Einleitung
Wir sind jetzt in den Tagen angekommen, von denen der Judasbrief handelt. Ich würde sagen, wir sind weiter, denn die Johannesbriefe, obwohl sie vor diesem Brief stehen, lassen aus ihrem Inhalt schließen, dass sie danach kamen. Die Reihenfolge der Bücher im Neuen Testament ist, wie wir wissen, völlig menschlich und in der Tat nicht in allen Bibeln gleich. In den englischen ist sie es, aber im Ausland ist sie es nicht, und in den älteren Exemplaren der Heiligen Schrift gab es eine andere Reihenfolge, die in mancher Hinsicht sogar weniger korrekt ist als die, die wir haben; denn diese Briefe des Judas und des Johannes stehen vor den Briefe des Paulus. Ich brauche nicht zu sagen, dass darin keine göttliche Weisheit lag. Ich erwähne es nur, um die absolute Notwendigkeit der Führung durch den Heiligen Geist zu betonen. Es ist ganz gleich, was es ist. Man hätte denken können, dass die Menschen in den frühen Tagen ein gutes Urteilsvermögen hatten, wie sie die Bücher der Heiligen Schrift anordnen sollten, aber das hatten sie nicht. Ich spreche jetzt von einer Zeit lange nach den Aposteln, und wir sind noch weiter davon entfernt. Aber wir sind deswegen nicht im Nachteil, weil der Heilige Geist, der gegeben worden ist, noch immer in den Gläubigen wohnt. Der Niedergang der Versammlung hat keinen Einfluss auf diese Gabe.
Es ist eine sehr ernste Tatsache, und sie hat großen Einfluss auf die Antwort der Versammlung in der Praxis zur Ehre des Herrn Jesus, und sie bewirkt einen nicht geringen Unterschied für die Glieder Christi. Aber der Herr hat für alles vorgesorgt, als Er den Heiligen Geist herabsandte; und Er hat durch die Apostel bekanntgemacht, dass dies die traurige Geschichte war, die die Versammlung erwartete. Die Apostel zeigen uns, welche Katastrophen mit einer starken Flut hereinströmen würden – am meisten der Apostel Paulus, der sagt: „Ich weiß, dass nach meinem Abschied reißende Wölfe zu euch hereinkommen werden, die die Herde nicht verschonen“ (Apg 20,29). Oh, was für Charaktere! Was für Nachfolger! Apostolische Nachfolger! Ja, es gibt keine. Die Nachfolger würden grimmige Wölfe und verkehrte Menschen sein. Dennoch empfahl er die Gläubigen nicht weniger zuversichtlich „Gott und dem Wort seiner Gnade an“ (Apg 20,32).
Nun, das haben wir; und ich glaube nicht, dass das Wort seiner Gnade jemals so tief genossen wurde, wie es jetzt der Fall ist, seit vielen Hunderten von Jahren. Aber wer ist es nun, der das „Wort seiner Gnade“ genießt? Wir können nicht sagen, dass alle Gläubigen es tun. Sie sollten es tun. Können wir sagen, dass alle unsere lieben Brüder und Schwestern das Wort seiner Gnade genießen, wie es ihnen passt? Ich wünschte bei Gott, es wäre so. Es ist daher von allergrößter Bedeutung, dass wir, da wir die Not kennen, nicht nur um die Arbeit ernsthaft bemüht sind. Ich gebe zu, dass dies einen großen Platz für alle wahren Arbeiter hat, und auch, dass viele den Arbeitern helfen können, die selbst nicht gerade Arbeiter sind, sondern, geliebte Freunde, die erste aller Pflichten ist, dass wir die Rechte Gottes anerkennen. Das wird sogar von Heiligen Gottes beachtet. Die Erstlingsfrüchte gehören immer Ihm, es spielt keine Rolle, was es ist. Wir sind nie im Recht, wenn es nur die Liebe ist, die nach außen hin wirkt. Das Wichtigste ist, dass die Liebe nach oben wirkt. Ist Gott nicht unendlich mehr für uns als alle Bekehrten – wie man zu der armen Noomi, die ihre Söhne verloren hatte, sagen konnte: „Bin ich dir nicht besser als sieben Söhne“? Ist Er nicht mehr wert als hunderttausend Bekehrte?
Wie armselig ist es doch, nur anderen Menschen nützlich zu sein und nicht selbst in der Gnade und in der Erkenntnis unseres Herrn Jesus Christus zu wachsen! Wie kann das geschehen, außer durch Gott und das Wort seiner Gnade? Wie handelt Gott nun? Durch seinen Geist. Es gab Zeiten, da war es die große Wahrheit, dass Gott sich durch seinen Sohn offenbart hat. Nun, das bleibt. Das Wort und der Geist Gottes bleiben für immer. Aber jetzt ist der Heilige Geist vom Himmel herabgesandt. Er ist die göttliche Person, mit der wir beständig zu tun haben, und wir ehren Ihn entweder, oder wir versäumen es, dies zu tun. Der große Test, Ihn zu ehren, besteht darin, dass Christus alles für uns wird. Dies ist eine Wahrheit, die sogar in den apostolischen Tagen stark getrübt wurde. Es mag ein sehr kleiner Trost sein. Es ist auch ein sehr ernster und trauriger Trost, wenn ich eine solche Verbindung der Gedanken verwenden darf, aber so ist es, wenn wir daran denken, wie alles zum Versagen und zum Verfall neigt, das Zeugnis Gottes nicht ausgenommen, das seinen Kindern anvertraut wurde.
