Wir finden diese Lektion, wenn wir in diesem Kapitel weiterlesen. Die Erzählung nimmt jetzt eine bemerkenswerte Wendung. Wir dürfen Dinge kennenlernen, die Nebukadnezar zu einem späteren Zeitpunkt aufschreiben und all den vielen Nationen und Sprachen verkündigen ließ, über die er herrschte. Er gab kund, wie Gott – den er nun den „Höchsten“ nannte – mit ihm persönlich gehandelt habe. Es war die Geschichte seiner eigenen vollkommenen Niederlage und Demütigung unter Gottes Hand. Deshalb zeigte eben die Tatsache, dass er diese Geschichte weithin veröffentlichte, eine große und fundamentale Veränderung in seinem Denken und seiner Haltung an.
Die Vorrede zu diesem Bericht, und besonders Vers 3, ist sehr eindrucksvoll. Als Erstes erwähnt er „seine Zeichen“ und „seine Wunder“ (Dan 4,3). Wir leben in einem Zeitalter, das der Glaube kennzeichnet. Der Apostel konnte von einer Zeit schreiben, „bevor der Glaube kam“, und wiederum von einer anderen Zeit, „nachdem der Glaube gekommen ist“ (Gal 3,23.25). Bevor die Zeit des Glaubens begann, kam sichtbaren Zeichen eine besondere Bedeutung zu. Doch treten sie ebenso auf, wenn Gott eine neue Haushaltung einführt. Er bestätigte Neues durch wunderbare Zeichen. So war es, als Er Israel aus Ägypten brachte und die Gesetzesepoche am Sinai begann. Und so geschah es in höchster Form, als Er sich selbst in seinem Sohn Jesus Christus offenbarte. Und dann wieder, als die Zeit der Kirche begann, wie wir es in der Apostelgeschichte finden. So sehen wir es auch hier zu Beginn der Zeiten der Nationen.
Das besondere Zeichen und Wunder, von dem Nebukadnezar nun zu berichten im Begriff steht, ist, wie wir sehen, für ihn sehr demütigend. Innerhalb einer Stunde wurde ihm sein Königreich genommen, obgleich es ihm gegenwärtig zurückgegeben war. Im Gegensatz hierzu bekannte er, dass Gottes Königreich ewig währt. In ihrer vollen Bedeutung mag ihm diese Wahrheit kaum aufgegangen sein. Immerhin überdauerte sein Reich, abgebildet durch das Gold, zwei oder drei Generationen, bevor es einem anderen weichen musste, das durch das Silber vorgestellt wird. Das Reich Gottes, so musste er anerkennen, dauert von Geschlecht zu Geschlecht. Dies bekannte er, bevor er von seiner Erfahrung berichtete, die ihm zu solcher Einsicht verholfen hatte. Gott musste im Gericht mit ihm handeln.
Voraus erging eine Warnung vonseiten Gottes. Das ist immer seine Weise. Vor der Flut warnte Gott durch Noah. Pharao war gewarnt, bevor die Gerichte Ägypten trafen. Und wie war Jerusalem durch Jeremia gewarnt worden, bevor die Stadt dem Ansturm der Chaldäer erlag. Auch heute fehlt es nicht an Warnungen im Blick auf die Gerichte, die ausbrechen werden, wenn die Zeit der Kirche zum Abschluss kommt. Und bei Nebukadnezar, diesem mächtigen Herrscher, war es nicht anders. Gott warnte ihn, indem er dazu einen Traum benutzte. Sein erster Traum mochte ihm wohl viel selbstherrlichen Auftrieb vermittelt haben, denn er war das Haupt von Gold. Sein zweiter Traum warnte ihn vor einem totalen Sturz. Die Warnung erreichte ihn gerade auf dem Gipfel seines Wohlergehens. Seine vielen kriegerischen Feldzüge waren beendet, seine gewaltigen Eroberungen abgeschlossen. Im Palast seiner prachtvollen Hauptstadt genoss er diese Zeit der Blüte und pflegte der Ruhe. Wie wir alle wissen, sind Träume seltsame und unerklärliche Vorgänge. Wenn der Schlaf schwächer wird und der Geist wieder auflebt, huschen ungewöhnliche Dinge durch das erwachende
Bewusstsein. Es überrascht deshalb nicht, dass es Gott gefällt, durch einen Traum den Menschen seine Gedanken und Absichten bekannt zu machen, besonders zu entscheidender und notvoller Zeit. Wie denkwürdig, wenn Gott in den ersten beiden Kapiteln des Matthäusevangeliums nicht weniger als fünfmal durch Träume spricht.
