Der Fall Babylons war sowohl in den Prophezeiungen Jesajas als auch in denen Jeremias mit strahlenderen Hoffnungen für die Juden verbunden. Die teilweise Wiederherstellung, die in der Folge stattfand, liefert das Vorbild für die endgültige Sammlung Israels. Das erklärt die Vorstellung, die sich bei einigen Christen durchgesetzt hat, dass das, was damals geschah, alles ist, was wir für Israel als solches zu erwarten haben, und dass ihre spätere Sünde, ihren Messias und die Barmherzigkeit des Evangeliums für die Nationen abzulehnen, sie in einen nicht wiedergutzumachenden nationalen Ruin geführt hat.
Obwohl es in solchen Gedanken wahre Elemente gibt, sind sie sehr weit davon entfernt, die ganze Wahrheit zu sein. Gott lässt das Volk, das Er berufen hat, nicht im Stich. Niemals gibt Er ein Geschenk der Gnade und zieht es dann völlig zurück. Denn dieselbe Gnade, die verheißen wurde, befasst sich mit der Person und dem Herzen des Gläubigen und wirkt so lange, bis sie durch die Kraft des Heiligen Geistes sittlich heimgeholt wird. So gibt es neben der Barmherzigkeit, sei es gegenüber einem Einzelnen oder gegenüber einem Volk, das Er beruft, auch die langmütige Treue und Kraft, die am Ende immer triumphieren.
Die Geschichte der Vergangenheit war zweifelsohne ein völliger Fehlschlag. Der Grund dafür war, dass Israel sich entschied, auf seine eigene Stärke gegenüber Gott zu setzen und nicht auf die Güte Gottes ihnen gegenüber. Das ist immer und notwendigerweise verhängnisvoll für eine gewisse Zeit. „Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis dies alles geschehen ist“ (Mt 24,34). Das heißt, alles, was angedroht und vorausgesagt wurde, muss noch über die Generation Israels hereinbrechen, die sich auf ihre eigene Gerechtigkeit verließ und die schließlich ihren wahren Charakter zeigte, indem sie Christus und das Evangelium verwarf. Ein echtes Empfinden des moralischen Verderbens (d. h. der Reue gegenüber Gott) begleitet immer einen echten, lebendigen Glauben. Israel hat diese Phase der Selbstsicherheit durchlaufen oder durchläuft sie noch. „Diese Generation“ ist noch nicht vergangen: Es sind noch nicht alle Dinge erfüllt. Sie haben noch nicht alle Folgen ihrer eigenen Torheit und ihres Hasses auf Gottes Sohn erlitten. Sie müssen noch die schwerste Züchtigung dafür erleiden; denn, obwohl die Vergangenheit schon bitter genug war, gibt es noch schrecklichere Dinge in der Zukunft. Aber wenn alles geschehen ist, werden sie eine neue Szene beginnen, wenn es nicht mehr die Christus ablehnende Generation sein wird, sondern das, wovon die Schrift als „die kommende Generation“ spricht: ein neuer Stamm desselben Israels, der durch den Glauben an Christus Jesus Kinder Abrahams sein wird – Kinder, nicht nur im Wort, sondern im Geist. Dann wird die Geschichte folgen, nicht die des Versagens des Menschen, sondern die eines Volkes, das der Herr in seiner Gnade segnet; wenn sie freudig denselben Heiland besitzen werden, den ihre Väter mit bösen Händen gekreuzigt und getötet haben.
Dieses Kapitel beschäftigt sich besonders mit Jerusalem und den Juden. Es ist eine Art Zwischenzeit in der allgemeinen Geschichte Daniels, aber keineswegs eine, die nicht damit in Verbindung steht. Denn wir werden feststellen, dass die abschließende Geschichte Israels sie in besonderer Weise mit diesen Persönlichkeiten verbindet, die noch gegen Gott und sein Volk auftreten werden, wie wir in den vorherigen Kapiteln gelesen haben. Es muss für jeden, der das Kapitel aufmerksam liest, offensichtlich sein, dass sein Hauptgegenstand das Schicksal Jerusalems und die zukünftige Stellung des Volkes Gottes ist. Nun war Daniel hieran auf besondere Weise interessiert. Er war jemand, der sein Volk liebte, nicht nur weil es sein Volk war, sondern weil es Gottes Volk war. Darin ähnelt er Mose – selbst dann, als der moralische Zustand des Volkes Gott daran hinderte, von ihnen als seinem Volk zu sprechen (Er mochte sich im Geheimen um sie kümmern, aber ich spreche jetzt davon, dass Gott sie öffentlich besaß), plädiert Daniel immer noch dafür, dass es sein Volk war. Er gibt niemals die Wahrheit auf, dass Jerusalem Gottes Stadt und Israel sein Volk war. Der Engel mochte sagen, Daniels Volk und Stadt – das war alles ganz richtig; aber Daniel hält immer noch an der kostbaren Wahrheit fest, die der Glaube niemals aufgeben sollte – mögen die Menschen sein, was sie wollen, sie sind Gottes Volk. Gerade deshalb müssten sie mehr und mehr gezüchtigt werden. In Wahrheit bringt nichts mehr Züchtigung über jemanden, der zu Gott gehört und in Sünde gefallen ist, als dass er zu Gott gehört. Es ist nicht nur eine Frage dessen, was gut für das Kind ist. Gott handelt für sich selbst und aus sich selbst heraus; und das ist der Dreh- und Angelpunkt all unseres Segens. Was wäre es für uns, wenn es nur wahr wäre, dass Gott zu unserer Ehre wirkt? Wir freuen uns in der Hoffnung auf die Herrlichkeit Gottes. Wir werden etwas viel Besseres haben, denn es wird Gott sein, der uns nach dem segnet, was seiner selbst würdig ist.
Nun war Daniel jemand, der mit Nachdruck auf diesen Gedanken einging. Es ist das hervorstechende Merkmal des Glaubens. Denn der Glaube sieht eine Sache nie nur in Verbindung mit sich selbst, sondern mit Gott. Es ist immer so. Wenn es um den Frieden geht, ist es dann nur, dass ich den Frieden will? Zweifellos will ich ihn als ein armer Sünder, der sein ganzes Leben lang mit Gott im Krieg war. Aber wie unendlich gesegneter ist es, wenn wir herausfinden, dass es „Frieden mit Gott“ ist: nicht nur ein Frieden mit dem eigenen Herzen und Gewissen, sondern mit Gott! Er gibt einen Frieden, der vor Ihm Bestand hat. Sein ganzer Charakter kommt zum Vorschein, wenn Er ihn mir gibt und ihn auf eine solche Grundlage stellt, die Satan niemals antasten kann. Er ist dazu da, mich zu erlösen, der Sünde das Genick zu brechen; und nichts tut das so vollständig wie dies – dass Gott mir begegnete, als ich nichts anderes als Tod und ewiges Gericht verdiente, und seinen geliebten Sohn dafür hingab, mir einen Frieden zu geben, der seiner selbst würdig ist. Und Er hat es getan; Er hat es gegeben; und alle christliche Praxis kommt aus der Gewissheit hervor, dass ich diesen Segen in Christus gefunden habe.