Behandelter Abschnitt Mt 24,1-2
In dieser Prophezeiung unseres Herrn, mit der wir uns nun beschäftigen wollen, sehen wir eine Bestätigung eines großen Grundsatzes Gottes: Er eröffnet die Zukunft des Gerichts über die Aufrührer und der Befreiung seines eigenen Volkes niemals, bevor die Sünde sich nicht so weit entwickelt hat, dass sie das völlige Verderben offenbart. Nimm die allerersten Beispiele in der Bibel. Wann wurde gesagt, dass der Same der Frau der Schlange den Kopf zertreten würde? Als die Frau verführt wurde und der Mensch durch die List des Feindesin Übertretung gefallen war; als die Sünde in die Welt gekommen war und der Tod durch die Sünde. Auch die Prophezeiung Henochs, die uns von Judas überliefert ist, wurde ausgesprochen, als die Zeit der Geduld Gottes mit der damaligen Welt fast zu Ende war und die Sintflut im Begriff stand, sein Gericht über die Verderbnis und Gewalttätigkeit des Menschen zu bezeugen.
Ob wir also die erste Vorhersage Christi vor der Vertreibung aus Eden betrachten oder das Zeugnis vom Kommen des Herrn zum Gericht vor der Sintflut, die Prophetie tritt ein, wenn der Mensch völlig zusammengebrochen ist. So sehen wir Noah, als das Versagen in seiner eigenen Familie und auch in ihm selbst eingetreten war, wie er vom Heiligen Geist zu einer prophetischen Zusammenfassung der gesamten Weltgeschichte geführt wird, beginnend mit dem Gericht über den, der seinen Vater verachtete (wenn auch zu seiner eigenen Schande), und fortfahrend mit dem Segen für Sem und dem Anteil für Japhet. Später dann mit den Prophezeiungen von Bileam und von Mose, „Aber auch alle Propheten, von Samuel an und der Reihe nach, so viele geredet haben, haben auch diese Tage verkündigt“ (Apg 24); denn die Zeit Samuels ist die markante Epoche, die das Neue Testament als den Beginn der großen Linie der Propheten herausstellt. Und warum? Es war der Tag, an dem Israel offen Gott als seinen König verließ und damit die Sünde vollendete, die ihr Herz in der Wüste aufnahm, als sie einen suchten, um nach Ägypten zurückzukehren. Es war eine stolze Krise Israels, dessen Glückseligkeit darin bestand, ein Volk zu sein, das von allem ringsum durch und zu dem Herrn, ihrem Gott, abgesondert war, der ihnen gewiss einen König seiner eigenen Wahl gegeben hätte, wenn sie auf ihn gewartet hätten, anstatt sich selbst zu wählen, zu Gottes Unehre und zu ihrer eigenen Erniedrigung und ihrem eigenen Leid, um wie die Nationen zu sein.
Derselbe Grundsatz gilt besonders deutlich für die Zeit, als die großen prophetischen Bücher geschrieben wurden – Jesaja, Jeremia und die anderen. Es war die Zeit, als alle bisherige Hoffnung geschwunden war und die Söhne Davids keine Erlösung brachten, sondern durch ihre gewaltige Ungerechtigkeit und gotteslästerlichen Beleidigungen Gott endlich moralisch gezwungen war, die Nation Lo-Ammi–nicht mein Volk– zu nennen. Vor, während und nach der Gefangenschaft legte der Geist der Prophetie die Sünde der Könige und Priester und Propheten (der falschen) und des Volkes bloß, wies aber auf den kommenden Messias und den neuen Bund hin. Und Ihn haben wir in unserem Evangelium tatsächlich kommen sehen, aber zunehmend und gänzlich verworfen von Israel und all ihren eigenen Verheißungen und Hoffnungen auf Ihn; und nun in der nahen Aussicht auf seinen eigenen Tod durch ihre Hände, und damit ihren schlimmsten aller Tode, nimmt der verworfene Herr diesen prophetischen Druck auf. Soeben hatte der Herr gesagt: „Siehe, euer Haus wird euch öde gelassen werden.“17Denn was war der Tempel nun? Ein tote Hülle ohne Leben, nicht mehr.
Und Jesus trat hinaus und ging von dem Tempel weg; und seine Jünger traten herzu, um ihm die Gebäude des Tempels zu zeigen. Er aber antwortete und sprach zu ihnen: Seht ihr nicht dies alles? Wahrlich, ich sage euch: Hier wird nicht ein Stein auf dem anderen gelassen werden, der nicht abgebrochen werden wird (24,1.2).
