Es wird uns nicht gesagt, wie lange die Zeit zwischen den in Kapitel 2 und 3 berichteten Ereignissen war, aber es drängt sich der Eindruck auf, dass eine Beziehung bestand zwischen dem Traumbild Nebukadnezars und dem riesengroßen Bild, das er dann machen ließ. In seinem Traumbild war nur das Haupt, das ihn selbst darstellte, von Gold. Er aber ließ sein gewaltiges Bild ganz von Gold machen.
Da die alte Elle der Länge des menschlichen Armes entsprach – etwa 45 bis 50 Zentimeter –, muss dieses Bild eine Höhe von etwa 30 Meter und eine Breite von etwa 18 Meter gehabt haben. Der unermessliche Vorrat an Gold, der dem König ermöglichte, ein solches Vorhaben auszuführen, mag nicht an die Goldmengen heranreichen, über die ein Salomo verfügte, doch er zeigt, dass die „Zeiten der Nationen“ mit einer Entfaltung von Macht, Reichtum und Pracht begannen. Und wie wird diese Periode heidnischer Herrschaft enden? Die Antwort darauf finden wir in Offenbarung 13. Ein anderer mächtiger König wird aufstehen und ein weiteres großes Bild wird gemacht werden. Wenn wir beide Szenen vergleichen, bemerken wir manche Ähnlichkeiten, jedoch auch einen bezeichneten Gegensatz. Im ersten Fall war es der „Gott des Himmels“, der Nebukadnezar „Macht und Gewalt und Ehre“ gab, wohingegen der kommende große König, der „das Tier“ genannt wird, „seine Macht und seinen Thron und große Gewalt“ von dem „Drachen“ bekommen wird, also von dem Teufel selbst.
Die Ähnlichkeiten sind gleicherweise auffallend und bezeugen die Tatsache, dass die sündigen Neigungen des armen gefallenen Menschen zu allen Zeiten genau die gleichen sind. Durch den Gott des Himmels wurden Nebukadnezar viel Macht und Ehre gewährt, doch sogleich benutzte er sie, sich selbst durch dieses riesige Bild zu verherrlichen. Viele verschiedene Völker unterstanden seiner Herrschaft, und sie hatten ein jedes seine eigenen Götter, die sie anbeteten. Nun sollten sie, während sie ihre eigenen Gottheiten behielten, noch ein Art „Superreligion“ über sich haben, die dem Zweck diente, sie unter seiner Herrschaft fest zusammenzubinden. Deshalb der Ausruf des Herolds: „Ihr Völker, Völkerschaften und Sprachen …“
Diese alten Monarchen wussten überdies, wie sie Volksmassen beeinflussen konnten. Die
Musik übt eine unaufdringliche Wirkung auf das menschliche Gemüt aus, sei es in der kultivierten klassischen Weise oder in den minderwertigen Erzeugnissen der heidnischen Welt. Tatsächlich erzielen Letztere die am stärksten berauschenden Effekte, wie es die „Teufelstänze“ der Wilden zustande bringen. Unter der Einwirkung solcher Musik geraten die Leute, und besonders Jugendliche, in den Zustand eines Rausches.
Um eine solche gewaltige Völkermenge zur Anbetung des goldenen Bildes zu bringen und in dieser Form dem mächtigen König zu huldigen, erklang „allerlei Art von Musik“. Wer der Aufforderung nicht nachkam, der wurde mit einer furchtbaren Strafe bedroht: lebendig in den brennenden Feuerofen geworfen zu werden.
Ganz ähnliche Dinge werden in Offenbarung 13 für das Ende des Zeitalters vorausgesagt, jedoch mit noch erstaunlicheren Begleiterscheinungen. Statt musikalischer Verführungskünste wird der falsche Prophet die Macht haben, dem Bild des Tieres Odem und Rede zu geben, und solche, die sich weigern, es anzubeten, werden getötet. Die Ankündigung einer solchen Kraft, dem Bild „Leben“ zu vermitteln, ist bestürzend, aber wir müssen uns erinnern, dass jene Zeit gekennzeichnet sein wird von der „Wirksamkeit des Satans, in aller Macht und allen Zeichen und Wundern der Lüge und in allem Betrug der Ungerechtigkeit in denen, die verlorengehen“ (2Thes 2,9.10).
Beim Weiterlesen in unserem Kapitel erfahren wir, wie Gott die Gedanken Nebukadnezars durchkreuzte und seinen Plan vereitelte. Und wenn wir in Offenbarung weitergehen bis zu Kapitel 19, sehen wir, wie ein noch weit furchtbareres und ewiges Gericht, das, obgleich länger zurückgehalten, auf das Tier – verkörpert in dem kommenden Bild – und auf den falschen Propheten, der es unterstützt, fallen wird.
