Behandelter Abschnitt Eph 2,1-2
Wir beginnen nun einen neuen Teil unseres Briefes. Wenn er auch nicht so erhaben in seinem Ton ist wie der, den wir in Kapitel 1 überflogen haben, so doch ebenso wichtig an seinem Platz und von größter Bedeutung für uns. Doch dann müssen wir sorgfältig bedenken, dass das, was für uns von Interesse ist, kein entsprechendes Maß ist, weder im Betrachten des Wortes Gottes noch im Betrachten seiner Wege. Gott handelt niemals für etwas Geringeres als für seine eigene Herrlichkeit. Obwohl wir also viele Teile des Wortes Gottes finden, die unseren Zustand, unsere Bedürfnisse, unseren Segen und unsere Herrlichkeit auf das Engste berühren, fallen wir immer hinter den gerechten Umfang und Standard der Wahrheit Gottes zurück, wenn wir unsere Gedanken durch ihre Anwendung auf uns selbst begrenzen. Niemals erreichen wir das volle Ausmaß einer Wahrheit in ihrer Auswirkung auf uns, wenn wir nicht auch ihre unendlich höhere Reichweite als die offenbarte Darstellung der Herrlichkeit Gottes, seines Charakter und seiner Absichten in Betracht ziehen. Obwohl wir also in der Schrift die Gnade finden, die uns bereits gezeigt wurde, und die Herrlichkeit, an der wir bald teilhaben werden, wie unendlich ist dann der Segen, wenn wir sie nicht mehr als etwas betrachten, das sich direkt an solch begrenzte und schwache Geschöpfe wie uns richtet! Wenn wir erkennen, dass es die Gnade und die Herrlichkeit Gottes ist, wie ändert sich dann alles völlig! Wir hören und erfahren dann diese großartige Wahrheit: Er spricht von uns und empfindet für uns auf eine Art und Weise, in einer Form, in einer Tiefe und in einer Höhe, die Ihm entspricht. Er geht auf alle unsere kleinen Bedürfnisse ein, wie auch auf alle unsere größten. Aber selbst wenn es das Geringste wäre, was uns betrifft, kommt die Stillung dieses Bedürfnisses von dem, der keine Grenzen hat; und wenn es für den gegenwärtigen Augenblick dem entspricht, was wir zu fassen vermögen, wird das nicht immer so bleiben. Gott wird niemals in seiner Liebe ruhen, bis Er uns nicht nur durch den Heiligen Geist gegeben hat, jetzt in geringem Maß die Freude an der Entfaltung seines eigenen Charakters zu schmecken, sondern uns in jeder Hinsicht dessen würdig gemacht hat. Er hat uns dazu berufen, seine Kinder zu sein. Der Tag wird kommen, an dem sich nicht nur seine Liebe nicht schämen wird, uns so zu nennen – ja, noch mehr, an dem es keinen Grund mehr dafür geben wird. Wenn unsere armen, erbärmlichen, weltlichen Wege jetzt oft eine schmerzhafte Geschichte von uns selbst und nicht von Gott erzählen, so wird im Gegensatz dazu dann alles, was zur Familie Gottes gehört, im gleichen Maß das recht genießen, was Er ist.