Dieser zweite Traum versetzte ihn von neuem in Unruhe und Furcht. Er entstammte – woran er nicht zweifelte – der unsichtbaren Welt und enthielt eine Botschaft an ihn; doch frühere Führungen Gottes hatten ihn bisher wenig geprägt, denn in seiner Verlegenheit dachte er zuerst wieder an die chaldäischen Weisen und Wahrsager, und erst als sie versagten, war wiederum Daniel seine letzte Zuflucht.
Jedoch fällt uns auf, dass der König Daniel unter seinem heidnischen Namen anspricht, den er selbst ihm gegeben hat. Zweimal finden wir in den Versen Daniel 4,8 und 9 „Beltsazar“, und er fügt noch hinzu „nach dem Namen meines Gottes“, denn Bel war einer der Hauptgötter Babylons. Und übereinstimmend mit dem heidnischen Namen, den er benutzte, anerkannte er lediglich, dass in Daniel „der Geist der heiligen Götter“ wäre. Der wahre Gott – der „Gott des Himmels“, der ihm seine gewaltige Herrschaft verliehen hatte – war ihm immer noch unbekannt.
Wir erfahren diese Dinge – daran sei erinnert – nach seinem eigenen Bekenntnis, bevor er sich anschickte, den Traum zu erzählen, der ihm Furcht einflößte und ihn vor einem Schlag durch Gottes Hand warnte.
Die Verse in Daniel 4,10-17 enthalten den Bericht Nebukadnezars über den Traum, der ihn ängstigte. Beim Lesen merken wir darin sogleich starke übernatürliche Anklänge. Nicht nur ist da die Rede von einem „Wächter und einem Heiligen“, die vom Himmel herabsteigen, sondern auch von einem Beschluss, den der „Höchste“ gutheißt, der „über das Königtum der Menschen herrscht“. Der König konnte sich nur noch an Daniel wenden, den er Belsazar nannte „nach dem Namen meines Gottes“. Jesaja 46,1 erwähnt die Götter Babels in ironischem Sinn: „Bel krümmt sich, Nebo sinkt zusammen.“ Obwohl der König sich Aufklärung von einem Mann erhoffte, in dem „der Geist der heiligen Götter ist“, überrascht es uns nicht, dass er vor dem „Höchsten“ erschrak.
Entsetzt und bestürzt sehen wir auch in Daniel 4,19 Daniel, dem die Bedeutung des Traumes sofort offenbart wurde, denn er erkannte die Warnung an den König vor einer Züchtigung durch Gottes Hand, also vor einem äußerst schweren Schlag.
Vergegenwärtigen wir uns kurz, was diesem Traum vorausgegangen war. Die Zeiten der Nationen begannen, als Nebukadnezar auf dem Höhepunkt menschlicher Machtentfaltung stand und eine unvergleichliche Selbstherrschaft ausübte. Durch einen früheren Traum war er gewarnt worden, dass, obgleich er das Haupt von Gold in jenem Mannesbild war, Verfall einsetzen und am Ende die ihm zeitweilig übertragene Herrschaft durch Gottes Gericht zermalmt werden würde.
Wie wenig ihn die Prophezeiung berührt hatte, sehen wir im nächsten Kapitel. Von allen Leidenschaften im Herzen des gefallenen Menschen ist ihm Selbsterhebung die liebste. So hatte der große König das gewaltige Bild errichtet, das alle anbeten sollten, und wehe dem, der es nicht tat! Und wieder griff Gott ein. Er gab seinen drei Knechten Mut, dass sie dem Grimm des Königs trotzten, auch wenn der Ofen siebenfach überhitzt wurde. Die Folge war Nebukadnezars Niederlage. Gott machte ihn zum Narren in Gegenwart einer riesigen Menge seiner Völker. Nützte ihm eine solche Erfahrung?