Es ist eine sehr ernste Sache, dass auch die Apostel dieselben Erfahrungen gemacht haben. Die letzten von ihnen mussten erleben, dass die beste der Versammlung – diejenige, die am hellsten gewesen war – vom Herrn gewarnt wurde, und der Herr der letzten Versammlung drohte; eine Warnung vor dem, was bald eintrat, und eine Drohung, die sicher ausgeführt werden sollte, nämlich – der einen den Leuchter wegzunehmen und die andere aus seinem Mund auszuspeien (Off 2 und 3).
Bedeutet das nun, dass das Vertrauen geschwächt werden soll? Es wurde offenbart, um die Notwendigkeit der Abhängigkeit vom Herrn zu stärken, um uns zu ermutigen, von der Erde und den Dingen, die hier sind, aufzuschauen, aber nicht aufzugeben. Wir sind nie frei, etwas aufzugeben, was von Gott ist. Wir sind nie frei, den Zustand des Ruins als Entschuldigung zu gebrauchen, einen Teil des Willens Gottes aufzugeben. Der Ruin der Versammlung hat nichts mit einer Schwächung unserer Verantwortung zu tun. Wir sollten umso wachsamer sein und mehr beten. Es ist vor allem nötig, dass Gott und das Wort seiner Gnade sich mit den Schwierigkeiten befassen, die Menschen ganz und gar überfordern. Doch überfordern sie den Geist Gottes?
Nun, das ist genau das Thema, über das Judas, ein „Knecht Jesu Christi“ schreibt. Denn er scheint nicht der Apostel Judas gewesen zu sein. Die meisten halten es für selbstverständlich, dass es nur ein Apostel sein konnte, der diesen oder einen der Briefe schrieb. Dies ist ein Irrtum. Viele der Apostel haben nie eine inspirierte Schrift geschrieben, und einige, die keine Apostel waren, haben sowohl Evangelien als auch Briefe geschrieben. Es ist eine Frage der Inspiration, eine Frage eines bestimmten Werkes Gottes, welches Gefäß der Heilige Geist benutzte. Von den vier, die die Evangelien schrieben, waren zwei Apostel, und zwei waren keine Apostel; so ist es auch mit den Briefen, wie es mir scheint, denn ich möchte nicht eine Sache durchdrücken, die von vielen Menschen so sehr bezweifelt wird. Aber dann ist es gut, sich daran zu erinnern, dass heutzutage fast alles angezweifelt wird!
Es ist von Interesse zu betrachten, wer in diesem Brief zu uns spricht. Es heißt: „Judas, Knecht Jesu Christi und Bruder des Jakobus“. Er ist nicht der Bruder des Jakobus, dem Sohn des Zebedäus, dessen Bruder Johannes war. Jener Jakobus wurde nämlich schon sehr früh hingerichtet, und Johannes wurde als Letzter von allen übriggelassen; so unterschiedlich war die Sache für diese beiden Söhne des Zebedäus. Es gab noch einen anderen Jakobus (wie auch einen anderen Juda oder Judas, neben dem Iskariot), „Sohn des Alphäus“, der „Jakobus der Kleine“ genannt wird (Mk 15,40). Ich glaube nicht, dass dies der Jakobus ist, auf den hier Bezug genommen wird, sondern eher, dass er der ist, der „Jakobus der Gerechte“ genannt wurde. Ich vermute, dass ihm dieser Titel wegen seiner praktischen Vorrangstellung gegeben wurde. Er hasste das Böse und liebte all das, was Gott sittlich wohlgefällig war. Er begegnet uns auch in Apostelgeschichte 15, wenn auch dort nicht zum ersten Mal. In diesem Kapitel nimmt er einen großen Platz ein. Er hat, soweit man das sagen kann, den Vorsitz geführt, und das ist ein sehr treffendes Schriftwort. Die, „die gut regieren“, sind die, die gut präsidieren. Es ist nichts Falsches daran, den Vorsitz zu führen, wenn ein Mann dazu fähig ist. Es ist ein Fehler, wenn ein Mann es nicht kann und sich anmaßt, es zu tun; und es ist eines der schlimmsten Dinge, die möglich sind, wenn es jetzt von einem Beamten getan wird, ob es Macht gibt oder nicht. Aber es gibt anerkanntermaßen so etwas wie „regieren“ oder „vorstehen“, obwohl es nie auf eine Person beschränkt ist: „Gehorcht euren Führern“ (Heb 13,17). Davon haben wir mehrere.
Aber wir sind nicht ängstlich in dieser Sache. Einer mag an einem Tag mehr im Vordergrund stehen, ein anderer an einem anderen, aber Jakobus scheint gewöhnlich im Vordergrund gestanden zu haben, und das scheint von den Ältesten in Jerusalem durchaus anerkannt worden zu sein. Wir finden, dass Paulus hinaufging, um Jakobus zu sehen, wobei alle Ältesten anwesend waren (Apg 20,18). Das ist der Mann, der den Brief geschrieben hat, der sich auch ein Diener Jesu Christi nennt. Das gilt natürlich für alle und wird von fast allen gesagt. Der Apostel Paulus nennt sich ständig so, und natürlich auch Petrus und Johannes, obwohl Letzterer sich eher „der Jünger, den Jesus liebte“ nennt, aber dennoch nennt er sich in der Offenbarung einen Diener Jesu Christi – „seinem Knecht Johannes“ (Off 1,2). Du siehst also, dass es nur eine Frage der Angemessenheit des Falles ist, wo dieses Wort vorkommt; und im Buch der Offenbarung war es sicher sehr angebracht, und dort finden wir es daher. Anderswo, vor allem in seinem Evangelium, verweilt Johannes eher bei der Liebe des Erlösers, und in jenem Buch nennt er sich selbst überhaupt nicht. Wir wissen nur durch interne Hinweise, dass er der Mann sein muss, den er nicht als Johannes, sondern als „der Jünger, den Jesus liebte“ bezeichnet.