In diesem Kapitel geht es also nicht um die Entfaltung der Ratschlüsse Gottes und seiner herrlichen Absichten, wie sie aus seinem eigenen Geist fließen – folglich zurückgehend bis zum Anfang der Zeit, und zwar bevor die Schöpfung überhaupt einen Platz hatte, als alles nur Gott selbst in der Ewigkeit seiner eigenen Existenz war. Schon damals, wie uns Kapitel 1 sagt, bevor Er seine Hand an irgendetwas gelegt hatte, gab es diesen gesegneten Gedanken in seinem Herzen: Er wollte ein Volk, ja, Söhne haben, aus einem Bereich, der noch geschaffen werden sollte, die durch seine eigene souveräne Gnade aus der Sünde herausgeholt werden sollten, um zusammen mit seinem geliebten Sohn an seiner Liebe und seiner Heiligkeit teilhaben zu können. Das war sein Ratschluss. Kapitel 1 hat uns nicht nur gezeigt, was von Ewigkeit her in Gottes Gedanken war, sondern auch die Antwort darauf am zukünftigen Tag der Herrlichkeit. Denn zwei große Gedanken wurden uns dort vor Augen geführt:
die Berufung Gottes;
das Erbe, das noch in der hellen Sicht der Herrlichkeit gezeigt werden wird, wenn Christus alles, was Gott gemacht hat, in Besitz nehmen und das anerkannte, verherrlichte Haupt davon sein wird (alles, ob im Himmel oder auf der Erde, wird Ihm unterstellt werden). Dann werden wir, die wir an Ihn geglaubt haben, dorthin gerufen, wo wir dieses Erbe zusammen mit Ihm, unserem Herrn und Bräutigam, teilen werden.
Drittens haben wir einen zusätzlichen und äußerst wichtigen Punkt gefunden: Dieselbe Kraft Gottes, die Christus aus den Toten auferweckt hat, wirkt jetzt in den Gläubigen.
Das wurde im Gebet des Apostels am Ende von Kapitel 1 nur beiläufig angedeutet. Was wir hier haben, ist – bis zu einem gewissen Punkt – eine Art Entwicklung davon. Kapitel 2 basiert hauptsächlich auf seiner Auferstehungskraft; nein, nicht nur auf dieser, sondern, wenn ich so sagen darf, auf der „Auffahrtskraft“. Die Kraft, die Christus auferweckt und zur Rechten Gottes gesetzt hat, wird nun für die eingesetzt und wirkt in denen, die an Ihn glauben. Wir werden sehen, welche Folgen das hat. Wir wollen nun einen Moment lang darüber nachdenken, was der Heilige Geist hier hervorbringt. Es ist die Anwendung der mächtigen Kraft Gottes auf den Gläubigen. Es ist also nicht einfach die Absicht der Gnade, noch die Ausführung dieser Absicht in der Herrlichkeit, sondern es ist die Ausübung seiner Macht nach dem Vorbild des auferstandenen und verherrlichten Christus und die Anwendung dieser Macht auf den Gläubigen sogar jetzt.
Daher haben wir notwendigerweise zuerst den Zustand derer vor Augen, in denen die Kraft ausgeübt wird, was sie waren, als sie begann, in ihnen zu wirken. Dementsprechend beginnen wir erst in Kapitel 2 mit der Entwicklung des tatsächlichen Zustands derer, mit denen Gott so eng verbunden ist. Kapitel 1 beschäftigt sich hauptsächlich mit dem, was Gott im Sinn hatte und was Er noch vollenden wird. Nun wird die Frage aufgeworfen und beantwortet: Wer sind diese Menschen und wie war ihr Zustand, als Gott so mit ihnen handeln konnte? Und es ist höchst erstaunlich, dass es in keinem anderen Brief einen Abschnitt gibt, der uns solch ein tiefes, durchdringendes, demütigendes Bild von dem verzweifelten, erniedrigten Zustand gibt, in dem sich die befanden, die Gott dazu bestimmt hatte, Miterben Christi zu sein. Die Beschreibung der moralischen Verderbtheit haben wir im Römerbrief, die vollständig beweist, was der Mensch ist, wenn es darum geht, was er in sich selbst ist. Ob der begünstigte Jude unter dem Gesetz oder der Heide mit seinem Gewissen, alles wird dort gründlich besprochen, und jede Anmaßung des Menschen wird zu Pulver zermahlen. Aber im Epheserbrief ist der Beweis der Schuld überflüssig. Der Mensch wird als so völlig tot angesehen, dass es nur darum geht, das Leichentuch zu entfernen. Deshalb sagt der Apostel:
Auch euch, die ihr tot wart in euren Vergehungen und Sünden [hat er auferweckt] (2,1).