Die Herzen der Jünger waren damals, wie allzu oft heute, mit den gegenwärtigen Erscheinungen und der großen Prachtentfaltung im Dienst Gottes beschäftigt; der Heiligenschein der Verbindungen leuchtete vor ihren Augen. Aber Jesus beurteilt all das, was sogar sie selbst auf der Erde bewunderten. In Wahrheit war, als Er den Tempel verließ, alles weg, was ihm in den Augen Gottes Wert verlieh. Was gibt es in dieser Welt außer Jesus noch, es ist alles eitle Show oder Schlimmeres? Und wie befreit der Herr die Seinen von der Macht der Tradition und jeder anderen Quelle der Anziehung für das Herz? Er eröffnet die Mitteilungen seines eigenen Geistes und wirft das Licht der Zukunft auf die Gegenwart. Wie oft verrät sich die weltliche Unbefangenheit im Herzen eines Christen durch mangelnde Freude an Gottes Entfaltung dessen, was Er tun wird! Wie kann ich mich an der Ankunft des Herrn erfreuen, wenn sie vieles niederreißen wird, was ich in der Welt aufzubauen suche? Jemand mag zum Beispiel versuchen, durch seine Fähigkeiten eine Stellung zu erlangen oder zu behalten, und er hofft, dass seine Söhne ihn durch die überlegenen Vorteile, die sie genießen, überflügeln werden. Auf solch einer Vorstellung gründet sich alle menschliche Größe; sie ist in der Tat die Welt. Die Wiederkunft Christi ist eine Wahrheit, die das ganze Gefüge zerstört; denn wenn wir sein Kommen wirklich als etwas ansehen, das von einem Tag auf den anderen geschehen kann – wenn wir erkennen, dass wir wie Diener an der Tür stehen, die Klinke in der Hand haben und darauf warten, dass Er anklopft (wir wissen nicht, wie bald), und wünschen, Ihm sofort zu öffnen („Glückselig sind die Diener!“) – wenn das unsere Einstellung ist, wie können wir dann die Zeit oder ein Herz für das haben, was die geschäftige, Christus vergessende Welt beschäftigt? Außerdem sind wir nicht von der Welt, so wie auch Christus nicht von der Welt ist; und was die Mittel und Vertreter angeht, um ihre Pläne auszuführen, so wird es der Welt nie an Menschen fehlen, die ihre Arbeit tun. Aber wir haben eine höhere Aufgabe, und es ist unter unserer Würde, die Ehre der Welt zu suchen, die unseren Herrn verwirft. Möge unsere äußere Stellung noch so niederträchtig oder anstrengend sein, was ist so ruhmreich, als darin unserem Herrn Christus zu dienen? Und Er wird kommen.
Im Kreuz sehen wir, wie Gott sich selbst erniedrigt – der Einzige aller wahren Größe beugt sich herab, um mich zu retten – der Einzige, der über alles gebietet, wird zum Knecht aller. Ein Mensch kann die Wahrheit des Kreuzes nicht empfangen, ohne dass sein Wandel in gewissem Maß mit dem Geist des Kreuzes übereinstimmt. Doch wie sehr betrachten die Heiligen Gottes das Kreuz nicht so sehr als das, durch das ihnen die Welt gekreuzigt wird und sie der Welt, sondern vielmehr als das Mittel, durch das sie von der Angst befreit werden, um sich einen bequemen Platz in der Welt zu schaffen! Der Christ sollte der glücklichste aller Menschen sein; aber sein Glück sollte in dem bestehen, wovon er weiß, dass es sein Anteil in und mit Christus ist. Dabei sollen unser Dienst und unser Gehorsam nach dem Geist des Kreuzes des Herrn Jesus Christus gestaltet werden. Das Böse des Menschen und die Gnade Gottes kamen im Kreuz gründlich zum Vorschein; alles traf dort zusammen: Auf diese große Wahrheit gründet sich, was oft in der Schrift gesagt wird: „Es ist aber nahegekommen das Ende aller Dinge“ (1Pet 4,7); denn alles ist auf moralische Weise und in dem Handeln Gottes in den Haushaltungen zwischen Ihm und Mensch zum Vorschein gekommen.
17 Der Herr des Tempels wurde verworfen; das Haus Israel wurde aufgegeben; die Herrlichkeit kehrte zum Himmel zurück (vgl. Hes 10,2-4.18.19; 11,22.23). Wenn die Gerichte über Israel sie zum Herrn zurückgebracht haben, kehrt die Herrlichkeit auf dieselbe Weise zurück, wie sie weggegangen war (vgl. Hes 43,1-4 und Sach 14,1-9) – [Ed.].↩︎