Behandelter Abschnitt Hld 1,1 - 2,2
Einleitung
Viele haben dieses wunderbare Buch der Schrift auf die Versammlung angewandt, viele mehr auf den einzelnen Gläubigen, in Bezug auf den Herrn Jesus. Es wird auch nicht einen Augenblick geleugnet, dass es ein Prinzip gibt, das allen von Gott Geborenen gemeinsam ist, die Liebe zu Ihm, der für alle gestorben ist, die durch den Glauben in den Kreis der Liebe Gottes in Christus eintreten, die Liebe, die seine bekannte Liebe bewirkt, die sogar die Erkenntnis übersteigt.
Aber gibt es den geringsten Grund, daran zu zweifeln, dass das Buch wirklich das betrachtet, was das Alte Testament überall tut, jenes Thema, das dem Messias auf der Erde so kostbar ist, bestätigt durch so viele Beweise in den Psalmen (besonders Ps 45) und den Propheten (Jes 62)?1 Salomo war demnach kein ungeeignetes Gefäß für den Geist, sich in dieser Hinsicht zu bedienen. Das Neue Testament behandelt Christus und die Versammlung als ein Geheimnis, das in Gott verborgen war, bis der Apostel Paulus berufen wurde, der es bekanntmachte; so dass der Bezug natürlich auf die gegenseitige Liebe des Messias und seiner irdischen Braut, der Tochter Zion, und anderen solchen bildlichen Begriffen liegt. Für Menschen, die nur auf die Vergangenheit blicken, scheint es schwer zu sein, zu erkennen, was die göttliche Barmherzigkeit noch in Jerusalem bewirken wird; wenn anstelle ihrer alten Rebellion und ihres Verrats die Stadt des großen Königs der Gegenstand des Entzückens des Herrn sein wird, mit einem neuen Namen benannt, eine Krone der Schönheit und ein königliches Diadem in seiner Hand, und zu seiner Rechten stehen wird wie die Königin in Gold von Ophir, ein Lob auf der Erde.
Das Lied der Lieder füllt demnach einen Platz im Alten Testament aus, der so einzigartig ist wie das Buch der Psalmen, während beide ohne Gegenstück im Neuen Testament sind, wo keins von beiden direkt gebraucht wurde, und der Christ wie auch die Versammlung könnten beide passend verwenden, mutatis mutandis, in Übereinstimmung mit unserer eigenen unterschiedlichen Beziehung. Für uns ist die Erlösung vollbracht, das Heil gekommen und die Gerechtigkeit offenbart. Das angenommene Werk des verherrlichten Christus in der Höhe und die Gabe des innewohnenden Heiligen Geistes versetzen uns in eine ganz andere Stellung als die, die im Lied der Lieder betrachtet wird. Daher die wunderbare Realität, die der Christ und die Versammlung gleichermaßen und bereits besitzen, die Vereinigung mit Christus, wo durch den Geist noch die Kraft der Hoffnung besteht, weil wir die Vollendung, die eigentliche Hochzeit im Himmel, erwarten, nachdem wir entrückt sind, um bei Christus zu sein (Off 19).
Für uns ist die Beziehung so hergestellt, dass die Zuneigungen fließen können und der Wandel erwartet werden kann, die zu ihr passen, die Christi Leib und Braut ist (Eph 5; Off 22). Dies steht im Gegensatz zu der hier dargelegten jüdischen Stellung, wo die Beziehung noch nur erwünscht ist und geformt oder allenfalls wiederhergestellt werden muss. So haben wir die mannigfachen Übungen des Herzens, durch Umstände der Prüfung, die in Gewinn münden, auf das Bekenntnis des Liebsten gesetzt, aber noch nicht in Frieden genossen. Und wie wir ohne den inspirierenden Geist keine solche Sammlung wie die Psalmen von einem Volk unter dem Gesetz, einem Dienst des Todes und der Verdammnis, hätten haben können, so noch weniger, wenn möglich, eine solche Vorwegnahme der gegenseitigen Liebe des Messias und Jerusalems, die sein soll; wohingegen der Christ und die Versammlung moralisch fähig sind, unsere eigenen Psalmen und Hymnen und geistlichen Lieder zu äußern, im Genuss seiner Liebe und unserer innigen Beziehung als eins mit Ihm. Was kann, neben dem ewigen Leben und der Erlösung und unserer echten Beziehung zu Christus, wichtiger sein als der Genuss seiner Liebe und das Entzünden und Stärken und Festhalten unserer Liebe! Wir lieben Ihn, weil Er uns zuerst geliebt hat (vgl. 1Joh 4,19).
Kapitel 1
Das Lied der Lieder, von Salomo.
Er küsse mich mit den Küssen seines Mundes, denn deine Liebe ist besser als Wein. Lieblich an Duft sind deine Salben, ein ausgegossenes Salböl ist dein Name; darum lieben dich die Jungfrauen. Zieh mich: Wir werden dir nachlaufen. Der König hat mich in seine Gemächer geführt: Wir wollen frohlocken und uns an dir freuen, wollen deine Liebe preisen mehr als Wein! Sie lieben dich in Aufrichtigkeit.
Ich bin schwarz, aber anmutig, Töchter Jerusalems, wie die Zelte Kedars, wie die Zeltbehänge Salomos. Seht mich nicht an, weil ich schwärzlich bin, weil die Sonne mich verbrannt hat: Die Söhne meiner Mutter zürnten mir, bestellten mich zur Hüterin der Weinberge; meinen eigenen Weinberg habe ich nicht gehütet.