Es heißt nicht einfach: Wie soll einem Sünder vergeben werden oder wie soll er gerechtfertigt werden?, sondern: „Auch euch, die ihr tot wart in euren Vergehungen und Sünden [hat er auferweckt]“. Die Worte „hat er auferweckt“ sind in Klammern, aber es ist der offensichtliche und notwendige Sinn; ohne ihn wäre der Satz für den englischen (und den deutschen) Leser unverständlich. Erst in den Versen 4 und 5 haben wir die Vollendung des Gedankens. Es ist klar, dass die Auferweckung sowohl die betrifft, die „ihr“ genannt werden, als auch die, die mit „uns“ bezeichnet werden. Ich hoffe, die Bedeutung dieses Unterschieds später zu zeigen, aber ich weise jetzt nur darauf hin, um der Vorstellung vorzubeugen, dass es keinen ausreichenden Grund dafür gäbe, den Ausdruck „hat er auferweckt“ einzufügen, da er in der Sprache, die der Heilige Geist verwendet hat, zumindest dem Sinn nach enthalten ist.
Die große Tatsache bleibt. Es ist nicht nur eine Frage der Krankheit des moralischen Zustandes der Menschen; nein, sie sind tot. Was für ein Schlag gegen alle Gedanken des Menschen – gegen die Vorstellung, dass er sich in einem Zustand der Bewährung befindet – dass er sich lediglich in einem kranken Seelenzustand befindet – wenn man ihn nur beruhigt und tröstet und erzieht, ist er doch nicht so schlecht! Manche meinen, es gebe einen Unterschied zwischen Gläubigen und Ungläubigen in ihrem unbekehrten Zustand: Das leugne ich vollständig. Was die Menschen betrifft, die geboren werden, von denen einige würdiger sind, dass ihnen Barmherzigkeit erwiesen wird, als andere, so widerspricht diese Vorstellung jedem Wort Gottes, das dieses Thema behandelt. Im Gegenteil, der Heilige Geist beharrt vielmehr darauf, dass der wirkliche Tod und das gleiche Verderben in allen ist. Im Römerbrief wird gesagt, dass wir „kraftlos“ (Röm 5,6) waren, aber hier waren wir tot. Die einzige Art und Weise, in der im Römerbrief vom Tod gesprochen wird, ist als ein Vorrecht, der glückliche Zustand, in den uns der Glaube gebracht hat, als wir auf den Tod Christi getauft wurden. Wir werden also als tot für die Sünde und lebend für Gott angesehen (Röm 6,13).
Im Epheserbrief dagegen war der Tod unser Elend. Es war der Ausdruck der Gedanken Gottes über das völlige Verderben, in dem wir und befanden. Wir sehen hier, dass sowohl Juden als auch Heiden (weder als Erste noch als Letzte) – es ist der Mensch als solcher – moralisch tot sind; es geht also darum, was Gott tun kann. Gott oben und der Mensch hier auf der Erde sind jeweils in der Gegenwart des anderen; und wenn der Mensch tot ist, Gott sei Dank! Er weckt die Toten auf und kann sie lebendig machen und tut es auch. Die Unsterblichkeit der Seele ist gewiss. Aber das, was die Schrift „Leben“ nennt, ist keine bloße Existenz, sondern eine wunderbare geistige Natur, die einem Menschen gegeben wird, der von Natur aus ohne sie war und nur nach einer Natur unter der Sünde empfand oder handelte. So ist der Zustand jedes Menschen, bis der Geist Gottes dieses gute Werk an ihm gewirkt hat.
