Der Tag des Zorns des HERRN
In Kapitel 2 geht es um die Stadt Jerusalem in einem ganz besonderen Sinn. Diese Stadt, die einst als Wohnsitz des großen Königs berühmt war, war nun ein Trümmerhaufen aus geschwärzten Ruinen. Es wird durchweg anerkannt, dass nicht ein äußerer Feind aus eigenem Antrieb handelte, sondern der HERR selbst, der so lange inmitten der Stadt ge- wohnt hatte, gab sie der Zerstörung preis.
Das macht der erste Vers bereits deutlich:
Wie umwölkt der Herr in seinem Zorn die Tochter Zion! Er hat die Herrlich- keit Israels vom Himmel zur Erde geworfen und hat des Schemels seiner Füße nicht gedacht am Tag seines Zorns (2,1).
Es war ein trauriger Gedanke, dass die Stadt, die einst „die Heilige Stadt“ genannt wurde, so verkommen und abtrünnig geworden war, dass der HERR sie nicht mehr ertragen konnte. Es fällt jedoch auf, dass die Herr- lichkeit Israels vom Himmel zur Erde (nicht zum Hades) geworfen wird, wie im Fall des bevorrechtigten Kapernaums (Mt 11,23). Dort hatte der Herr Jesus viele mächtige Taten vollbracht und ein Zeugnis abgelegt, das alles übertraf, was das alte Jerusalem zu hören bekam. Aber Er und seine Worte waren völlig abgelehnt worden. Deshalb sollte Kapernaum, das „bis zum Himmel erhöht worden“ war, „zum Hades ... hinabgestoßen werden“.
Ihre Zeit war für immer vorbei. So war es nicht mit Jerusalem. Die Stadt wurde „zur Erde geworfen“ und wie eine Stadt der Nationen be- handelt. Von den Heiden zertreten, ist sie dennoch dazu bestimmt, ei- nen Platz der Herrlichkeit einzunehmen, wie sie ihn in der Vergangen- heit nicht kannte. Sie muss durch Widrigkeiten gezüchtigt werden, aber sie ist nicht auf ewig verlassen. In seinem Zorn über den Götzendienst hatte der HERR alle Wohnstätten Jakobs vernichtet (V. 2a), ohne sich ihrer zu erbarmen, weil ihr Herz so verhärtet war. Er hatte „in seinem Grimm niedergerissen die Festung der Tochter Juda“ (V. 2b), sie zu Bo- den gestürzt und das Königtum und die Fürsten entweiht. Das alles ge- schah wegen ihrer Sünde. Er liebte sie aufrichtig, konnte aber nicht zu- lassen, dass sie in einem so furchtbaren moralischen Zustand in Frieden leben konnte. Deshalb hatte Er „in seiner Zornglut“ jedes Horn Israels abgeschlagen und seine Rechte vor dem Feind zurückgezogen (V. 2.3).
Dreimal wird in den Versen 4 und 5 gesagt, dass Er so gehandelt hat, als wäre Er ihr Feind: Erstens lesen wir: „Seinen Bogen hat er ge- spannt“. Zweitens: „Hat mit seiner Rechten sich hingestellt wie ein Gegner“, und drittens: „Der HERR ist wie ein Feind geworden.“ Aber es ist gut, die einschränkenden Ausdrücke „wie“ und „als“ zu beachten. Ein Feind war Er nie, obwohl ihr Verhalten Ihn zwang, so zu handeln, als ob Er es wäre. Wie viele Christen haben Ihn auf ähnliche Weise ken- nengelernt! Wie oft schien Er ein Feind zu sein! Aber der Glaube blickt über alles hinaus, was das Auge sehen kann, und weiß, dass Er in seiner Liebe und Zärtlichkeit unverändert ist. Es ist die Sünde in seinen Kin- dern, die in die Gemeinschaft eingedrungen ist, an der Er sie gern teil- haben lassen wollte. Er ist „zu rein von Augen, um Böses zu sehen“ (Hab 1,13). Er wird zwar nie einen seiner Erlösten aufgeben, aber Er wird auch nicht dulden, dass einer von ihnen einen leichtfertigen Le- benswandel führt und eine ungezügelte Zunge hat, nur weil Er sie ge- rettet hat. Das Gegenteil ist der Fall, denn „wen der HERR liebt, den züchtigt er; er geißelt aber jeden Sohn, den er aufnimmt“ (Heb 12,6). Das war die Lektion, die der Überrest Judas lernen musste, so bitter sie auch gewesen sein muss.
In Vers 6 heißt es: „Und er hat sein Gehege zerwühlt“. In Psalm 80 finden wir denselben Vergleich. Israel wird mit einem Weinstock vergli- chen, der aus Ägypten herausgeführt und in ein Land gepflanzt wurde, aus dem die Heiden vertrieben worden waren. Eingehegt und gepflegt vom göttlichen Gärtner, hätte es für sich selbst Früchte tragen sollen, aber wir kennen sein Urteil (Jes 5,1-7): „Aber er brachte schlechte Bee- ren“. Deshalb lässt Er es zu, dass es von den Heiden überrannt wird, wie wir in Psalm 80,13-17 lesen: „Warum hast du seine Mauern nie- dergerissen, so dass ihn alle berupfen, die auf dem Weg vorübergehen? Es zerwühlt ihn der Eber aus dem Wald, und das Wild des Feldes weidet ihn ab. Gott der Heerscharen, kehre doch wieder! Schau vom Himmel und sieh, und nimm dich dieses Weinstocks an und des Setzlings, den deine Rechte gepflanzt hatte, und des Reises, das du dir gestärkt hat- test! Er ist mit Feuer verbrannt, er ist abgeschnitten; vor dem Schelten deines Angesichts kommen sie um.“ Es ist derselbe Gedanke, der hier zum Ausdruck gebracht wird: Die Einfriedung, die früher den Garten des HERRN von den Heiden ringsum abgetrennt hatte, wurde vom HERRN selbst niedergerissen und „die Versammlungsstätten“ (Ps 74,8) ver- brannt, so dass die feierlichen Feste und Sabbate in Zion aufhören mussten.
Seinen Altar hatte Er verworfen und sein Heiligtum verabscheut, in- dem Er zuließ, dass Unreine es verunreinigten, weil sein Volk untreu war. Die Mauern der Stadt mit ihren Toren und Riegeln waren dem Erdboden gleichgemacht; der König und die Fürsten waren unter den Heiden gefangen; das Gesetz selbst, das so lange verachtet worden war, gab es nicht mehr, und die Propheten, denen man jahrelang das Ohr verschlossen hatte, hatten keine Vision vom HERRN mehr. Die Ältes- ten Zions waren in Sacktuch gehüllt und saßen auf der Erde, Staub auf ihren Häuptern, in sprachlosem Kummer, als sie die Verwüstungen von allen Seiten sahen (V. 7–10). Es war ein völliges und überwältigendes Verderben, das der HERR herbeigeführt hatte, weil sie sein Wort miss- achtet hatten und auf den Wegen der Heiden wandelten.