Das Bild Nebukadnezars und seine Einweihung
Das Bild aus Kapitel 2, das Nebukadnezar in seinen Träumen gesehen hatte, schattete nach der zuverlässigen Deutung Daniels den gesamten Verlauf der Zeiten der Nationen vor. Es handelt sich daher um ein generelles Bild, das jedoch in seiner Übersicht so eindeutig ist, dass niemand, der sich ernsthaft mit dem Thema beschäftigt, seine Bedeutung missverstehen kann. Wer wirklich nachforscht, kann den Charakter der Königreiche erkennen, die den Zeitraum zwischen der Zerstörung Jerusalems durch Nebukadnezar und der Erscheinung Christi in Herrlichkeit überbrückt. Nach diesem allgemeinen Überblick wird unsere Aufmerksamkeit durch den Geist Gottes auf das gelenkt, was man die moralischen Eigenschaften der heidnischen Mächte nennen könnte, wie sie hauptsächlich in Babylon dargestellt werden. Doch auch wenn sie dort dargestellt werden, so sind die verschiedenen Eigenschaften doch typisch oder repräsentativ für das, was während der gesamten Zeit der heidnischen Herrschaft gesehen werden wird. In anderen Worten: Wir dürfen jetzt den Nutzen sehen, den die Nationen aus der ihrer Verantwortung anvertrauten Macht ziehen werden.
Dies wird uns unvermittelt im ersten Vers dieses Kapitels vorgestellt:
„Der König Nebukadnezar machte ein Bild aus Gold: seine Höhe sechzig Ellen, seine Breite sechs Ellen; er richtete es auf in der Ebene Dura, in der Landschaft Babel“ (3,1).
So ist der Mensch. Nebukadnezar hatte von Daniel erfahren (wenn er es nicht bereits vorher gewusst hat), dass der Gott des Himmels ihm sein weltweites Königreich gegeben hatte, und er hatte bekannt, dass Daniels Gott ein „Gott der Götter und ein Herr der Könige“ war (2,47) – und dennoch nutzt er seine umfassende Macht, um sich selbst einen Gott zu machen, seinen eigenen Willen über die Gewissen seiner Untertanen in seinem gesamten Herrschaftsbereich geltend zu machen und so den Platz und die Autorität an sich zu reißen, die allein dem Gott des Himmels gebührte. Das bedeutet, dass er die ihm von Gott gegebene Macht missbrauchte, um Gott zu verleugnen und sich selbst an Gottes Stelle zu setzen, wenngleich dieser Grundzug im Folgenden auf eine noch deutlichere Art zu Tage tritt.
Ein solches Verhalten wäre völlig unerklärbar, wenn wir nicht mit den verborgenen Motiven vertraut wären, die das menschliche Herz anregen und regieren, und wenn wir vergessen, dass wir selbst oftmals die Segnungen, die uns von Gott gewährt wurden, zu unserem eigenen Vorteil und unserer Erhöhung benutzt haben. Tatsächlich mag Nebukadnezar einen starken Antrieb für den Gang der in diesem Kapitel dargestellten Ereignisse gehabt haben. Sein Herrschaftsgebiet muss eine ungeheuerliche Ansammlung von Völkern gewesen sein, bestehend aus zahllosen Sprachen (siehe Dan 3,4-8) und Religionen, die politisch gesprochen alle dahin tendierten, den Frieden seines Königreiches zu stören.8 Wenn also die verschiedenen Herrschaftsbereiche durch eine gemeinsame Religion geeint werden konnten, würde sein Imperium gestärkt und das Wohlergehen seiner Untertanen gefördert werden. Was auch immer seine Gedanken waren, dies war der Kurs, den er einschlug, und er machte die beeindruckende Statue, die er dazu bestimmte, als Gottheit zu dienen für alle „Völker, Völkerschaften und Sprachen“, die seiner Autorität untergeben waren.9
8 Die Schwierigkeiten in der Regierung Indiens, die den religiösen Unterschieden entspringen, illustrieren dies.↩︎
9 Es ist häufig vorgeschlagen worden, dass das Bild aus seinem Traum die Vorlage für den Götzen lieferte. Es ist sicherlich bemerkenswert, dass das eine so dicht auf das andere folgte und dass er seinen Götzen aus Gold machte, wie der Kopf der Statue, die sein Königreich darstellte, aus Gold war. Es mag eine gedankliche Verknüpfung zwischen den beiden gegeben haben, doch das Erstaunliche ist, wie wir bereits gesehen haben, dass die Eindrücke, die er durch die Offenbarung seines Geheimnisses erhielt, und die Deutung, die Daniel ihm gegeben hatte, so schnell wieder erloschen waren. Dennoch wissen wir alle, wie schwankend die tiefsten Gefühle sind, wenn der Heilige Geist kein gutes Werk in der Seele vollbringt.↩︎