Unser Herr wirft Nikodemus vor, dass er das nicht versteht. Sogar als Jude hätte er das können müssen; aber war es nicht eine Schande, dass er als „der Lehrer Israels“ diese Dinge nicht verstand? Als er von der Notwendigkeit der „Wiedergeburt“ oder eines ganz neuen Prinzips hörte, stellte er sich vor, dass der Heiland von der Wiederholung einer natürlichen Geburt sprechen würde, die – wenn überhaupt möglich – nur die alte Sache noch einmal gewesen wäre. Aber das Wort „von neuem“ (ἄνωθεν) ist sehr betont; und so ist es auch die Darlegung der Wahrheit. Achte darauf: „Was aus dem Fleisch geboren ist, ist Fleisch, und was aus dem Geist geboren ist, ist Geist“ (Joh 3,6). Fleisch kann niemals zu Geist werden. Es gibt keine Möglichkeit, die alte Natur zu vergeistigen und sie neu und heilig zu machen. Was der nicht erweckte Mensch braucht, ist eine neue Natur, oder wie der Herr es erklärt, er muss „aus Wasser und Geist geboren“ werden. Es ist das Wort Gottes, das auf diese Weise bildlich beschrieben und durch die Kraft des Heiligen Geistes auf den Menschen angewandt wird, was die Bedeutung des Textes ist. Die Taufe mag das darstellen, was durch sie vermittelt wird, aber sie ist ein Bild für eine Wirklichkeit. Unser Herr zeigt, dass neues Leben vermittelt werden muss. So wird uns auch an anderer Stelle gesagt: „Nach seinem eigenen Willen hat er uns durch das Wort der Wahrheit gezeugt“ (Jak 1,18). Und dies wird nicht nur von Jakobus, sondern auch von Petrus betont, wenn er erklärt: „die ihr nicht wiedergeboren seid aus verweslichem Samen, sondern aus unverweslichem, durch das lebendige und bleibende Wort Gottes“ (1Pet 2,23). Wir wissen positiv vom Apostel Paulus, dass „die Waschung mit Wasser durch das Wort“ Gottes eigene Erklärung dieses Bildes ist.
Nochmals: Was konnte Nikodemus von der christlichen Taufe wissen? Sie war damals noch nicht eingeführt; und die Taufe der Jünger war nur eine Art Abwandlung des Rituals des Johannes, das heißt, das Bekenntnis zu einem lebenden Messias, der auf die Erde gekommen ist. Aber die richtige christliche Taufe gründet sich auf den Tod und die Auferstehung unseres Herrn. „Oder wisst ihr nicht, dass wir, so viele auf Christus Jesus getauft worden sind, auf seinen Tod getauft worden sind?“ (Röm 6,3). Die christliche Taufe ist das Bekenntnis auf den Tod und die Auferstehung Christi und wurde von unserem Herrn eingesetzt, als Er von den Toten auferstand. Dann, und nicht vorher, trug Er ihnen auf, hinauszugehen und alle Nationen oder Heiden zu taufen, im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes (Mt 28,19). Er bestimmte die große, volle, christliche Offenbarung der Gottheit, in deren Bekenntnis der Gläubige durch seine Taufe gebracht wird.
In den eben erwähnten Schriftstellen finden wir deutlich, dass dort, wo eine bildhafte Sprache verwendet wird, gesagt wird, dass das Mittel, um das neue Leben zu geben, das Wort Gottes ist, das durch den Heiligen Geist angewandt wird; und dass dort, wo Bilder verwendet werden, das Wasser gebraucht wird. Doch die Summe und das Wesen der gesamten Lehre ist, dass das Zeugnis Gottes das göttliche Mittel ist, einem Menschen das Leben zu vermitteln, wenn es durch den Heiligen Geist angewandt wird – das heißt, durch den Glauben. Und wenn wir noch weiter wissen wollen, was besonders in der Wahrheit Gottes verwendet wird, um die, die in Sünden tot sind, zum Leben zu erwecken, ist es immer mehr oder weniger die Offenbarung Christi. Mein Glaube, dass Gott die Schöpfung gemacht hat, wird mich nicht zum Leben erwecken. Ich könnte allen Tatsachen im Alten Testament glauben und von allen Wundern, Reden und Wegen Jesu im Neuen Testament überzeugt sein, und doch könnte ich immer noch nicht zum Leben erweckt werden. Doch an Christus selbst zu glauben ist etwas ganz anderes, als Dinge über Ihn nicht anzuzweifeln. Es setzt voraus, dass ich mehr oder weniger mit mir selbst abgeschlossen habe, dass ich mich dem demütigenden Urteil der Schrift über meine Natur gebeugt habe und anerkenne, dass ich nur ein armes, verlorenes, totes Geschöpf vor Gott bin.