Das Kapitel, das wir betrachten, beweist, dass es nicht der Fall war. Er ist immer noch ein Mensch, der sich selbst verherrlicht. So muss Gott auf eine noch drastischere Weise mit ihm handeln. Das erste Eingreifen richtete sich an seine Intelligenz – sein Verständnis der künftigen Entwicklung. Das zweite war eine Enthüllung göttlicher Macht, die ihn öffentlich demütigte. Obwohl er für den Augenblick zutiefst beeindruckt gewesen war, war eine nachhaltige Änderung ausgeblieben. Deshalb traf ihn jetzt eine persönliche Züchtigung, die jedoch das Königreich von „Gold“ weiter bestehen ließ.
Bei diesem zweiten Traum geht es um einen großen Baum. Anderswo in der Schrift werden große Männer und Nationen mit stattlichen Bäumen verglichen – zum Beispiel in Hesekiel 31. Das Bild war darum nicht ungewöhnlich. Daniel sah sofort, dass der Baum den König selbst abbildete und dass ihm Gericht drohte. Aber Gott wird ihn persönlich nicht schlagen, bevor Er ihn gewarnt hat. Gottes freundliche Vorsorge zeigt sich immer auf diese Art. Er ließ die Flut über die Welt der Gottlosen nicht kommen ohne vorausgehende vielfache Warnungen noch erfolgte die Wegführung Israels in die Gefangenschaft ohne die lange vorher ausgesprochenen Hinweise der Propheten. Heute leben wir in einer Zeit, die dem Gericht sehr nahegekommen ist und längst liegen entsprechende Warnungen vor. Nehmen wir sie genügend wahr? Wenn das Evangelium der Gnade gepredigt wird, kommt dann auch die Warnung genügend deutlich zur Sprache? Wir befürchten, dass es bedauerlicherweise vielfach nicht geschieht, dass sie vielmehr als ein unbeliebtes Thema vermieden wird.
Die meisten Menschen mögen solcher Warnungen heute ebenso missachten, wie es Nebukadnezar tat. Daniel fehlte es nicht an Mut, ihn zu warnen, ihm sogar zu raten, sein Verhalten zu ändern (s. Dan 4,27). Aber der König beachtete die Warnung nicht und befolgte auch nicht seinen Rat. Und selbst dann wartete Gott noch zwölf Monate, bevor das Gericht ihn traf.
Umherwandelnd inmitten der Pracht seiner Hauptstadt, genoss er noch einen Augenblick höchsten Stolzes. Alles sprach von seiner „Macht“, seiner „Ehre“, seiner „Herrlichkeit“. Die Ruinen Babylons sind noch heute denkwürdig, und Gelehrte haben die großartigen Bauwerke dieser Stadt in Bildern rekonstruiert. Wenn wir sie betrachten, können wir nur sagen, dass, wenn die Wiedergaben zutreffen, keine unserer gegenwärtigen Städte mit ihr konkurrieren könnte. Vom Stolz geschwellt, fühlte sich der König maßlos erhaben. Und da traf ihn der Schlag.
Vom Gipfelpunkt seines Ruhmes stürzte er ab auf die Stufe eines Tieres, ja fast noch darunter. Und in diesem elenden, viehischen Zustand musste er verharren, bis „sieben Zeiten“ verflossen waren. Es handelte sich nicht um eine kurzfristige Prüfung, sondern um eine lang anhaltende, obgleich nicht deutlich wird, ob „Zeiten“ Jahre bedeuten. An anderen Stellen ist das offensichtlich der Fall.