Aber Jakobus war kein „Jünger“; er war einer der Brüder des Herrn, die die ganze Zeit, in der der Herr hier auf der Erde lebte, nicht glaubten: „auch seine Brüder glaubten nicht an ihn“ (Joh 7,5). „Seine Brüder“ waren die Söhne Marias nach seiner eigenen Geburt. Natürlich können wir verstehen, dass die Katholiken bestrebt waren, darzustellen, dass sie Söhne Josephs und nicht Marias waren. Doch sie waren Söhne Marias und Josephs. Sie würden sie gern als Söhne aus einer früheren Ehe Josephs ausgeben. Wir wissen nichts von einer früheren Ehe, und sie auch nicht. Wir wissen, dass die Heilige Schrift ganz klar ist.
Nehmen wir zum Beispiel Markus 6,3, wo das, was ich gerade gesagt habe, völlig bestätigt wird: Wenn wir von unserem Herrn sprechen, heißt es: „Ist dieser nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria und ein Bruder [nicht der Vetter, wie wir sehen] von Jakobus und Joses und Judas und Simon?“ Wir wissen nicht, welchen besonderen Platz Gott Joses und Simon gab, aber wir wissen, dass Jakobus und Judas oder Juda (es ist derselbe Name) beide zu einem bedeutenden Dienst berufen wurden.
Wenn wir uns nun zuerst die Apostelgeschichte ansehen, erfahren wir mehr. Es scheint, dass Er auch Schwestern hatte, aber wir müssen dieses Thema jetzt nicht weiter verfolgen. In Apostelgeschichte 1,13 lesen wir: „Und als sie [d. h. die Apostel] „hineingegangen waren, stiegen sie in den Obersaal hinauf, wo sie blieben: sowohl Petrus als Johannes [sein Bruder] und Jakobus [Jakobus ist der Sohn des Zebedäus] und Andreas, Philippus und Thomas, Bartholomäus und Matthäus, Jakobus, der Sohn des Alphäus, und Simon, der Eiferer [zur Unterscheidung von Simon Petrus und von Simon, dem Bruder des Herrn] und Judas, der Bruder des Jakobus.“
Die letzten beiden Namen werden uns im ersten Vers unseres Briefes genannt: „Judas, Knecht Jesu Christi und Bruder des Jakobus“. Aber wir lesen weiter in demselben Kapitel der Apostelgeschichte: „Diese alle verharrten einmütig im Gebet mit einigen Frauen und Maria, der Mutter Jesu, und seinen Brüdern“ (V. 14). Wer diese Brüder sind, haben wir bereits in Markus 6 gesehen: Jakobus und Judas waren zwei Brüder des Herrn. Simon und Joses waren zwei andere. Aber wir brauchen nicht auf diese einzugehen, weil die Schrift das nicht tut. Dennoch sagt sie viel über Jakobus aus; nicht so viel über Judas. Wie schon bemerkt, waren sie zwar die ganze Zeit, in der der Herr auf der Erde war, nicht bekehrt, aber sie bekehrten sich offensichtlich nach dem Tod und der Auferstehung des Herrn, so dass sie mit Maria, ihrer Mutter, und den Elf zusammen waren und sich dem Gebet widmeten und auf die Verheißung des Vaters, die Gabe des Heiligen Geistes, warteten. Es ist sicher, dass sie jetzt bekehrt waren. Nichts wäre ihnen mehr zuwider gewesen, wenn sie nicht gläubig gewesen wären, aber jetzt sind sie zum ersten Mal gläubig. Und es ist sehr schön zu sehen, dass Gott sie gerade durch das zerbrochen hat, was sie für immer hätte straucheln lassen können. Die Kreuzigung des Herrn hätte sie völlig hindern können, aber Gott benutzte das und die Auferstehung des Herrn, um sie nicht nur zu erwecken, sondern hineinzubringen, so dass sie da waren, voll derselben Erwartung auf den Heiligen Geist wie die Apostel selbst.
Folglich finden wir, als Jakobus, der Sohn des Zebedäus, getötet wurde (Apg 12), einen anderen Jakobus, der nicht als Sohn des Alphäus beschrieben wird, und der derjenige ist, der offensichtlich durch Gottes Führung in eine Art vorderster Stelle vorgerückt ist. Denn als alle Apostel da waren, Petrus und Johannes unter den anderen, haben sie diesen Platz nicht eingenommen, geschweige denn irgendein anderer der Zwölf. Jakobus tat es, und um zu zeigen, dass ich damit nicht falsch liege, werde ich eine andere Schriftstelle nennen, die sehr überzeugend und zufriedenstellend ist.