All dies geht über die Natur hinaus. Einige Menschen sind stolz auf die Zuneigung, die wir mit den Tieren teilen, und einige vergöttern sich noch mehr wegen des Gewissens. Doch sogar das Gewissen wurde durch die Sünde erworben. Adam hätte vor dem Sündenfall nicht sagen können, was gut und böse ist. Er vermied es nicht, die verbotene Frucht zu essen, weil die Frucht an sich böse gewesen wäre; noch gab es in der Tat etwas moralisch Falsches in seiner eigenen Natur, die Frucht dieses Baumes zu essen. Aber das Gebot Gottes machte es zu einer Prüfung – einer moralischen Prüfung, von der Adam nichts gewusst hätte, wenn Gott ihm nicht gesagt hätte: „Du sollst nicht davon essen“ (1Mo 3,17). Um den Gehorsam eines Kindes zu üben, könnte man also sagen: „Du sollst nicht aus diesem Zimmer gehen.“ Es mag vorher in Ordnung gewesen sein. Erst nachdem er von der verbotenen Frucht gegessen hatte, erlangte Adam die ausgeprägte und innere Erkenntnis von Gut und Böse. Er kannte also das Böse nur, weil er unter dessen Macht stand. Hätte man Adam vor dem Sündenfall gesagt: Du sollst nicht begehren und dich nicht gelüsten lassen, hätte er vielleicht gesagt: Was soll das heißen? Ich verstehe es nicht. Aber in dem Moment, als er auf den Teufel hörte und die Frucht nahm, die Gott verboten hatte, wurde ein anderes Element in Adams Natur eingefügt, das vorher nicht da war. Vor dem Fall hatte er Körper, Seele und Geist; nach dem Fall erwarb er das, was die Schrift „das Fleisch“ nennt. Das ist nicht einfach nur „Fleisch und Blut“: Unser Herr hatte dies (sonst hätte er nicht wirklich ein Mensch sein können), aber nicht „das Fleisch“, das das Prinzip des Eigenwillens ist, oder dass wir unseren eigenen Weg wollen und nicht den Weg Gottes. Das ist Sünde und das, was die Schrift als Sünde bezeichnet – das starke, rastlose Verlangen, zu haben, was wir wollen, ob Gott es will oder nicht. Satan macht den Menschen blind für den Willen Gottes, für seine Gedanken. Die Liebe zum eigenen Willen lag nicht in der ursprünglichen Natur des Menschen. „Das Fleisch“ wurde durch den Sündenfall erworben und zeigt sich in der Liebe zum eigenen Willen und der Unabhängigkeit von Gott. Der Apostel Paulus geht immer wieder darauf ein, und es ist auch das, was der Apostel Johannes die „Gesetzlosigkeit“ nennt (1Joh 3,4). Es ist das Verlangen nach unserem Weg trotz des Willens und des Weges Gottes, sei es ausdrücklich oder eingeschlossen. Es ist das Wesen der Sünde, das traurige Erbe der Sünder, von dem der Gläubige, Gott sei Dank, befreit ist. Wenn also ein Mensch Christus aufnimmt, hat er noch seine alte Natur, nicht nur Leib, Seele und Geist, sondern sogar das Fleisch – denn auch das hat er noch, und es kann leider die Ursache mancher Fehltritte und Sorgen sein, wenn er unachtsam ist. Daneben gibt es für den Gläubigen eine neue Natur, die er vorher nicht hatte.