Von allen Lüsten und Begierden, die dem armen gefallenen Menschen innewohnen, sitzt der Wunsch, sich selbst zu verherrlichen, am tiefsten, und er wird nicht davor zurückschrecken, sich zum Gott zu machen. Am Anfang unterlag er der verführerischen Behauptung Satans: „Ihr werdet sein wie Gott, erkennend Gutes und Böses“ (1Mo 3,5). Der Widersacher verschwieg natürlich, dass sie danach nicht fähig sein würden, das Gute zu vollbringen und das Böse zu meiden. Selbsterhebung ist seitdem die herrschende Idee in unserer Welt. So war es bei Nebukadnezar. In dem Augenblick war er die Spitze der Pyramide. Und unter ihm standen, ihn stützend, die „Satrapen, der Statthalter und die Landpfleger, die Oberrichter, die Schatzmeister, die Gesetzeskundigen, die Rechtsgelehrten und alle Oberbeamten der Landschaften“, und diese achtfache Auflistung bedeutsamer Persönlichkeiten findet sich zweimal in unserem Kapitel, um uns gleichsam zu beeindrucken von der Festigkeit dieser Pyramide und ihrem erhabenen Haupt. Von dieser anscheinend unwandelbaren Position aus verfügte der König seinen Erlass, durch den er wahrlich Gott trotzte. Und durch drei ergebene Knechte, die Er in der Reserve hatte, nahm Gott die Herausforderung an.
Es ist schon merkwürdig, dass Daniel in diesem Kapitel nicht erwähnt wird, doch kann uns das zu einer Ermunterung gereichen. Weshalb er nicht erwähnt wird und wo er war, wird nicht mitgeteilt. Aber es ermutigt zu sehen, dass Gott bei Abwesenheit eines Dieners von hervorragendem Mut und ungewöhnlicher Kraft weniger begabte Diener erwählen und benutzen kann, um durch sie machtvoll zu wirken. Die drei Genossen Daniels besaßen nicht sein Verständnis für Träume und Prophezeiungen, aber sie teilten mit ihm seine Ergebenheit gegenüber dem einen wahren Gott, was eine tiefgreifende Absonderung von dem Gräuel des Götzendienstes einschloss. Deshalb standen sie aufrecht, wenn die Menge vom Hochgestelltesten bis zum Geringsten niederfiel, um das Bild anzubeten. Sie gaben ein Beispiel für den Grundsatz, den die Apostel in Apostelgeschichte 5,29 feststellten: „Man muss Gott mehr gehorchen als Menschen.“
Ihre Feinde berichteten dies sogleich, was Nebukadnezar in Wut und Zorn versetzte. Immerhin veranlasste er eine Untersuchung, ob die gemeldete Verweigerung wirklich gegeben war, und gab dann seine letzte Forderung bekannt. Er verband sie mit der überheblichen Frage: „Wer ist der Gott, der euch aus meiner Hand erretten wird?“ Die Antwort der drei jüdischen Männer ist wahrlich denkwürdig.
Soweit wir uns erinnern, wird hier erstmalig berichtet, dass Dienern Diener Gottes die grässlichste Art der Todesstrafe angedroht worden ist, falls sie nicht ihren Gott verleugnen und den Glauben preisgeben würden, obgleich ein Prophet wie Elia von Isebel bedroht wurde. Seitdem hat es viele solcher Fälle gegeben. In Kapitel 6 betrifft es Daniel. In der Geschichte der frühen Kirche lesen wir von vielen, die den wilden Tieren vorgeworfen wurden, weil sie ihren Herrn und Meister nicht verleugnen wollten. Mancher „Ketzer“ in unserem Land (England) beschloss sein Leben auf dem Scheiterhaufen ebenso wie in Spanien unter der Inquisition; und wir glauben, dass in unseren Tagen nicht wenige unter der eisernen Faust des Kommunismus Märtyrer wurden. Aber der erste Fall – wir haben es oft erwähnt – bleibt überaus denkwürdig, und der feste Glaubensstand, den die drei Freunde Daniels bewiesen, hallt nach durch die Jahrhunderte.
An erster Stelle standen sie dafür ein, dass ihr Gott fähig wäre, sie zu erretten. Sie priesen seine Macht. An zweiter Stelle deuteten sie an, dass Gott eigene Gründe haben könnte, sie nicht zu retten. An dritter Stelle stellten sie mit äußerster Entschlossenheit fest, dass, wenn es ihrem Gott nicht gefiele, sie zu retten, sie Ihn dennoch nicht verlassen und das goldene Bild des Königs nicht anbeten würden, um dadurch falschen Göttern Ehre zu geben. „Wir werden deinen Göttern nicht dienen“ war ihr klares Wort, und es hatte zur Folge, dass ihr Gott ihnen große Ehre zuteilwerden ließ.