Der Apostel Paulus zeigt, wie er davon abgehalten wurde, sich irgendeinem anderen der Apostel eng anzuschließen, insbesondere zu der Zeit, als er zur Erkenntnis des Herrn Jesus gebracht wurde. „Als es aber Gott, der mich von meiner Mutter Leib an abgesondert und durch seine Gnade berufen hat, wohlgefiel, seinen Sohn in mir zu offenbaren, damit ich ihn unter den Nationen verkündigte, ging ich sogleich nicht mit Fleisch und Blut zu Rate und ging auch nicht hinauf nach Jerusalem zu denen, die vor mir Apostel waren, sondern ich ging fort nach Arabien und kehrte wieder nach Damaskus zurück. Darauf, nach drei Jahren, ging ich nach Jerusalem hinauf, um Kephas kennen zu lernen, und blieb fünfzehn Tage bei ihm. Ich sah aber keinen anderen der Apostel, außer Jakobus, den Bruder des Herrn“, also nicht den Vetter des Herrn (Gal 1,15-19).
Offenbar war Jakobus, der Sohn des Alphäus, der Vetter des Herrn. Nun wissen wir alle, dass das Wort Bruder manchmal unbestimmt verwendet wird, aber in diesem Fall wird es immer durch andere Stellen in der Schrift korrigiert. Aber dies wird durch keine korrigiert; und ich sehe keinen Grund, warum – wenn der Geist Gottes Markus nicht gerade den Neffen, sondern den Vetter des Barnabas nennt (das Wort, das dort verwendet wird, ist Vetter), – Jakobus hier nicht so genannt werden sollte, wenn er nicht wirklich der Bruder unseres Herrn wäre.
Es ist wahr, dass Jakobus sich nicht „Bruder des Herrn“ nennt, sondern „Knecht des Herrn“; und das ist sehr schön. Hätte es irgendeine Selbstsucht gegeben, wäre er der gewesen, der gesagt hätte: Ich bin der Bruder des Herrn! Ihr dürft nicht vergessen, dass ich das bin. Aber das wäre alles andere als vom Geist Gottes gewesen, denn als er der Bruder des Herrn war, war er ein Ungläubiger. Er war während des ganzen Lebens unseres Herrn auf der Erde ein Ungläubiger. In der Tat war er es bis zu seinem Tod und seiner Auferstehung. Deshalb bringt er in schöner Gnade niemals das zur Sprache, was seine Schande war, nämlich dass er der Bruder des Herrn nach dem Fleisch war. Der Herr selbst hat all diese Dinge niedergeschrieben, als Er erklärte, dass es nicht so sehr gesegnet war, die Frau zu sein, die Ihn gebar, als vielmehr das Wort Gottes zu hören und es zu bewahren. Das war es, was der Schreiber dieses Briefes getan hatte: Er hatte das Wort Gottes gehört und es bewahrt. Er hatte die Wahrheit über die Person Christi nicht als Sohn der Maria, sondern als Sohn Gottes, als Messias, als Herr von allem, angenommen. Hier sagt Judas also nicht, dass er der Bruder des Herrn war, obwohl er das war, sondern nennt sich „Knecht Jesu Christi“, und er fügt hinzu, um ganz klar zu machen, wer er war, „Bruder des Jakobus“.
Wir haben hier also die klare Tatsache, dass dieser Jakobus nicht der Sohn des Zebedäus war, der viele Jahre zuvor getötet worden war; er war auch nicht Jakobus der Kleine. Wir dürfen ihn vielmehr Jakobus den Großen nennen, weil er überall, wo er erwähnt wird, einen solch herausragenden Platz einnimmt. In Apostelgeschichte 15 wird er auf eine sehr eindrucksvolle Weise erwähnt, die ich besser nicht übergehen sollte. Nachdem Petrus sein sehr wichtiges Zeugnis und Paulus und Barnabas ihre Beweise über die Annahme der Nationen gegeben hatten, kommen wir zu einer anderen Person (V. 13): „... antwortete Jakobus und sprach“. Wir sehen, die anderen werden als sprechend betrachtet, aber Jakobus antwortet: „Brüder, hört mich. Simon hat erzählt, wie zuerst Gott darauf gesehen hat, aus den Nationen ein Volk zu nehmen für seinen Namen. Und hiermit stimmen die Worte der Propheten überein, wie geschrieben steht: ,Danach will ich zurückkehren und die Hütte Davids wieder aufbauen, die verfallen ist, und ihre Trümmer will ich wieder aufbauen und sie wieder aufrichten; damit die übrigen der Menschen den Herrn suchen, und alle Nationen, über die mein Name angerufen ist, spricht der Herr, der dieses tut‘, was von jeher bekannt ist. Deshalb urteile ich“ (V. 13–19).
Niemand kann daran zweifeln, dass er diesen Platz eingenommen hat, und dass der Geist Gottes das bestätigt. Jakobus war es, der, nachdem er alle Fakten gehört hatte, die Meinung Gottes zusammenfasste und eine entscheidende Schriftstelle zitierte. Und das ist eine sehr interessante Sache, dass sie, obwohl sie inspirierte Männer waren, nicht ohne die Schriften auskamen. Wenn man Fakten im Licht der Schrift hat, dann ist man berechtigt, daraus die Wahrheit zu ziehen – das, was er hier „deshalb urteile ich“ nennt, und das, was in Vers 19 und den folgenden Versen steht.
