Was uns in Kapitel 9 berichtet wird, ereignete sich, kurz nachdem Darius Babylon erobert und das Königreich übernommen hatte – also bald nach der Erfahrung Daniels, die in Kapitel 5 mitgeteilt wird. Um diese Zeit war er natürlich ein alter Mann und nahe dem Ende seines von Dienst erfüllten Lebens, denn er gehörte zu der ersten Gruppe von Gefangenen, die Nebukadnezar weggeführt hatte. Jeremia, ein alternder Mann, war in Jerusalem zurückgelassen worden. Er prophezeite dort bis zur Zerstörung der Stadt.
Der Fall Babylons bedeutete eine gewaltige Erschütterung. Wie wirkte sie sich auf Daniel aus? Sie veranlasste ihn, jenen Teil des Wortes Gottes zu studieren, der ihm zur Verfügung stand. Ein erstrangiges Beispiel für uns heutzutage, da in den letzten fünfzig Jahren Umwälzungen unter den Völkern stattgefunden haben, die weit schwerwiegender gewesen sind als der Fall Babylons. Die Prophezeiungen Jeremias waren aufgeschrieben worden und standen ihm als „Schriften“ zur Verfügung. Wir besitzen die vollendete Bibel, die wirklich „das Buch“ ist.
Diese „Schriften“ waren für Daniel das „Wort des HERRN“, das heißt, er empfing sie als von Gott inspiriert. So kam ihnen volle Autorität zu, ohne sie zu hinterfragen. Auch wir sind glückliche Leute, wenn wir, seinem Beispiel folgend, mit unserer Bibel gleicherweise umgehen. Die besondere Stelle, die Daniel so tief berührte, war Jeremia 25,8-14, wo eine 70-jährige „Verwüstung“ vorhergesagt war. Daniel muss sofort erkannt haben, dass die 70 Jahre nahezu vergangen waren und eine Befreiung irgendwelcher Art bevorstand. Die Wirkung, die diese Entdeckung auf ihn hatte, ist äußerst belehrend und auch herzerforschend für uns.
Wir an seiner Stelle hätten uns durch diese Entdeckung vielleicht sehr froh stimmen lassen und freudiger Erwartung Raum gegeben. Nicht so war es bei Daniel; vielmehr sehen wir das genaue Gegenteil. Sie löste bei ihm Fasten und Demütigung, Bekenntnis und Gebet aus, indem sich ihm die große Sünde seines Volkes enthüllte, die dieses ganze Gericht über sie gebracht hatte. Das erkennen wir beim Lesen der Verse 4-19 unseres Kapitels. Er verurteilte zutiefst sich selbst als eins mit seinem Volk, und er rechtfertigte Gott in seinen Gerichten und verkündete seine Gerechtigkeit in allem, was Er getan hatte.
Diese Worte Daniels sollten nachhaltig von jedem von uns bedacht werden! Nirgendwo in der Bibel finden wir ein ansprechenderes Beispiel von einem so tief gehenden Bekenntnis und Gebet, obgleich Esras Gebet in Kapitel 9 seines Buches ihm ähnelt. Er spielte nicht auf den Verheißungsbund an, den Gott mit Abraham machte, sondern stellte sich selbst vor Gott auf den Boden des Gesetzesbundes durch Mose und den darauf folgenden Dienst der Propheten. In dieser Hinsicht bekannte er den völligen Zusammenbruch und das Unglück, obgleich er selbst weniger als irgendein anderer in seinen Tagen an dem Verfall beteiligt war.
Aber so ist es immer. Die am meisten in Versagen und Sünde verwickelt sind, haben eben dadurch das Gefühl für die Tiefe verloren, zu der sie abgesunken sind, während solche, die weniger in die Übel verstrickt sind, ein schmerzliches Bewusstsein vom Zustand der Dinge haben. Wie sieht es heute in der bekennenden Kirche aus? Eine prophetische Skizze der Kirchengeschichte wird uns in Offenbarung 2 und 3 dargestellt. Die letzte Phase ist die von Laodizea. Sind diejenigen, die den Niedergang vor anderen verschulden, wohl fähig zur Beugung in Bekenntnis und Gebet? Nein. Nur solche, die kaum eine Schuld trifft, sind dazu bereit. Mögen wir alle es beherzigen!
