Zu Beginn von Kapitel 10 begegnet uns wieder der Ausdruck „Wochen“. Sie sind jedoch zu unterscheiden von den Wochen, die wir soeben betrachtet haben, da eine Fußnote in unseren Bibeln besagt, dass sie im Hebräischen „Wochen von Tagen“ bedeuten. In jenen Wochen trauerte und fastete Daniel, obgleich der Grund dazu nicht angegeben wird.
Am Schluss von Kapitel 1 erfuhren wir, dass Daniel bis zum ersten Jahr des Königs Kores blieb. Was wir jetzt betrachten wollen, geschah im dritten Jahr jenes Königs; somit war Daniel um diese Zeit ein alter Mann und dem Ende seiner denkwürdigen Laufbahn nahe. Unser Kapitel teilt uns Einzelheiten mit, die die prophetischen Offenbarungen der Kapitel 11 und 12 vorbereiten. Sie sind sehr aufschlussreich, da sie uns die Art und Weise zeigen, in der Engel tätig werden als „dienstbare Geister, ausgesandt zum Dienst um derer willen, die die Seligkeit ererben sollen“ (Heb 1,14).
Die Verse Daniel 10,5-9 beschreiben den Besuch eines Engels und seine Wirkung auf Daniel. Wir bemerken, dass Engel, wenn sie sich Menschen zeigen, dies gewöhnlich in menschlicher Gestalt tun. Nichtsdestoweniger kennzeichnet sie ein übernatürliches Wesen, das den, der sie sieht, an die Gegenwart Gottes erinnert. So war es auch bei dieser Gelegenheit, und die Schilderung in Vers 6 erinnert uns daran, wie Johannes in Offenbarung 1,14.15 seinen Herrn beschreibt. Doch hier war der Engel nicht der Herr, was Vers 13 unseres Erachtens deutlich macht. Trotzdem fiel Daniel nieder auf sein Angesicht und lag hingestreckt.
Ferner ergibt sich eine Ähnlichkeit dieser Szene mit dem Geschehen bei der Bekehrung des Paulus von Tarsus. Dabei sahen die Gefährten das Licht, hörten aber nicht die Worte, die gesprochen wurden, obgleich sie den Schall vernahmen. Hier sahen die Männer nichts, wurden aber von Furcht erfüllt und flohen, um sich zu verbergen. Der gefallene Mensch kann in Gottes Gegenwart nicht aufrecht stehen, und selbst ein Gläubiger – ob Daniel im Alten und Johannes im Neuen Testament – fällt nieder wie „tot“. Wir kennen Gott als unseren Vater, doch dürfen wir seine höchste Majestät als Gott nie vergessen.
Im ersten Jahr des Darius vernahm Daniel die Anrede „Vielgeliebter“, wie wir im vorigen Kapitel sahen. Jetzt sind wir zum dritten Jahr des Kores gekommen, und wieder wird er zweimal so angeredet; wie ehedem war er einer solchen Bezeichnung würdig. Und warum das, da wir doch oft sehen müssen, wie Gläubige abfallen und ein gottseliges Leben nicht bewahren? Wir denken, dass Daniel 10,12 die Frage beantwortet. In seiner Frömmigkeit hatte Daniel zwei Dinge aufrechtgehalten.
An erster Stelle hatte er sein Herz darauf gerichtet, Verständnis zu erlangen. Wie oft ermangelt uns das heutzutage! Ist es unser leidenschaftlicher Wunsch zu verstehen, was Gott offenbart hat, nicht allein mit dem Kopf, sondern mit dem Herzen? Daniel liebte seinen Gott und liebte sein Volk, so dass ihn tief bewegte, was Gott kundgetan hatte. Wenn unsere Liebe glühender wäre, würden wir unsere Herzen auf die Wahrheit richten, die Gott uns bekannt gemacht hat.
Zweitens „läuterte“ oder „demütigte“ er sich selbst vor Gott, während er Verständnis suchte. Auch darin liegt ein Anruf an uns selbst. Es ist so verhängnisvoll angenehm, ein tieferes Verständnis göttlicher Wahrheit zu begehren, wenn man dadurch an Bekanntheit und Bedeutung gewinnt. Aber in Wirklichkeit demütigt uns alle Wahrheit, wenn wir sie mit dem Herzen recht erfassen. Wir sehen das beispielhaft in dem Apostel Paulus. Indem er über die großen Gedanken Gottes bezüglich der Kirche schreibt (Eph 3), ist er „der Allergeringste von allen Heiligen“. Und in 2. Korinther 12, nachdem er von seiner Entrückung ins Paradies gesprochen hat, sagt er: „Ich bin aber nichts.“ Wenn wir uns wahrhaftiger vor Gott läuterten, würden uns bald ein tieferes Verständnis seiner Wahrheit aufgehen.
Daniel 10,12 und 13 enthüllen, dass eine Antwort auf unsere Gebetsanliegen durch feindliche Mächte in der unsichtbaren Welt verzögert werden kann. Satan hat seine Engel, und es scheint, dass er einige von ihnen beauftragt, das Werk Gottes in gewissen Reichen zu hindern. Der Fürst des Königreichs Persien, der dem heiligen Engel, der mit Daniel redete, Widerstand leistete, war ohne Zweifel ein gefallener Engel. Michael, an anderer Stelle der Erzengel genannt, kam ihm zu Hilfe. Der erste Vers von Kapitel 12 zeigt, dass Michael den besonderen Auftrag hat, sich für die Kinder Israel zu verwenden, und so greift er ein bei dieser Gelegenheit (Dan 12,1). Im letzten Vers unseres Kapitels wird er „euer Fürst“ genannt.
Ebenso gab es in der Welt der Engel den „Fürsten von Griechenland“, wie aus Daniel 10,20 hervorgeht; aber ungeachtet dieser gegnerischen Mächte war der Bote Gottes zu Daniel gekommen und hatte ihn aufgerichtet und gestärkt, die Mitteilungen zu empfangen, die Gott ihm jetzt geben wollte. Ein Konflikt im Bereich der Engel war noch auszutragen zwischen den Fürsten von Persien und Griechenland – Letzteres war im Begriff, das Persische Reich zu erobern –, aber die Belehrung dieses demütigen und ergebenen Dieners Gottes erhielt, verglichen damit, den zeitlichen Vorrang.
Er war gekommen, um Daniel kundzutun, „was in dem Buch der Wahrheit verzeichnet ist“. Er sprach so, als ob es bereits aufgeschrieben wäre, aber wir mögen in der Tat Gott Dank sagen, dass es in der Bibel – dem Buch der Wahrheit – verzeichnet worden ist, wie wir sie heute in unseren Händen halten und lesen können. Was Daniel übermittelt wurde, ist in den folgenden Kapiteln enthalten, und indem wir sie lesen, werden wir sehen, dass einige der offenbarten
Dinge sich schon ereignet haben und andere noch ihrer Erfüllung harren, wie wir es gerade in der Prophezeiung über die 70 Wochen gesehen haben. Was so genau eingetroffen ist, lässt uns gewiss sein, dass die wichtigen Ereignisse, die noch geschehen müssen, alle mit gleicher Genauigkeit zu ihrer Zeit eintreten werden.