Die andere auffällige Stelle, wo Jakobus erscheint, ist in Apostelgeschichte 21, wo Paulus nach Jerusalem hinaufgeht. „Am folgenden Tag aber [das heißt nach der Ankunft] ging Paulus mit uns zu Jakobus, und alle Ältesten kamen dahin“ (V. 18). Es ist offensichtlich, dass dies der große zentrale Versammlungsort für Fremde in Jerusalem war und dass auch die Ältesten es gewohnt waren, bei solchen Gelegenheiten anwesend zu sein. Diese Tatsachen verleihen ihm offensichtlich einen sehr offiziellen Charakter, der mit der Stellung des Jakobus in Jerusalem völlig vereinbar war. Die Überlieferung macht ihn zum Bischof der Versammlung in Jerusalem, aber die Schrift spricht nie von dem Bischof, sondern von Aufsehern; und die Schrift zeigt auch, dass es wichtigere Personen als die Aufseher gab; und Jakobus hatte eine Stellung von offensichtlichem Vorrang gegenüber jedem der Ältesten (das waren die Aufseher), eine Stellung, die keiner der Ältesten in gleichem Maß besaß. Und dieser Jakobus ist derjenige, der den Brief geschrieben hat, der seinen Namen trägt, so wie der des Judas von seinem Bruder geschrieben wurde.
Es ist lehrreich zu sehen, wie Gott den Unglauben in der Familie unseres Herrn Jesus zuließ. Es war nicht so, dass sich die Leute zusammengerottet hätten. Wenn du dir den großen Anführer des östlichen Glaubensabfalls, Mohammed, ansiehst, war es so. Seine Familie waren Personen, die er dazu brachte, sich an seine Seite zu stellen, ihn zu verteidigen und ihm beizustehen. Aber im Fall unseres Herrn Jesus Christus ließ Gott es zu, dass seine eigenen Brüder nicht an Ihn glaubten, während seine mächtigen Werke vollbracht wurden. Aber es gab noch ein anderes Werk, das größte von allen, und Gott bewirkte, dass dieses Werk nicht aufgehalten wurde. Nicht wirklich die Werke seines Lebens, sondern die seines Todes und seiner Auferstehung; und diese Brüder, die sich so hartnäckig gegen Ihn gestellt hatten, wurden durch sein Werk des Sündentragens zum Glauben an Ihn gebracht. Es gab einen Grund für ihren Unglauben. Es gibt immer moralische Ursachen, die besonders in unbekehrten Menschen wirken, um sie an der Annahme der Wahrheit zu hindern. Manchmal ist es der fleischliche Verstand, manchmal der weltliche Verstand, manchmal beides. Bei diesen Brüdern kam ihr weltlicher Verstand in Johannes 7 stark zum Vorschein, als sie sagten: „Wenn du diese Dinge tust, so zeige dich der Welt; denn auch seine Brüder glaubten nicht an ihn“ (V. 4.5). Der Herr war unendlich weit davon entfernt, dies zu tun. Er war nicht von der Welt, und sagt uns, dass wir es nicht sind. Er suchte nie die Welt in irgendeiner Form. Er trachtete nur danach, den Menschen in der Welt Gutes zu tun, indem Er sie von der Welt befreite, damit sie den wahren Gott kennenlernen und sich selbst ebenso als den wahren Gott und das ewige Leben.
Nun haben wir diese so interessante Tatsache, dass Jakobus uns, entsprechend dem geistlichen Charakter, der in ihm geformt wurde, eine höchst vollständige Darlegung der praktischen Gerechtigkeit im täglichen Leben, in unseren Gemütern, in unseren Worten, wie auch in unseren Wegen gibt. All dies wird von Jakobus mehr als von jedem anderen entfaltet, und es ist nur aus Mangel an Verständnis, dass einige seinen Brief nicht mögen. Manchmal haben sich große und gute Menschen über die Schlichtheit der Sprache in dem Brief des Jakobus geärgert. Sie haben ihn nicht gemocht; aber es war ein großer Verlust für sie, denn wenn sie beachtet hätten, was er schrieb, hätte es viele Fehler in ihnen selbst korrigiert.
Im Brief des Judas geht es nun um ein ganz anderes Thema. Da geht es nicht um Gerechtigkeit, nicht einmal um die Art und Weise, wie Petrus sie vorstellt. Judas betrachtet sie nicht einfach für den persönlichen Lebenswandel, abgesehen von dem Verderben derer, die sie aufgeben. Er zeigt lediglich, dass die Gerechtigkeit eine Notwendigkeit für jeden Gläubigen ist. Wenn ein Mensch sie nicht hat, ist er überhaupt kein Gläubiger. Petrus aber schaut in seinem zweiten Brief in großem Maß auf das Volk Gottes, ob es als sein Volk gerecht wandelt, und besonders, ob die Lehrer der Gerechtigkeit gleichgültig sind und die Ungerechtigkeit begünstigen. Deshalb richtet sich sein zweiter Brief am stärksten gegen diese Irrlehrer, die sich nicht damit begnügen, selbst so zu sein, sondern andere zu einem ähnlichen Mangel an Gerechtigkeit ermutigen. Nun, das ist es überhaupt nicht, was Judas aufgreift, obwohl es vieles gibt, was beiden gemeinsam ist. Es könnte gar nicht anders sein.