Die Kennzeichen eines wahren Bekenntnisses kommen hier deutlich zum Ausdruck. Das Böse wird anerkannt ohne jeglichen Versuch, es zu entschuldigen oder zu verharmlosen. Dass Gottes Gerichte und Züchtigung rechtens sind, wird voll und ganz anerkannt, und die Bitte, Gott möge Rettung geben, wird eindringlich vorgebracht und in Übereinstimmung mit seinem Wort, „nicht um unserer Gerechtigkeiten willen, sondern um deiner vielen Erbarmungen willen“. Lasst uns solche vorzüglichen Merkmale pflegen in unseren Tagen. Auch wir können nichts erbitten aufgrund von Verdiensten, sondern nur aufgrund von Erbarmen. Wenn wir den Zustand der Christenheit heute ansehen, und auch unseren eigenen Zustand, so lasst uns Raum geben dem Geist eines demütigen Bekenntnisses, wie er Daniel auszeichnete.
Ein solches Bekenntnis und Gebet begegnen einer unmittelbaren Antwort, wie wir in Daniel 9,20 und 21 sehen. Gabriel, der Bote Gottes, überbrachte, „schnell fliegend“, Daniel einen Bescheid, um ihn „Verständnis“ zu lehren hinsichtlich der künftigen Ereignisse und auch um ihn wissen zu lassen, dass er in Gottes Wertschätzung ein „viel geliebter“ Mann sei. Welchem anderen Gläubigen wäre je ein solches Zeugnis über sich selbst ausgestellt worden? Unser Herr sprach die Worte: „Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden“ (Mt 23,12). Hier bietet sich uns dazu eine Illustration. Daniel hatte sich so außergewöhnlich gedemütigt, und so darf er wissen, im Himmel ein „Vielgeliebter“ zu sein. Welche Erhöhung! Hätte er sich nicht so wahrhaftig gedemütigt, dann könnte ihn eine solche Zusicherung aufgebläht und dadurch ruiniert haben.
Gabriel wurde beauftragt, Daniel die Prophezeiung über die „70 Wochen“ zu deuten. Das Wort Woche bezeichnet hier eine Periode von sieben Zeiteinheiten; das können Tage sein oder, wie hier offensichtlich, Jahre. Wir haben soeben gesehen, dass Daniel durch die Entdeckung der Tatsache, dass die 70 Jahre Verwüstung nahezu abgelaufen waren, zu
Bekenntnis und Gebet angeregt wurde; jetzt hat er zu lernen, dass 70 Jahre mal sieben vergehen müssen, bis nach göttlicher Zeitrechnung eine volle Erlösung und Segnung erreicht sein würden, wie Vers 24 anzeigt (Dan 9,24).
Die Mitteilungen in diesem Vers müssen wir sorgfältig beachten. Zuerst einmal ist die angegebene Zeit „über dein Volk und über deine heilige Stadt bestimmt“ und nicht über die Welt im allgemeinen; obgleich Ereignisse, die Israel und Jerusalem angehen, zweifellos eine große Wirkung auf die allgemeine Welt haben. An zweiter Stelle bedeutet der „Abschluss“ oder das „Ende“, dem die Entwicklung zustrebt, die Aufrichtung der vollen Segnungen im Tausendjährigen Reich. Dann erst wird die traurige Geschichte der Übertretungen und der Sünde vorüber sein; dann wird eine „ewige Gerechtigkeit“ eingeführt sein; dann werden Gesicht und Prophezeiung versiegelt werden, da alles erfüllt ist; dann wird ein „Allerheiligstes“ gesalbt und für Gott abgesondert sein, wie es auch eine Stelle wie Hesekiel 43,12 voraussagt. Das Ende der 70 Jahre Verwüstung an sich würde nur einen schwachen und unvollkommenen Ausblick bieten.