Gott hat uns ein neues Leben gegeben, und das ist in seiner Wirkungsweise genauso unterschiedlich wie das alte Leben. Aber Gott hat uns ein neues Leben geschenkt. Wenn du einen Menschen betrachtest: Was ist da? Selbstliebe; ein wenig Stolz hier und Eitelkeit dort; Liebe zum eigenen Willen überall – das Kennzeichen des Sünders in allen Umständen. Suchst du, wirst du nicht lange suchen müssen, bevor du das findest, was nicht Christus, sondern Adam zeigt. Schau dir die Geschichte des Menschen an, wie sie im ersten Buch Mose zu finden ist, und sieh dort, was er ist. Er könnte von seinen Zuneigungen verführt werden. Aber warum lässt er zu, dass seine Zuneigungen so wirken, dass sie ihn in den Ungehorsam gegen Gott führen? Hatte Gott ihm befohlen, auf seine Frau zu hören? Er hätte als Haupt handeln und sie daran erinnern sollen, was Gott ihnen gesagt hatte. Und Gottes Befehl wird nie ungestraft missachtet. So hat der Mann, der der Frau die Führung überlassen hat, bald die bitteren Folgen geerntet. Aber in Christus habe ich das genaue Gegenteil. Was kann moralisch bemerkenswerter sein als dies? – Ein Mensch, der alles war, begnügte sich damit, nichts zu sein; der hier auf der Erde Mensch war, nie nach seinem eigenen, unabhängigen Recht handelte; der immer, unter allen Umständen, ob groß oder klein, den Willen seines Vaters suchte und Ihm unterworfen war. Er sagt, als Er noch ein Kind war: „Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meines Vaters ist?“ (Lk 2,49). Das war nicht nur der Fall, als Er öffentlich hervortrat, sondern Er hatte immer dieses Bewusstsein. Und wenn ich wissen will, was unser Herr war, als Er zu reifen Jahren heranwuchs, dann finde ich es auch dort. Und wo immer ich Ihn betrachte, zeigt sich dieses krönende Merkmal zu allen Zeiten und in allen Umständen: Er war jemand, der nie seinen eigenen Willen suchte oder tat.
Siehst du nicht, dass dies eine ganz andere Art von Mensch ist? Kein Wunder, dass der Heilige Geist das über Ihn, und nur über Ihn, „den zweiten Menschen“ sagt. Alle anderen Menschen waren nur Abbilder Adams, so viele Söhne nach seinem Ebenbild. Soweit sie Menschen waren und wir sie als solche betrachten, trugen sie diesen einen gemeinsamen Charakter Adams. Nun aber tritt ein anderer Mensch hervor; und aus und in diesem gestorbenen und auferstandenen Stamm werden wir zu neuen Geschöpfen, indem uns sein Leben durch den Glauben an Ihn mitgeteilt wird. Wie wir durch die natürliche Geburt das Leben Adams haben, so haben wir auch das, was natürlich aus einem so schrecklichen Anfang hervorgehen würde – denselben Eigenwillen, dieselbe Schwachheit, denselben Hochmut, dieselbe Angst vor Gott, dieselbe Unehrlichkeit und Anmaßung Ihm gegenüber und so weiter. So ist der Mensch: So ist auch das, was ich in meinem eigenen Ich finde; und wenn ich die Bibel richtig lese, wird Gott mich zwingen, es zuzugeben. Wenn Er jemanden erweckt, zwingt Er ihn immer, das Bild zu akzeptieren und zu sagen: Das bin ich selbst, so schwarz wie es ist. Wenn ein Mensch dann unter der schrecklichen Entdeckung der Sünde in seinem Inneren zusammenbricht und sie entsprechend dem Urteil Gottes beurteilt, dann ist es das, was die Schrift Buße nennt. Es ist nicht nur das Eingeständnis dessen, was wir getan haben, sondern auch dessen, was wir sind. Wie kann man das wiedergutmachen? „Was aus dem Fleisch geboren ist, ist Fleisch, und was aus dem Geist geboren ist, ist Geist“ (Joh 3,6). Der Geist hat ein neues Leben gegeben, und zwar in dieser Welt, durch die Erkenntnis Christi. Es geschieht also durch das Wort Gottes („Also ist der Glaube aus der Verkündigung“ Röm 10,17), nicht durch die Taufe oder irgendeine andere Einrichtung des Herrn, so gesegnet sie auch sind. Wir müssen darauf achten, dass wir die Dinge an ihren richtigen Platz stellen. Es ist das Wort, das durch den Heiligen Geist gebracht wird, das den Glauben hervorbringt, und zwar nicht durch das Ausbessern des ersten Adam, sondern durch das Offenbarwerden des letzten Adam. Gott ist vom Himmel herabgekommen, um dieses große Ziel zu erreichen: mir dieses neue Leben zu geben, mich von der Sünde und dem Ich zu befreien. Und wie geschieht das? Indem der Heilige Geist das durch das Wort Gottes bewirkt, wodurch ein Mensch Christus kennenlernt.
