lebens, die der Heilige Geist fördert, die aus einer bloßen häuslichen Frage erwächst, die ohne Christus abgestellt wurde, um viel Zorn zu erregen oder in herablassender Gutmütigkeit und menschlicher Selbstgefälligkeit verziehen wird. Als Christen werden wir ermahnt, Nachahmer Gottes zu sein.
Doddridge scheint der erste gewesen zu sein, der den Vergleich des Briefes von Plinius dem Jüngeren an Sabinianus (ix. 21) vorschlug, nicht nur die kurze Danksagung, die Alford zitiert (ix. 24): Modelle, beide, von feinen, natürlichen Gefühlen, die mit Schönheit, Schärfe und Kraft ausgedrückt werden, wie es sich für einen edlen Römer mit Begabung und Rang gehört, der schreibt, um einen engen Freund mit seinem Freigelassenen zu versöhnen, der beleidigt und verworfen worden war. Bei den Heiden steht, wie zu erwarten, nichts über dem Ich. Im Christen wird die Liebe Christi für jemanden bewirkt, der aus den Tiefen der Sünde und des Elends zu Gott gebracht wurde und dessen Gewissen ihn veranlasste, zu seinem Herrn zurückzukehren, ausgestattet mit der Autorität, sein Vergehen zu bestrafen; aber dieser Herr war ein Christ, der dem Apostel lieb und teuer war, nicht nur wegen anderer Dinge, sondern auch wegen seines üblichen gnädigen Verhaltens gegenüber den Gläubigen.
Deshalb wendet sich Paulus hier an Philemon, um ihn vor den Impulsen der Natur und vor der eifersüchtigen Ausübung gesetzlicher Rechte zu bewahren, wie es bei einem Mann der Welt der Fall ist, sondern vielmehr, um ihn in die Gemeinschaft der Liebe Christi zu führen, in einem Fall, in dem sie leicht übersehen werden könnte. Er wollte ihn dazu bringen, die Güte Gottes zu zeigen, wie der Mann nach dem Herzen Gottes im Alten Testament gegenüber der Familie seines Feindes, wo sich ein Grund der Liebe und Wahrheit bot. Und gab es hier nicht eine bessere Grundlage, wo Onesimus durch souveräne Gnade genauso wahrhaftig in Christus war wie Philemon? Freute sich nicht auch Philemon, dass er die Gelegenheit hatte, ein Nachahmer Gottes zu sein? Das hat der Apostel damals den Gläubigen in Ephesus eingeschärft, in der Liebe zu wandeln, „wie auch der Christus uns geliebt und sich selbst für uns hingegeben hat als Darbringung und Schlachtopfer, Gott zu einem duftenden Wohlgeruch“ (Eph 5,2)? Wie er wie Christus, unser Fürsprecher, angesichts der Sünde unsererseits Fürbitte leistet, wird in den Einzelheiten des Briefes erscheinen.
Beachte auch, wie der Apostel die Schwester als Frau anspricht und den Dienst des Archippus sowie die Versammlung in Philemons Haus miteinbezieht, damit die Liebe einzeln und gemeinsam gestärkt werde und das Haupt des Hauses auf den Weg der Gnade geführt werde, nicht durch Zwang von außen oder innen, sondern durch einen bereiten Geist entsprechend Gott.
Es gab wenige oder vielleicht keine großen Gebäude, in denen sich die Gläubigen damals ausschließlich versammelten. Die Einheit wurde durch die Kraft des Geistes umso deutlicher aufrechterhalten, weil sie sich in so vielen Räumen oder Sälen einer Stadt treffen konnten. Sie waren ein Leib, nicht in der Vorstellung oder in einer lediglich äußeren Erscheinung, sondern in gesegneter Wahrheit, lebendiger Wirklichkeit und heiliger Praxis. Wer ein Glied Christi war, war überall ein Glied gemäß dem Platz, den die Gnade ihm in dem einen Leib, der Versammlung, gab; und darauf wurde sowohl als Vorrecht als auch als Pflicht sorgfältig bestanden. Niemals hören wir von Versammlungen in einer Stadt, ganz gleich, wie groß die Stadt ist oder wie viele Gläubige sich darin befinden, und folglich auch nicht von Versammlungsorten, die der Bequemlichkeit halber eingerichtet wurden. Es ist die Versammlung in Jerusalem, in Ephesus und so weiter, ob sie nun in einer Gruppe oder in zehn Gruppen zusammenkamen. Das Zusammenkommen (ἐπὶ τὸ αὐτὸ) setzt die Einheit des Zwecks voraus: Der Ort kann einer sein oder nicht, wie vollständig bewiesen wurde. Sogar wenn sie sich aus Bequemlichkeit an verschiedenen Orten trafen, wäre ἐπὶ τὸ αὐτὸ immer noch wahr. Solange sie im Glauben an die Gegenwart des Herrn in ihrer Mitte handelten, war es der örtliche Ausdruck des einen Leib und des ein Geistes. „An einem Ort“ schränkt die Versammlung unangemessen ein und könnte als Tatsache völlig falsch sein. „Zusammen“ ist der wahre Gedanke, der die Tatsache je nach den Umständen offenlässt, aber immer als Bewahrung der Einheit des Geistes im Band des Friedens, wenn der Herr und das Wort seiner Gnade geehrt werden. Es war „zu demselben Zweck“.