Judas schaut auf die Gnade. Es gibt nichts Vergleichbares zur Gnade; aber was ist, wenn die Gnade missbraucht wird? Was, wenn die Gnade aufgegeben wird? Was, wenn die Gnade in Zügellosigkeit ausufert? Und das ist es, was Judas aufgreift. Deshalb ist sein Brief einer der ernstesten im Wort Gottes. Es gibt nur einen Autor, der das noch deutlicher tut: Johannes. Er betrachtet nicht nur den Abfall von der Gnade, sondern die Leugnung Christi, des Vaters und des Sohnes. Nun, es ist unmöglich, sich etwas Schlimmeres in der Schrift vorzustellen, als die Leugnung der Herrlichkeit dessen, auf dessen Namen ich getauft worden bin und durch den ich behauptet habe, jeden Segen zu empfangen, den Gott geben kann. Nach alledem, dass ein Mensch durch seinen Verstand oder aus welchem Grund auch immer dazu gebracht wird, den Herrn zu verleugnen, zu leugnen, dass Er der Christus und der Sohn Gottes ist – es gibt nichts Tödlicheres, nichts Schrecklicheres als den Zustand eines solchen Menschen. Und es fiel dem zu, der den Herrn am meisten liebte, Johannes, über diese Leugnung zu schreiben. Damit ihr seht, dass es in allen Briefen eine schöne Angemessenheit gibt.
Vers 1
Judas, Knecht Jesu Christi und Bruder des Jakobus, den in Gott, dem Vater, geliebten und in Jesus Christus bewahrten Berufenen (V. 1).
Dies mag viele überraschen, die an die Authorized Version gewöhnt sind, aber es geht nicht darum, woran wir gewöhnt sind, sondern darum, was Gott geschrieben hat.
Ich habe viele Schriften durch meine Hände gehen lassen, aber ich habe kaum eine gesehen, in der nicht irgendein Fehler vorhanden war. Besonders wenn die Schrift eine Kopie einer anderen ist, ist es fast immer so, und noch mehr, wenn der Mann, dessen Gedanken und Worte kopiert werden, über dem einfachen Volk steht. Der Weg, den besten griechischen Text herauszufinden, ist, zum ältesten von allen zu gehen, und den ältesten von allen mit den verschiedenen Übersetzungen zu vergleichen, die in alten Zeiten gemacht wurden, und wenn diese übereinstimmen, dann hat man den richtigen Text. Aber oft stimmen sie nicht überein, und dann kommt die Frage: Welche ist richtig? Hier ist die alles entscheidende Frage die Führung durch den Geist Gottes. Wir können nie ohne Ihn auskommen, und die Art und Weise ist, wie der Geist Gottes Menschen führt, in denen Er nicht nur wirklich wohnt, sondern die auch von Ihm geführt werden: Ist etwas in Übereinstimmung mit dem Brief in seiner Gesamtheit? Stimmt es mit der Linie des Apostels überein, der den Brief geschrieben hat?
Es fällt auf, dass auf dem Wort „Berufenen“ der Nachdruck liegt. Dann heißt es wörtlich: „in Gott, dem Vater, geliebten“. Ich bekenne sogar, dass diese Lesart nicht nur die älteste, die von den höchsten Zeugen, die Gott uns von seinem Wort gegeben hat, am besten gebilligte ist, sondern dass sie dem Brief wunderbar angemessen ist. Die Gewissheit, „in Gott, dem Vater, geliebt“ oder „von Gott, dem Vater“ zu sein, bekommt unter zwei Umständen einen besonderen Wert. Wenn ich ein junger Mann bin, sehr jung im Glauben, wenn ich die Verfolgung der Welt erlebe, den Hass der Menschen, die Juden voller Eifersucht, die Heiden voller Verachtung, und beide von Hass gegen den Herrn und die, die dem Herrn angehören, beseelt – was für ein Trost ist es dann, zu wissen, dass ich „in Gott, dem Vater“ geliebt bin.
So sprach der Apostel Paulus die Thessalonicher als Gemeinschaft an, die einzige, die er jemals auf diese Weise ansprach. Sie erlebten Verfolgung, und zwar nicht allmählich wie die meisten anderen Versammlungen, sondern von Anfang an, seit ihrer Bekehrung. Wir wissen, dass der Apostel selbst wegen der Verfolgung, die dort eingesetzt hatte, fliehen musste. „Diese, die den Erdkreis aufgewiegelt haben, sind auch hierhergekommen“ (Apg 17,6), und es wurde eine tödliche Verfolgung über sie verhängt, und so musste der Apostel fliehen. Die Versammlung dort hatte die Hauptlast zu tragen, und im allerersten Brief, den Paulus je geschrieben hat, dem ersten Thessalonicherbrief – das war seine erste inspirierte Schrift – wirst du finden, dass er sie so beschreibt. „Paulus und Silvanus und Timotheus der Versammlung der Thessalonicher in Gott, dem Vater, und dem Herrn Jesus Christus“ (1Thes 1,1). Und dass dies ernsthaft gemeint war, zeigt die gleiche Beschreibung der Wahrheit im ersten Vers des zweiten Briefes, wo wir feststellen, dass es immer noch die Verfolgung gab und die Gefahr, dass sie durch diese Verfolgung und den Irrtum, der durch falsche Lehrer hereingekommen war, erschüttert wurden, die dies ausnutzten, um vorzugeben, dass „der Tag des Herrn“ tatsächlich schon gekommen sei, indem sie behaupteten, dass diese Verfolgung der Anfang dieses „Tages“ sei, und so die jungen Gläubigen dort sehr beunruhigten.