Jedoch mag es gut sein, wenn wir uns erinnern, dass die Verführungskünste der Welt unserem Zeugnis mehr Schaden zufügen, als wenn sie uns widersteht und mit Unheil oder dem Tod bedroht. Am Ende seines Lebens musste der Apostel Paulus schreiben: „Demas hat mich verlassen“, und das nicht, weil er die Drohungen der Welt fürchtete, sondern „da er den jetzigen Zeitlauf lieb gewonnen hat“ (2Tim 4,10). Unmittelbar vorher hatte Paulus von allen geschrieben, „die seine Erscheinung lieben“. Er wusste, dass die Erscheinung des Herrn Jesus eine Welt schaffen wird, die von der gegenwärtigen sehr verschieden ist, und dieser Wandel wird völlig den Gedanken Gottes entsprechen. Demas erlag der Verführung der jetzigen „Welt“ (oder des jetzigen „Zeitalters“), und in der gleichen Gefahr stehen wir – die Christen der Englisch sprechenden Länder, die von Verfolgungen, wie sie in anderen Regionen stattfinden, gänzlich ausgenommen sind. Möge Gott uns jene Entschiedenheit geben, die die drei hebräischen Männer auszeichnete, so dass wir gegenüber allen Verlockungen sagen können: „Es werde kund … wir werden nicht …“
Im Fortgang der Erzählung bemerken wir bei Nebukadnezar eine vollständige Veränderung, verglichen mit dem Bild, das er am Ende des zweiten Kapitels bot. Dort fiel er in der Gegenwart Daniels auf sein Angesicht, womit er seine Nichtigkeit bezeugte. Nun steht er auf seinen Beinen und ist so voll des Grimmes, dass sein Angesicht sich zu wilder Entschlossenheit verfärbt. Nicht nur werden die drei Männer, die seinem Willen getrotzt haben, ins Feuer geworfen, der Ofen wird auch siebenmal mehr als sonst üblich geheizt. Und die stärksten Männer seines Heeres müssen herbei, um die Verurteilten hineinzuschleudern. Sie führten die Tat aus. Das Urteil wurde vollstreckt.
Doch in dem Augenblick wurde Gottes Hand sichtbar. Das Gericht traf nicht die wehrlosen Juden, sondern die stärksten Männer aus Nebukadnezars berühmtem Heer. Ihre von der übergroßen Hitze getöteten Körper bekam der stolze, gottlose König als Erstes zu sehen. Was für ein demütigender Anblick für ihn! Als Nächstes sah er vier Männer frei und unverletzt mitten im Feuer wandeln, dessen äußerste Flammen seine besten Soldaten getötet hatte. Das Feuer, das ihnen den Tod brachte, bedeutete diesen Knechten Gottes Bewahrung und Freiheit. Sie waren „gebunden“ hineingeworfen worden, aber jetzt „wandelten“ sie, denn das einzige, was die Flammen verzehrt hatten, waren ihre Fesseln, und zudem leistete ein himmlischer Besucher ihnen Gesellschaft.
Angesichts eines solchen Wunders gab sich der erzürnte König geschlagen. Der Traum in Kapitel 2, den Daniel ihm deutete, hatte ihn bewegt, aber obgleich er erfuhr, dass er selbst das goldenen Haupt des Traumbildes war, hatte er nicht die Tatsache zu Herzen genommen, dass es der „Gott des Himmels“ war, der ihm die höchste irdische Machtstellung verliehen hatte. Er würde sonst nicht überheblich gefragt haben: „Wer ist der Gott, der euch aus meiner Hand erretten wird?“ Der Gott des Himmels, der ihm seine Herrschaft übertragen hatte, nahm seine Herausforderung an, machte sein Wort zunichte, dämpfte die Gewalt des siebenfach angeheizten Feuers und zeigte sich in der Gegenwart derer, die ihm zum Opfer fallen sollten.
Der König erkannte, dass die vierte Gestalt einem „Sohn der Götter“ glich. Zweifellos war es von Gott, wie er seiner Überzeugung Ausdruck gab. Bileam hatte Aussprüche getan, die er ohne göttlichen Zwang nie geäußert haben würde. Kajaphas sprach eine Weissagung aus, deren Sinn seiner Absicht völlig widersprach, wie Johannes 11,51 berichtet. So war es auch hier. Nebukadnezar musste anerkennen, dass Gott eingegriffen hatte und sich durch seine Gegenwart zu den Männern bekannte, die er zu töten gesucht hatte. Und er gebrauchte die genau richtigen Worte, obgleich er deren wahren Sinn kaum verstand. Während es der Vater ist, der den Ratschluss entwirft, ist es der Sohn, der ihn offenbart und ausführt. Wir lernen dies verstehen, wenn wir zum Neuen Testament kommen.
Das Wunder war so vollständig, dass ihre Leibröcke nicht verändert und ihre Haare nicht versengt waren, selbst der Geruch des Feuers hatte sie nicht erreicht. Der König erkannte sehr deutlich die Hand Gottes und anerkannte deren gewaltige Macht. Aber er kam nicht weiter, als Ihn zu erkennen als den „Gott Sadrachs, Mesachs und Abednegos“, ähnlich wie er Ihn am Schluss des zweiten Kapitels als den Gott Daniels erkannte hatte. Er anerkannte Ihn nicht als seinen Gott, obwohl er schwere Strafen all denen androhte, die Unrechtes wider Ihn sprechen würden. Dieser große Mann, mit dem die Zeiten der Nationen begannen, hatte eine noch ernstere Lektion zu lernen.