Die 70 Wochen oder 490 Jahre sind indessen in drei Abschnitte einzuteilen, und sie hatten ihren Anfang, als das Wort ausging, Jerusalem wiederherzustellen und als Stadt zu bauen. Die Eingangsverse des Buches Esra geben uns den Erlass des Königs Cyrus, den Tempel wiederaufzubauen. Der Erlass zum Wiederaufbau der Stadt war der des Königs Artasasta, wie Nehemia 2 berichtet. Er bedeutete den Start der 70 Wochen, die hier vorhergesagt werden. Der erste Abschnitt, oder neunundvierzig Jahre, umfasst den Wiederaufbau und die Wiedereinsetzung Israels in der Stadt und im Land; es ist die Zeit bis zum Propheten Maleachi. Daran schlossen sich die 62 Wochen oder 434 Jahre an; sie erfüllten die Periode „bis auf den Messias, den Fürsten“.
Wir haben hier somit eine klare und eindeutige Prophezeiung, die sich erfüllt hat. Wenn wir ihre Erfüllung überprüfen, liegt die Hauptschwierigkeit in der Tatsache, dass die Juden ihre Jahre anders zählen als wir, was Unstimmigkeiten hervorruft. Wir übernehmen gern das Ergebnis einer Untersuchung, die vor einigen Jahren der verstorbene Sir Robert Anderson durchgeführt hat, denn er war ein zuständiger und verlässlicher Mann. Er zeigte auf, dass die 483 Jahre bis auf Christus nicht nur korrekt angegeben waren, sondern dass sie sogar genau an dem Tag ausliefen, an dem Er sich seinem Volk öffentlich darstellte, nämlich als Er auf einem Eselsfüllen in Jerusalem einzog, wie Sacharja es vorhergesagt hatte.
Und was war die Folge dieser offiziellen Vorstellung? Genau das, war wir in Vers 26 finden. Der Messias wurde „weggetan“ und hatte „nichts“. So entsprach seine Verwerfung der Weissagung, und obgleich Er das Anrecht auf die ganze Erde besaß, stand Ihm nichts zur Verfügung: Ein Stall für die Geburt war geliehen; Er hatte nichts, um während seines Dienstes sein Haupt niederzulegen; auch sein Grab am Schluss war geliehen. Somit finden wir, dass die Juden hier eine Sünde begehen, die weit schlimmer war, als das Gesetz zu brechen und anhaltendem Götzendienst zu verfallen. Die Folgen dieser größten aller Sünden sind im letzten Teil von Vers 26 beschrieben (Dan 9,26).
Vor Jahren hörten wir von einem Christen, der zu einem jüdischen Rabbi sprach und ihn fragte, was denn in ihrer Geschichte Gott ein Recht gab, sie zu dem Unglück und dem Elend zu verdammen, das sie in Babylon erlitten. Er gab umgehend zu, dass sie das Gesetz gebrochen und Götzendienst geübt hätten. Nun, fuhr der Christ fort, dann sagen Sie mir, was haben Sie getan, das Gott ein Recht gab, Sie zu noch weit schlimmeren Katastrophen und Qualen zu verdammen, wie sie seit dem Jahr 70 n.Chr. andauern und, wie es scheint, an Härte noch zunähmen? Das war für ihn eine niederschmetternde Frage, und was wollte er darauf erwidern? Wir wussten sogleich, was darauf zu antworten war, und wiesen auf den zwischen zwei Räubern gekreuzigten Messias hin.
In dieser Prophezeiung werden am Schluss von Daniel 9,26 die Folgen der Tötung des Messias kurz zusammengefasst. Sehr bald danach wurde bereits die Stadt und das Heiligtum zerstört, und zwar durch „das Volk des kommenden Fürsten“. Dieser Fürst nun war das „kleine Horn“, von dem wir in Kapitel 7 gelesen haben, das Haupt des Römischen Weltreichs in seiner wiedererstandenen und letzten Phase, identisch mit dem ersten „Tier“ in Offenbarung 13. Dieser römische Gewaltherrscher wird noch kommen, doch das Volk der Römer war zur Zeit unseres Herrn die bestimmende Macht, die später auch Jerusalem gründlich zerstörte.