Deshalb musste der Apostel einen zweiten Brief schreiben, um sie deutlich in der hellen Hoffnung auf das Kommen Christi und in der geringeren Wahrheit des Tages des Herrn zu befestigen. Nun, in diesem zweiten Brief haben wir „Paulus und Silvanus und Timotheus der Versammlung der Thessalonicher in Gott, unserem Vater, und den Herrn Jesus Christus“ (2Thes 1,1). Nun denke ich, dass der Geist Gottes hier durch den Apostel den Zweck verfolgte, dass sie, da sie so jung und einem solchen Angriff auf sich selbst ausgesetzt waren, der den Apostel an den Angriff erinnerte, der auf ihn selbst und seine Freunde verübt worden war, dass sie durch die Erinnerung getröstet werden sollten, dass sie „in Gott, dem Vater“ waren. Was könnte ihnen schaden, wenn dies der Fall wäre? Der Apostel hätte es nicht von sich aus gewagt, so etwas zu sagen. Keiner auf der Erde hätte das getan. Es war Gott, der den Apostel inspirierte, ihnen diesen wunderbaren Trost mitzuteilen. Es gibt viele Menschen, die dies lesen und keinen Trost daraus ziehen, weil sie es nicht auf sich selbst anwenden. Sie haben keine Ahnung, was es bedeutet. Du wirst dich erinnern, dass Johannes in seinem ersten Brief die Familie Gottes in drei Klassen einteilt – die Väter, die Jünglinge und die Säuglinge (denn das letzte Wort gebe ich wörtlich wieder). Sie sind alle „Kinder“ Gottes, aber die Säuglinge sind die Jungen der Kinder Gottes. Die Jünglinge sind die, die erwachsen geworden sind, und die Väter sind die, die reif und fest in Christus sind. Nun, zu den Säuglingen – und das wird uns helfen zu verstehen, was ich gesagt habe – sagt er: „Ich schreibe euch Kinder [eig. Säuglinge], weil ihr den Vater erkannt habt“ (1Joh 2,13).
Nun, so ist es mit dieser jungen Versammlung in Thessalonich. Sie wird vom Heiligen Geist beschrieben als „in Gott dem Vater und in dem Herrn Jesus Christus.“
In Judas haben wir die andere Seite. Sie sind keine jungen Gläubigen mehr. Es ist an vergleichsweise alte Gläubige gerichtet. Es könnten junge unter ihnen sein; zweifellos gab es solche. Aber er sieht sie an, als wären sie durch ein Meer von Schwierigkeiten und Problemen gegangen, und er bereitet sie auf noch Schlimmeres vor. Er sagt sozusagen, dass es nicht besser, sondern schlimmer werden wird, und dass es mit dem tatsächlichen Erscheinen des Herrn im Gericht enden wird, und darüber hinaus haben sich genau die Leute in die Versammlung eingeschlichen, die die Objekte des Gerichts des Herrn sein werden, wenn Er kommt. Das ist eine sehr ernste Sache, und sie könnte alarmierend sein, wenn die Menschen nicht gut gelesen und in der Wahrheit und in der Liebe gegründet wären. Deshalb schreibt Judas zu einer vergleichsweise späten Zeit (nicht früh wie im Fall der Thessalonicher, sondern spät) mit diesen Worten: „den in Gott … Berufenen“.
Du siehst, dass ich dieses Wort übertrage, das durch die Einfügung der Konjunktion „und“ vor „berufen“ ein wenig verdorben ist. „Denen, die berufen sind, geliebt in Gott, dem Vater, und bewahrt.“ Es heißt nicht genau „in … bewahrten“. Es kann „durch“ oder „für“ heißen. Das sind die beiden Alternativen für dieses Wort. Ich sehe nicht, wie es „in“ sein kann; so dass du siehst, dass es sich kaum von dem unterscheidet, was wir hier lesen. Es bringt einen anderen Gedanken hinein, und der ist so oder so vollkommen richtig. Wir sind durch Christus bewahrt, und wir sind für Christus bewahrt. Ich habe mich nicht entschieden, was von beiden in diesem Fall richtig ist, denn sie können nicht beide die Absicht des Geistes Gottes sein. Eines muss eher richtig sein als das andere, aber ich kann nicht sagen, dass ich mir schon ein Urteil über die Wahl dieser beiden Präpositionen gebildet habe, ob es „in Jesus Christus bewahrten“ oder „durch“ Jesus Christus sein soll, da Er der ist, der uns bewahrt. Aber in beiden Fällen passt es schön zu einer Zeit besonderer Gefahr, und auch zu einer Gefahr, von der er nicht sagen durfte, dass sie vorübergehen würde! Wir sagen, der Sturm wütet jetzt, aber die Sonne wird bald scheinen. Nein; es wird die Schwärze der Finsternis des Bösen sein, die jetzt unter den Bekennern Christi hereinkommt, um dichter und dunkler zu werden, bis der Herr zum Gericht über sie kommt.