Der Apostel beginnt seinen Brief mit jener geistlichen Angemessenheit, die jede Schrift kennzeichnet, in einer Weisheit, die höher ist als die des Menschen, und doch mit einer gnädigen Absicht, die geeignet war, auf das Herz des Menschen einzuwirken und die Gelegenheit zum reichsten Gewinn Gottes zu wenden. Die Behauptung seiner Autorität, wie wichtig sie auch sein mag, was die Römer, die Korinther, die Galater, die Epheser, die Kolosser sowie Timotheus und Titus betrifft, fehlt mit nicht weniger Anstand in seiner Anrede an die Philipper und die Thessalonicher (ganz zu schweigen von den Hebräern) sowie an Philemon. Das Motiv für diese Abwesenheit mag bei jedem eine Nuance anders sein; aber es gibt den gemeinsamen Grund, dass die Gnade ergriffen wurde, anstatt seine primäre Stellung in der Versammlung darzulegen. Dies ist jedoch nur negativ. Wir werden sehen, dass es hier wie anderswo etwas Positives gibt, nicht weniger als das Erreichen des Ziels, das der Heilige Geist im Auge hatte, wie es in der Schrift immer der Fall ist.
Paulus, ein Gefangener Christi Jesu, und Timotheus, der Bruder, Philemon, dem Geliebten und unserem Mitarbeiter, und Apphia, der Schwester, und Archippus, unserem Mitkämpfer, und der Versammlung in deinem Haus: Gnade euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus! (V. 1‒3).
Als Paulus an die Epheser, die Kolosser und die Philipper schrieb, war er nicht weniger ein „Gefangener Jesu Christi“, als zu der Zeit, wo er seinen Brief an Philemon verfasste. In der Tat spielt er zweimal eindrucksvoll auf diese Tatsache an, sowohl im Hauptteil des Epheserbriefes als auch am Ende (Eph 3,1; 4,1; 6,20), wie er sie auch gegenüber den Philippern (Phil 1,13.14) und den Kolossern (Kol 4,4; vgl. auch V. 10) anspricht. Nur gegenüber Philemon bezeichnet er sich gleich in der Anrede als „Paulus, ein Gefangener Christi Jesu.“ Dies war das Ehrenabzeichen, mit dem er sich vorstellte. „Für euch Nationen“ war eine schöne Anrede an die Epheser. Hier wäre der Zusatz fehl am Platz gewesen. Es stellte Christus Jesus dar und das war umso schlichter und direkter für das Herz Philemons. Es war kein Bogen, der von einem Mann bei einem Wagnis gespannt wurde, sondern ein Pfeil der Liebe, der von einer vom Heiligen Geist gelenkten Hand gezielt wurde. „Und Timotheus, der Bruder“. War das zufällig? Sicherlich nicht. Er, der dem Apostel lange Zeit so lieb war, und jetzt in der vertrautesten Gemeinschaft der Führung, und der Teilhaber seiner tiefsten Sorge sowohl für eine gesunde Lehre als auch für eine gottgefällige Ordnung, ein Aufseher von Aufsehern, ist in die Anrede einbezogen, aber ebenso sorgfältig von einem geistlichen Amt getrennt wie in seinem eigenen Fall „Timotheus, der Bruder“. Alle müssen hier in gnädiger Zuneigung stehen. War nicht auch er ein „Bruder“, in dessen Namen der Brief geschrieben wurde?