Jene Zerstörung war indessen erst der Anfang züchtigender Gerichte. Deshalb spricht die Prophezeiung von einem „Ende davon“, und zwar einer „überströmenden Flut“. Der Ausdruck zeigt nach unserer Meinung an, dass die Leiden und Verfolgungen, denen die Juden durch die Jahrhunderte ausgesetzt waren, kurz vor dem Ende zur Höhe einer Flut ansteigen. Die Schlussworte dieses Verses lauten: „bis ans Ende: Krieg, Festbeschlossenes von Verwüstungen“. Wahrlich eine Aussage, die mit ein paar Worten Bände füllt.
Während der letzten 19 Jahrhunderte ist Krieg das Hauptkennzeichen gewesen. Wenn alles, was sich auf Kriegsereignisse bezieht, aus unseren Geschichtsbüchern herausgeschnitten würde, dann blieb nicht mehr viel Geschichte übrig. Und Kriege werden vorausgesagt, die noch kommen werden. Doch die Juden und ihre Stadt stehen im besonderen Blickpunkt dieser Prophezeiung, und deshalb begegnen wir erneut dem Wort „Verwüstungen“. Unser Kapitel begann mit einer Bezugnahme auf die 70-jährige Verwüstung, die Jeremia vorhergesagt hatte; und jetzt an seinem Ende finden wir eine andere Prophezeiung über Verwüstungen, die an Dauer und schließlicher Stärke die früheren übertreffen werden. So folgte auf den Tod des Messias fast unmittelbar die Zerstörung Jerusalems, und schließlich steht, ohne genauere Angabe ihrer Dauer, eine lange Periode von Krieg und Verwüstungen in Aussicht.
Der Schluss von Vers 26 leitet uns über zu den Ereignissen am Schluss von Daniel 9,27. Wer ist „er“, mit dem dieser Vers beginnt? Es ist ganz klar der „kommende Fürst“, der das wiederaufgelebte Römische Reich der letzten Tage beherrschen wird. „Er wird einen Bund schließen mit den Vielen für eine Woche.“ Offensichtlich handelt es sich um die eine Woche, die die 70 Wochen dieser Prophezeiung vollmacht. Dieser Bund wird, wie wir es sehen, den Juden an jenem Tag erlauben, „Schlachtopfer und Speisopfer“ zu Jerusalem wiederaufzunehmen, denn in der Mitte der Woche wird er den Bund brechen, und die Verwüstungen werden ihren Höhepunkt erreichen.
Der zweite Teil von Vers 27 erwähnt ferner: „Wegen der Beschirmung der Gräuel wird ein
Verwüster kommen, und zwar bis Verwüstung und Festbeschlossenes über das Verwüstete ausgegossen werden.“ Das wird die Zeit der großen Drangsal sein, und in dem „Verwüster“ erkennen wir den „König frechen Angesichts“, von dem die letzten Verse von Kapitel 8 erzählen. Am Ende dieser 70. Woche wird der Messias mit Macht und großer Herrlichkeit erscheinen, wie andere Schriftstellen zeigen, und die „ewige Gerechtigkeit“ wird eingeführt werden. Sein Erscheinen wird den Verwüster stürzen und das Verwüstete vollständig befreien.
Der Tag der Gnade, in dem wir leben, findet eine Einschaltung zwischen der 69. und der 70. Jahrwoche. Der letztere Teil von Vers 26 zeigt, dass eine zeitlich unbestimmte Periode eintreten wird, deren Kennzeichen hinsichtlich der Weltereignisse und der Juden Krieg und Verwüstungen sind, die aber auch das Ausgehen des Evangeliums umschließt, wie das Neue Testament zeigt. So waren die Verwerfung und der Tod des Messias deutlich vorhergesagt, und als die Folge Bedrängnis der Welt im Allgemeinen und des jüdischen Volkes im Besonderen.