Nun, wie schön ist die Zusicherung, „in Gott, dem Vater, geliebten und durch [oder für] Jesus Christus bewahrten“ (beide Arten sind völlig sinnvoll – und der Herr mag uns eines Tages lehren, welcher der beiden Gedanken seine Bedeutung ist). Aber da ist es, und voller Trost und Lieblichkeit, und hervorragend geeignet für die Umstände, die in diesem Brief beschrieben werden, mehr als in jedem anderen Brief im Neuen Testament – ein Brief, der das Weggehen von Christen, das heißt von bekennenden Christen, zeigt – von denen, die einst für so gut wie alle gehalten wurden. Manchmal sind die Menschen, die sich abwenden, die, die sehr klug gewesen sind. Wir sollten dabei nicht überrascht sein. Es ist nicht immer die beste Frucht, die am schnellsten reift. Manchmal wird das Frühreife sehr schnell faul. Das ist oft der Fall bei denen, die auf einmal so strahlend leuchten.
Ich erinnere mich, dass mir dies im Fall einer jungen Frau auf der Isle of Wight vor etwa vierzig Jahren aufgefallen ist. Charles Stanley, unser lieber Bruder, war in seinem Eifer für das Evangelium etwas in Gefahr, anzunehmen, dass Menschen bekehrt seien, obwohl sie es nicht waren. In Zeiten der Erweckung sind die Menschen oft geneigt, sich einzuschleichen; ihre Gefühle sind bewegt, sie sind schnell betroffen. Das entspricht dem Wort im Evangelium: „der das Wort hört und es sogleich mit Freuden aufnimmt; er hat aber keine Wurzel in sich, sondern ist nur für eine Zeit; wenn nun Drangsal entsteht oder Verfolgung um des Wortes willen, nimmt er sogleich Anstoß“ (Mt 13,20.21); so dass wir uns nicht zu wundern brauchen.
Die junge Frau, von der ich spreche, arbeitete in einem Geschäft, und ich wurde zu ihr gebeten, um eine dieser Bekehrungen zu sehen. In einem Augenblick versicherte sie mir, dass der alte Mensch ganz weg sei, „gestorben und begraben“; sie gebrauchte auch andere Ausdrücke. Das wäre alles sehr schön gewesen, wenn es ein echtes geistliches Empfinden gegeben hätte; aber sie hatte bestenfalls die Wahrheit mit ihrem Verstand erfasst.
Wer echt bekehrt ist und sich zum ersten Mal zur Wahrheit Christi bekennt, wird durch viele Dinge, Versäumnisse, Unzulänglichkeiten und dergleichen stark geprüft. Die Seele eines solchen Menschen wäre sehr beunruhigt, wenn er denken würde, dass er, sogar nachdem er Christus angenommen hatte, so wenig fand, was seiner Liebe entsprach, dass er so schnell in Leichtsinn oder Nachlässigkeit oder in übereiltes Temperament verfallen würde, und überhaupt so viele Schwierigkeiten, durch die ein junger Gläubiger versucht wird. Aber die junge Frau, von der ich sprach, hatte überhaupt kein Gewissen. Alles, was sie hatte, war lediglich eine verstandesmäßige Vorstellung von der Wahrheit, die ihr reizvoll erschien, und in der Tat, sie ist reizvoll. Es ist wie bei denen, die in Hebräer 6,5 beschrieben werden: Sie haben „das gute Wort Gottes ... geschmeckt“, und da sind sie, „erleuchtet“ von dem großen Licht des Evangeliums, ohne wirklich aus Gott geboren zu sein. Es mag ein mächtiges Wirken des Geistes Gottes geben, und es mag all das geben, ohne wirklich aus Gott geboren zu sein. Menschen, die wirklich aus Gott geboren sind, werden im Allgemeinen erprobt, und es gibt ein gründliches Bewusstsein der Sünde, und sie müssen ihre Ohnmacht lernen. All das ist eine sehr schmerzhafte Erfahrung; und es ist dieser Zustand, auf den sich der Trost des Evangeliums bezieht, das Wissen um die völlige Vergebung und die Befreiung von allem, was wir sind; nicht nur trotz dessen, was wir sind, sondern aufgrund dessen, was wir sind, aufgrund dessen, was Gott uns gegeben hat –neues Leben, in dem es keine Sünde gibt. Es gibt niemals so etwas wie diesen wahren Trost, außer bei denen, die das Bedürfnis danach verspürt haben, und dieses Empfinden des Bedürfnisses ist es, das mit der Bekehrung zu Gott einhergeht. Die Gläubigen des Alten Testaments waren in diesem Zustand; und sie kamen nie davon weg. Die neutestamentlichen Gläubigen begannen mit der Bekehrung und kamen in einen Segen, der unter dem Gesetz unmöglich war, weil das mächtige Werk der Erlösung nicht vollbracht war. Aber jetzt ist es vollbracht; und können wir annehmen, dass das für einen neutestamentlichen Gläubigen keinen wesentlichen Unterschied gibt? Nun aber: „Wenn aber jemand unwissend ist, so sei er unwissend“ (1Kor 14,38). Hier hast du diesen unschätzbaren Trost für die, die durch solch ernste Erfahrungen gegangen sind und die ihre eigene Schwachheit in der Begegnung mit ihr bewiesen haben – die Anfälligkeit, von Erscheinungen beeinflusst zu werden, die zu nichts führen. Schöne und gefällige Worte, wo gar keine Wirklichkeit ist –, das ist es, was so anstrengend ist. Und der Brief zeigt, dass es noch schlimmer kommen wird als das.