Aber hier geht der Apostel nicht in Einzelheiten; er weist nur auf die großen Tatsachen hin:
Auch euch [hat er auferweckt], die ihr tot wart in euren Vergehungen und Sünden, in denen ihr einst wandeltet nach dem Zeitlauf dieser Welt, nach dem Fürsten der Gewalt der Luft, des Geistes, der jetzt wirksam ist in den Söhnen des Ungehorsams (2,1.2).
Das war der schlimmste aller Tode. Zeigt das nicht, wie aktiv diese Art des Todes im Bösen war? Diese Toten wandelten gleichzeitig nach dem Zeitlauf dieser Welt, was in der Tat der Beweis für ihren moralischen Tod war. Sie hatten kein Verlangen, ihren Wandel nach dem Wort Gottes auszurichten. Wie Hiob sagt: „Und doch sprechen sie zu Gott: Weiche von uns! Und nach der Erkenntnis deiner Wege verlangen wir nicht!“ (Hiob 21,14). Und war das nicht unser eigener Zustand? Können wir uns nicht erinnern, dass es eine schmerzhafte Sache war, mit Gott über unsere Sünden sprechen zu müssen? Ich habe es mit Gott zu tun. Und darin liegt der Ernst. Werde ich Gott jetzt nicht wegen des Erlösers begegnen, werde ich Ihm wegen meiner Sünden begegnen müssen. Und wenn ich die Begegnung mit dem Heiland über meine Sünden verachte, muss ich Gott in meinen Sünden begegnen – und dann bin ich für immer verloren. Einem Feind erweist man eine gewisse Ehre, wenn man ihn beachtet; aber einen Freund kann man nicht tiefer beleidigen, als wenn man ihn nicht beachtet und keine Notiz von ihm nimmt. So ist es auch mit der Gleichgültigkeit gegenüber Christus. Vielleicht versuchen wir, ein- oder zweimal am Tag mit Gott abzurechnen – was für ein Unrecht gegenüber Gott und ein Unrecht gegenüber mir selbst! Wenn ich Sünden auf mir habe – und in diesem Zustand sind und waren wir natürlich alle –, was ist dann zu tun? Es ist leicht zu sagen, was wir getan haben – wir führen unser Leben „nach dem Zeitlauf dieser Welt“. Damit sind nicht nur grobe Dinge gemeint. Angenommen, die Menschen wären alle so höflich und freundlich wie möglich – wenn es keine Gefängnisse und Richter gäbe und keine Verurteilten bestraft würden oder wenn die Menschen von ihrer Schlechtigkeit abgebracht werden könnten, was wäre dann noch der Zustand der Menschen? „Was aus dem Fleisch geboren ist, ist Fleisch“ (Joh 3,6). Der Mensch als solcher kann das Reich Gottes niemals sehen. Der einzige Weg, durch den ich in sein Reich gebracht werden kann, ist, von neuem geboren zu werden und diese neue Natur zu haben, die von Christus und nicht von Adam ist. Die Taufe ist das Zeichen dafür. Paulus hatte bereits an den Herrn geglaubt, als Ananias zu ihm sagte: „Steh auf, lass dich taufen und deine Sünden abwaschen“ (Apg 22,16). Es gibt das Bild der Waschung; aber das einzige wirksame Mittel oder Instrument in den Augen Gottes ist das Blut Christi. „Dem, der uns liebt und uns von unseren Sünden gewaschen hat in seinem Blut“ (Off 1,5).