Behandelter Abschnitt Judas 1-2
Einleitung
„Judas, Knecht Jesu Christi und Bruder des Jakobus, den in Gott, dem Vater, geliebten und in Jesus Christus bewahrten Berufenen: Barmherzigkeit und Friede und Liebe sei euch vermehrt!“ (1–2).
Über den Schreiber dieses Briefes ist außer der hier gegebenen Beschreibung nichts Genaues bekannt. Er benennt sich selbst mit zwei Titeln: „Knecht Jesu Christi“ und „Bruder des Jakobus“. Wenn der Jakobus, auf den er sich hier bezieht, der „Bruder des Herrn“ ist, den Paulus in Galater 1,19 erwähnt, und nicht der Apostel Judas (nicht der Iskariot; Joh 14,22), der der Bruder von Jakobus, dem Sohn des Alphäus (Lk 6,16) zu sein scheint, dann war Judas auch ein leiblicher Bruder des Herrn Jesus. Wenn dies der Fall ist, dann zeigt sich darin eine große Gnade und Demut, dass er die Aufmerksamkeit nicht auf diese Tatsache lenkt. Und was für eine Lektion für alle, die sich unter den Gläubigen aufgrund ihrer Herkunft abgrenzen oder abzugrenzen versuchen!
Die Ähnlichkeit dieses Briefes zum zweiten Petrusbrief muss selbst dem einfachen Leser auffallen, doch in Wirklichkeit gibt es einen beachtenswerten Unterschied. Petrus spricht von Sünde, Judas von Glaubensabfall, dem Abweichen der Versammlung von ihrer einfältigen Stellung vor Gott. Abweichen von der Heiligkeit des Glaubens ist das Thema, das Judas behandelt. Er spricht nicht von der Absonderung nach außen hin, also von der Absonderung von der Versammlung oder von der bekennenden Christenheit. Indem wir dies vor Augen haben, sehen wir unterschiedliche Stufen des Abfalls, die wir durch 2. Petrus, Judas und 1. Johannes hindurch verfolgen können. Im zweiten Petrusbrief ist es, wie bereits hervorgehoben, Sünde – Sünde, die allerdings in schwerwiegender Weise wirkte – inmitten der Versammlung. In Judas geht es um moralischen Verfall, obwohl diejenigen, die sich daran schuldig machen, ihren Platz innerhalb der Versammlung behalten (V. 12). Die Abgefallenen im ersten Johannesbrief hingegen sind bereits hinausgegangen. „Sie sind von uns ausgegangen, aber sie waren nicht von uns“ (1Joh 2,19).
Ein weiterer Punkt sollte bemerkt werden, der für den Charakter dieses wichtigen Briefes kennzeichnend ist. Während Judas sich mit Sünden beschäftigt, die in seinen eigenen Tagen bereits existierten, werden diese Sünden als vorschattend für den Zustand betrachtet, der am Ende gefunden werden wird. Er spricht daher vom Herrn, der „inmitten seiner heiligen Tausende“ kommt, „um Gericht auszuführen gegen alle“ (V. 14). Der Brief ist folglich prophetisch und trägt als solcher eine besondere Bedeutung für die, deren Los in diese Tage gefallen ist, in denen „schwere Zeiten“ (2Tim 3,1) zu erwarten sind.
Die Zuschrift dieses Briefes ist so schön, wie es für diesen Schreiber kennzeichnend ist: „Den in Gott, dem Vater, geliebten und in Jesus Christus bewahrten Berufenen“ (V. 1). Judas erinnert seine Adressaten daran, dass sie, wenn sie Heilige waren, dies aus Gnade durch einen göttlichen und hoheitlichen Ruf waren – einen Ruf, der sich in der Kraft des Heiligen Geistes durch das Wort Gottes an sie wendete und ihre Herzen und Gewissen erreichte und sie von der Welt absonderte, um Gottes Volk zu sein. Wir können die Tatsache nicht zu oft betonen, dass es Gottes Berufung war, die uns zu Heiligen machte und wir demnach nicht berufen sind, Heilige zu sein, sondern Heilige durch göttliche Berufung.
Dann finden wir eine zweifache Beschreibung der Berufenen.