Auch die Art und Weise, wie der Herr des Hauses angesprochen wird, ist nicht weniger göttlich geschickt: „Philemon, dem Geliebten und unserem Mitarbeiter“. Wenn jetzt ein Kennzeichen genannt werden sollte, dann war es seine Zuneigung im Herrn, bekannt und bewiesen, wodurch er zum Geliebten aller Gläubigen gemacht wurde, die ihn kannten; besonders des Apostels, dessen Herz stark mit jedem mitempfand und ihn schätzte, der sich selbst in der Liebe Gottes erhielt, ganz zu schweigen von der persönlichen Verbindung, auf die Vers 20 in seiner letzten Hälfte anspielt. Außerdem beschreibt Paulus Philemon als seinen und des Timotheus Mitarbeiter. Können wir uns eine solche Äußerung ehrenvoller Rücksichtnahme ohne eine starke Wirkung auf ihn vorstellen, zumal sie von jemandem kam, der so weit wie möglich von der Leichtigkeit der Rede entfernt war, der schreiben konnte, wenn jemand so etwas wagen konnte, aufrichtig vor Gott in Christus. Schmeichelhaftes Reden lag ihm ebenso fern wie Begehrlichkeit oder Selbstsucht in irgendeiner Form. Dass er von Philemon als unserem „Mitarbeiter“ sprach, was für eine Aufmunterung für jemanden, der Gott inmitten aller Arten von Prüfungen und Entmutigungen dient!
Aber es gibt eine bemerkenswerte Besonderheit, die folgt. Der Apostel erwähnt hier den Namen einer Frau in der Anrede seines Briefes. Zweifellos ist es seine einzige Mitteilung, wo das in Ordnung war. Hier ist es bewundernswert am Platz. Denn eine Frau hat weit mehr mit der praktischen Führung des Hauses zu tun als ihr Mann. Und die Frage eines entlaufenen Sklaven muss eine Herrin sehr berühren, da sie die ganze Familie betrifft. Daher die gnädige Weisheit in dem außergewöhnlichen Schritt, Apphia mit einzubeziehen, die, wie man kaum bezweifeln kann, Philemons Frau war und mit Sicherheit den wichtigsten weiblichen Platz in seinem Haushalt einnahm. Wir können im zweiten Johannesbrief die einzige andere, noch auffälligere Ausnahme sehen; denn dieser Brief ist ausschließlich „an die auserwählte Frau und ihre Kinder“ gerichtet: eine Tatsache, die in der Schrift ziemlich einzigartig ist. Der Grund dafür ist ebenso offensichtlich wie ernst. Die Person Christi stand auf dem Spiel; und eine gütige Frau und ihre Kinder wären den Machenschaften des Satans besonders ausgesetzt, wenn jemand, der in besseren Verhältnissen bekannt war, aber jetzt „ein Antichrist“ war, Eingang in ihr Haus suchte, um sich an großzügigen, aber ungeschützten Personen zu vergreifen, wenn nicht gar die Lehre Christi zu untergraben. Daher die direkte Ansprache „an die auserwählte Frau und ihre Kinder“; und daher auch der entschiedene Kurs, der befohlen wird.
In der Tat ist es Gnade, die den gebührenden Anspruch von Apphia anerkennt, in der richtigen Sphäre einer heiligen Frau betrachtet zu werden. Es wird vorsichtig gesagt, dass sie „die Schwester“ ist. Sie hatte ihren Titel im Herrn; ihr Gewissen, ihr Verständnis und ihr Herz wurden in dieser Angelegenheit respektiert.2 Die christliche Verwandtschaft wird anerkannt, und Vertrautheit wird vermieden. Nicht, dass „Geliebte“ in anderen Fällen nicht passend wäre; aber es darf bezweifelt werden, dass Paulus so von Persis gesprochen hätte, wenn er nicht hinzufügen konnte, „die viel gearbeitet hat im Herrn“ (Röm 16,12); und dies auch nicht, wenn sie alleinstand, sondern in einer Anzahl von anderen, von denen er etwas Besonderes zu sagen hatte.
Dann haben wir einen Anhang, nach denen, die dem Haus vorstanden, „und Archippus, unserem Mitkämpfer.“ Es ist derselbe Mann, der in Kolosser 4,17 aufgefordert wird, auf den Dienst zu achten, den er im Herrn empfangen hatte, damit er ihn erfüllte. Es gibt keinen Grund, ihn für einen Sohn oder Kaplan des Philemon zu halten; aber dass er dort wie anderswo in der Versammlung arbeitete, geht klar aus der Schrift hervor. Man kann sich auch nicht der Überzeugung entziehen, dass Mut und Ausdauer im geistlichen Kampf den Apostel dazu brachten, nicht nur Epaphroditus, sondern auch Archippus als „Mitkämpfer“ zu bezeichnen. Ausdrücke wie dieser werden nie anders als mit äußerster Genauigkeit verwendet, wie es für jedes Wort in der Schrift gilt.