Diese Geschichte enthält, wie wir glauben, einen prophetischen Hinweis, denn es ist eine bemerkenswerte Tatsache, dass am Ende des Berichts über die heidnischen Weltreiche in Offenbarung 13 ein Tier erscheint. Der letzte Mensch, der diesen höchsten Platz innehaben und durch die Erscheinung des Herrn Jesus vernichtet werden wird, wird als ein „Tier“ beschrieben. Er wird kein Wahnsinniger sein, wie es Nebukadnezar war; er wird, weil Satan ihn beherrscht, weit schlimmer auftreten. Er wird seine Augen niemals zum Himmel erheben, sondern sie beständig niederwärts auf die Erde richten. Und ferner wird er, wenn wir nicht fehlgehen, ihn mit dem „kommenden Fürsten“ in Daniel 9,26.27 gleichzusetzen, während jener „Woche“ (von sieben Jahren), die in den genannten Versen erwähnt wird, wirken, so dass diese Woche als ein Gegenstück zu den „sieben Zeiten“ erscheint.
Doch besteht auch ein Gegensatz, denn das Tier der letzten Tage geht in den „Feuersee, der mit Schwefel brennt“, wohingegen Nebukadnezar am Ende der sieben Zeiten seine Gesundheit und sein Königreich wiedererlangt. Und weiter scheint diese Zeit nicht ohne Wirkung auf die Seele des Königs geblieben zu sein. Nicht nur erhebt er mit Verstand und Einsicht seine Augen zum Himmel, er verherrlicht auch Gott und nennt Ihn den „Höchsten“. Zum ersten Mal begegnet uns dieser erhabene Name Gottes in 1. Mose 14, wo Melchisedek Priester des „Höchsten, der Himmel und Erde besitzt“, genannt wird.
Einiges Verständnis dieser Tatsache scheint Nebukadnezar jetzt aufgegangen zu sein, wie wir es in den Versen Daniel 4,34 und 35 erkennen. Die Folge ist ein Bewusstsein seiner eigenen Nichtigkeit, denn er bekennt, dass „alle Bewohner der Erde wie nichts geachtet werden“, und wenn es sich um alle handelt, dann gehört er selbst auch dazu. Er anerkennt die Vormachtstellung Gottes, um im Himmel wie auf der Erde seinem Willen Geltung zu verschaffen. Angesichts der Größe und Macht Gottes anerkennt er schließlich seine Nichtigkeit und sein Unvermögen.
So hatte er am Ende seine Lektion gelernt. Er sprach die Anerkennung Gottes öffentlich aus, und deshalb wurde die ungewöhnlich schwere Züchtigung, durch die er hatte gehen müssen, aufgehoben, und er wurde, jetzt in geläutertem Geist, wieder in sein Königtum eingesetzt. Sein öffentliches Bekenntnis und sein Lobpreis des „Königs des Himmels“ werden im letzten Vers unseres Kapitels erzählt. Ihm schrieb er nun „Ehre“, „Wahrheit“ und ein „gerechtes Gericht“ zu, und zwar in all seinen Werken. Niemals hatte sich ein Mensch im Stolz mehr erhoben als dieser König, und niemals war ein Hochmütiger tiefer erniedrigt worden.
Gott vermag zu demütigen, und lasst uns seine Macht dazu nicht vergessen. Wir verweilen oft bei der Gnade Christi, wie der Hebräerbrief sie uns vorstellt, aber denken wir daran, dass Er nicht nur vermag Mitleid zu haben und „Gnade und rechtzeitige Hilfe“ zu gewähren, sondern dass Er ebenso zu beugen vermag. Er beugte Nebukadnezar auf äußerst wirksame Weise und offensichtlich zu seinem geistlichen Nutzen. Noch weit drastischer wird Er mit dem „Tier“ in Offenbarung 13 verfahren, wie wir am Ende von Kapitel 19 jenes Buches sehen werden. Der Stolz des Menschen, den seine wissenschaftlichen Fortschritte und daraus folgend seine wundervollen Errungenschaften hervorbringen, nimmt noch zu. Er wird sich bald zu maßloser Höhe steigern. Dann wird sich Nebukadnezars Bekenntnis in überwältigendem Maß als wahr erweisen – „der zu erniedrigen vermag, die in Hoffart wandeln“.