1. Erstens sind sie „in Gott, dem Vater“ geliebt. Judas setzt also die Heiligen in die sofortige Gegenwart Gottes. Er lehrt sie, dass sie Gegenstände seines Herzens sind, und lässt sie wissen, dass sie als solche in den Genuss einer persönlichen Beziehung zu Ihm gebracht worden sind, denn Er ist ihr Vater, genauso wie ihr Gott1.
2. Zweitens sind sie bewahrt in Christus Jesus. Die Grundlage, und womöglich das Mittel ihrer Bewahrung, wird also vorgestellt, und es sollte nie vergessen werden, dass unsere Erhaltung und Bewahrung inmitten all der uns umgebenden Gefahren und vor all den Schlingen und Versuchungen des Feindes nur in und durch Jesus Christus geschieht. Es ist die Kraft Gottes, die uns beschützt, aber die Kraft wird ausgeübt und zeigt sich in Ihm und durch Ihn, der nun zur Rechten Gottes sitzt, auf unserer Seite.
Welch ein Grund zum Nachsinnen – ja, welch ein Grund für Preis und Anbetung – liegt in diesen beiden Ausdrücken: „In Gott, dem Vater, geliebten“ und „in Jesus Christus bewahrten“!
Die Begrüßung unterscheidet sich sowohl von denen des Paulus als auch von denen des Petrus, obwohl sie in der Erwähnung der „Barmherzigkeit“ denen des Paulus ähnelt, wenn dieser an Einzelpersonen schreibt, und in dem Gebrauch des Wortes „Frieden“ denen des Petrus gleicht. Judas sagt: „Barmherzigkeit und Friede und Liebe sei euch vermehrt“ (V. 2). Das war sein und das durch ihn ausgedrückte Verlangen Gottes für diese geliebten Heiligen. Barmherzigkeit wird zuerst genannt (siehe Vers 21), denn in Anbetracht der Umstände, in denen sie sich befanden, war dies ihr erstes Bedürfnis: Barmherzigkeit für ihre Schwachheit (vgl. Heb 4,16); der ständige Zustrom des zärtlichen Erbarmens Gottes, um sie inmitten der Gefahren auf ihrem Weg zu schützen, aufrechtzuerhalten und zu leiten.
Auch wird Friede genannt, nicht der Friede mit Gott, sondern Friede – vollkommener Friede – der die gesamte Seele einnimmt und in dessen Kraft wir mit gelassener Ruhe in der Gegenwart der größten Gefahren des heimtückischen Feindes leben können. Es wird nicht gesagt, ob es der Friede Gottes ist (Phil 4) oder der Friede, den Christus seinem Volk gibt – sein eigener Friede (Joh 14) – denn es ist in der Tat ein Friede, der auf dem Werk der Erlösung gegründet ist und den die Seele in Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn genießt.
Schließlich wird die Liebe hinzugefügt – der Ausdruck der göttlichen Natur, dieser heilige Kreis und die Atmosphäre, in die die Erlösten gebracht sind und in der sie leben und sich bewegen und aufhalten (vgl. 1Joh 4,16). Und all diese Dinge (der Leser wird die Reihenfolge beobachten: Barmherzigkeit, Friede als die Frucht der Barmherzigkeit und schließlich Liebe als den Bereich des Seelenlebens), die Judas wünscht, sollten ihnen vermehrt werden. Denn auch wenn diese Segnungen besessen werden, werden sie dies nur bis zu einem gewissen Maß. Wie die Quelle, aus der sie fließen, so sind sie in ihrem Wesen unendlich. Der Gläubige kann daher nie sagen, dass er das Ziel erreicht hat, und seine Ruhe muss daher, wie bereits oft gesagt wurde, nicht in der endgültigen Erlangung liegen, sondern im Erlangen selbst; und er wird dazu angehalten durch jeden neuen Blick auf die grenzenlosen Schätze, die ihm in Christus geschenkt sind.
1 Die Anrede der Briefe an die Thessalonicher kann hier vergleichend herangezogen werden: „Der Versammlung der Thessalonicher in Gott, dem Vater“ (1Thes 1,1, vgl. 2Thes 1,1). Doch hier ist es wahrscheinlich so, dass sich das geistliche Leben der Heiligen insbesondere in ihrer Beziehung als Kinder entwickelt hatte.↩︎