Zuletzt lesen wir: „und der Versammlung in deinem Haus“. Damit sind nicht ausschließlich die christlichen Bewohner gemeint, sondern die, die dort üblicherweise zusammenkamen, weil sie im Namen des Herrn versammelt waren. Das scheint die Bedeutung des Satzes zu sein, wo immer er vorkommt (Röm 16,5; 1Kor 16,19; Kol 4,15). Es gab viele christliche Haushalte; aber die Versammlung in einem bestimmten Haus bedeutete, dass es eine Versammlung in dem Haus gab, wie hier bei Philemon. Das schließt Paulus in seine Anrede mit ein; denn die Gläubigen, die sich in diesem Haus trafen, ob sie nun zum Haushalt gehörten oder nicht, sollten nun Onesimus gegenüberstehen. Sie mögen sein Fehlverhalten in der Vergangenheit gekannt haben oder nicht. Er war jetzt in Christus, und da er zu seinem Herrn zurückkehrte, würde er so direkt vor die Versammlung in seinem Haus treten. Deshalb wird darauf geachtet, die Versammlung dort mit dem in Verbindung zu bringen, was sie alle betreffen würde. Denn die Gemeinschaft der Gläubigen ist echt und kostbar, und nicht weniger, weil ein armer Sklave, der jetzt ein Christ ist, die Gelegenheit ist, sie zu beweisen: Christus ist alles und in allen (Kol 3,11).
Aber wenn der Apostel an die Gläubigen in Kolossä im Allgemeinen schreibt, bezieht er sich auf „Onesimus, den treuen und geliebten Bruder“ als einen von ihnen (d. h. einen Bewohner von Kolossä), sagt aber kein Wort von dem, was den Brief an Philemon ausfüllt. Es war ebenso wichtig, die herzliche Gemeinschaft seines Haushalts und der Versammlung in seinem Haus in einer Familienangelegenheit zu bewahren, wie es richtig war, sie den Kolossern als Ganzes vorzuenthalten. Die Versammlung ist ein Leib; aber die Gnade und Wahrheit, die durch Jesus Christus gekommen ist, bewahrt den zarten Anstand des christlichen Haushalts, oder insbesondere der Gläubigen, die sich im Haus treffen. Diesen allen, nur diesen, würde er sein Herz über Onesimus öffnen.
1 Es sei hier darauf hingewiesen, dass wohlwollend sowohl bei Julius, dem römischen Hauptmann (φιλανθρώπως besser „freundlich“), Apostelgeschichte 27,3, als auch bei Publius, dem Obersten von Melita (φιλοφρόνως) Apostelgeschichte 28,7, angemessen verwendet wird. In 1. Petrus 3,8 wird es von intelligenten kritischen Redakteuren, die das passendere „demütig (ταπεινόφρονες) lesen, aus gutem Grund ausgeschlossen. Wiederum nicht „sich herablassen" (wie in der Authorized und Revised Version), sondern „mit den Niedrigen verkehren“, wie Galater 2,13 und 2. Petrus 3,17 seinen schlechten Sinn zeigen. Gewiss, Zos, Hist. V. 6 spricht nicht für „sich herablassen“, sondern für eine Teilhabe oder Beteiligung an der gemeinsamen Eroberung von Hellas. „Sich herablassen“ behält unsere soziale Stellung als Menschen, die „in der Welt leben“; während wir als Christen mit Christus gestorben sind und noch viel mehr, und wir sind als solche dazu angehalten, uns von all dem fernzuhalten und zu den Niedrigen (oder den niedrigen Dingen) zu halten.↩︎
2 Die Lesart des anerkannten Textes („die Geliebte“ wie bei Tyndale, Cranmer und „unsere Geliebte“ wie bei der A. V.) stützt sich auf minderwertige Zeugen. Wiclif und die englische Version von Reims folgen den späteren Abschriften der Vulgata, die das Falsche und das Richtige vermischen („most dere sister“, „our deerest sister“). Aber die alten Manuskripte, denen solche Abschriften der Vulgata wie die Am. Tol. und Harl. folgen, geben die wahre und einzig angemessene Lesart „die Schwester“.↩︎