Sage mir an, du, den meine Seele liebt, wo weidest du, wo lässt du lagern am Mittag? Denn warum sollte ich wie eine Verschleierte sein bei den Herden deiner Genossen?
Wenn du es nicht weißt, du Schönste unter den Frauen, so geh hinaus, den Spuren der Herde nach, und weide deine Zicklein bei den Wohnungen der Hirten.
Einer Stute an des Pharaos Prachtwagen vergleiche ich dich, meine Freundin. Anmutig sind deine Wangen in den Kettchen, dein Hals in den Schnüren. Wir wollen dir goldene Kettchen machen mit Punkten aus Silber.
Während der König an seiner Tafel war, gab meine Narde ihren Duft. Mein Geliebter ist mir ein Bündel Myrrhe, das zwischen meinen Brüsten ruht. Eine Zypertraube ist mir mein Geliebter, in den Weinbergen von En-Gedi.
Siehe, du bist schön, meine Freundin, siehe, du bist schön, deine Augen sind Tauben.
Siehe, du bist schön, mein Geliebter, ja, holdselig; ja, unser Lager ist frisches Grün. Die Balken unseres Hauses sind Zedern, unser Getäfel Zypressen.
Ich bin eine Narzisse von Saron, eine Lilie der Täler.
Wie eine Lilie inmitten der Dornen, so ist meine Freundin inmitten der Töchter (V. 1,1–2,2).
So erkennt die erwartungsvolle Braut die Kostbarkeit der Liebe des
Messias für sie an und freut sich, vom Wohlgeruch seiner Gnade, seines
Namens, sprechen zu können, nicht nur für sich selbst, sondern für alle,
die sich von götzendienerischen Verderbnissen fernhalten (die
Jungfrauen). Über diese letzte Gefahr und die Bewahrung vor ihr mögen
die ersten Verse von Offenbarung 14 herangezogen werden, zum Nutzen
derer, die beides abwägen. Es ist sicher, dass der künftige
gottesfürchtige Überrest der Juden, wenn die Versammlung nicht mehr hier
auf der Erde ist, durch das erneute Ausbrechen dieses Bösen versucht
werden wird, nicht nur unter den Nationen, sondern in Jerusalem und dem
Tempel selbst (vgl. Jes 57,4-9; Dan 11,36-39, Dan 12,11;
Deshalb verbindet die Braut die Gläubigen mit sich in dieser Reinheit der Zuneigung, hält aber an ihrer eigenen besonderen innigen Beziehung mit dem König fest, während sie auch ihre Liebe bekennt. Dann wiederholt sie die Wirkung der feurigen Prüfung auf sich selbst (denn in der Tat hatte Jerusalem lange und schwer gelitten); so dass seine Gnade an anderer Stelle erklärt, sie habe von seiner Hand das Doppelte für alle ihre Sünden empfangen (Jes 40). Eifersucht und Zorn gab es, wo man es am wenigsten erwartet hätte. Doch sie, die als Frucht Gottes ein Segen für die Völker ringsum hätte sein sollen, hatte selbst in ihrer eigenen Verantwortung versagt. Umso weniger würde sie sich nun selbst trauen, außer der Herde des Messias und denen, die Er gab, um sie zu hüten (V. 1–7), wie auch andere bezeugen (V. 8).
Daraufhin erklärt der Messias sein Wohlgefallen an ihr, wie die Gnade es ihr gern sagt (V 9–11); und sie bekennt daraufhin die Wirkung auf ihr Herz, worauf Er in Vers 15 kurz antwortet und sie in Vers 16 antwortet. Außerdem antwortet sie in den Versen 17–2,1, die alle den allgemeinen Überblick über ihre jeweilige Haltung bilden. Zeugnisse der gegenseitigen Zuneigung schließen diesen Teil ab.
1 Von den wenigen Rationalisten drängten Rosenmüller und Eichhorn auf Chaldäismen, um die Autorschaft zu verunsichern und das Datum zu senken. Aber Gesenius, ein besserer Kenner des Hebräischen als die meisten, und in keiner Weise an die Tradition gebunden, hatte keinen Zweifel, dass es aus dem goldenen Zeitalter stammt, und seine wenigen Anomalien sind anderweitig erklärbar.
In der Tat ist ein großer Teil der Ratlosigkeit unter den Kommentatoren auf eine falsche Anwendung zurückzuführen. Die Literaten neigen hier, wie auch anderswo, dazu, dem Buch einen würdigen Gegenstand und göttlichen Charakter abzusprechen. So soll es nach einem der jüngsten und fähigsten den Sieg der demütigen und beständigen Liebe über die Versuchungen des Reichtums und des Königtums darstellen! Ein solches Ziel mag zu den Idyllen des Theokrit oder den Eklogien seines lateinischen Nachahmers Vergil passen; aber es verrät eine fatale Unkenntnis der alttestamentlichen Schrift, die sich gewöhnlich über die unmittelbaren historischen Anlässe hinaus zu einem Zweck der Gnade erhebt. Sie ist umso leichter zu übersehen, als ihre Vollendung die große Zukunft erwartet, wenn der Messias den Gegenstand seiner nächsten Zuneigung hier unten haben wird, der seiner Liebe entspricht. Als Ganzes ist es vorbildlich oder allegorisch, wie sehr auch der Unglaube den Gegenstand übersehen mag.↩︎