Behandelter Abschnitt Hld 1,1
Nichts ist, was die Menschen dieser Welt mehr fürchten als Einsamkeit und eine Zeit des Nachdenkens oder der inneren Einkehr. Sie sind lieber mit Arbeit überladen, als dass sie Muße für stille Betrachtungen haben möchten. Das unruhige Gewissen erhebt zu solchen Zeiten seine Stimme, und diese sucht man mit der bequemen Ausflucht zu betäuben, dass man Pflichten zu erfüllen und keine Zeit für dergleichen Überlegungen habe. Sünden, viele Sünden sind da, und der Gedanke an Gott, als den Richter der Sünde ist schrecklich. Der Zustand der Seele ist derart, dass sie das Licht nicht ertragen kann, und darum liebt man die Finsternis. Man sucht und liebt das geschäftige, ruhelose Treiben des gegenwärtigen Zeitlaufs, um dadurch dem drückenden Gewicht der stillen Stunden zu entrinnen. Die Vergnügungen und Freuden der Welt dienen zu ihrer Zeit und an ihrem Platz dem gleichen Zweck.
So ist man eifrig besorgt, die Einsamkeit zu vermeiden und jede Gelegenheit zu ruhiger und ernster Betrachtung unmöglich zu machen. Den Interessen der Seele schenkt man keine Beachtung, keine Minute widmet man ihr, trotz ihres dringenden, tiefen Bedürfnisses. Der höhere und edlere Teil des Menschen wird gänzlich vernachlässigt und außerachtgelassen. Aber ach, „was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt und seine Seele einbüßt? Denn was wird ein Mensch als Lösegeld geben für seine Seele?“ (Mk 8,36.37).
So ist der Mensch, der Mensch ohne die Erkenntnis Gottes, ohne Erkenntnis über seinen Zustand als Sünder und über Jesus als den Heiland der Sünder. Doch wenden wir uns für einen Augenblick weg von dieser herzbetrübenden Szene, obgleich starke und doch zarte Bande uns immer wieder hineinziehen möchten, um solche, die wir lieben, aus ihr zu befreien und für Christus zu gewinnen. Lasst uns einen Geist stiller Betrachtung nähren in der lieblichen Einsamkeit der Absonderung der Seele von der Welt, da wo der Schauplatz von der Gegenwart des Heilandes erhellt wird und „das Lied der Lieder“1 ertönt zu Seiner Ehre. Je weiter die Trennung von der Welt ist, soviel tiefer ist die Gemeinschaft, soviel reicher die Segnung. Es gilt, in Herz und Geist keine Sympathie mit der Welt zu haben, und obwohl wir in ihr sind, doch tatsächlich weit entfernt zu sein von ihrem Gewühl und ihren unheiligen Szenen.
Eine gewaltige Kluft trennt die Gläubigen von dem gegenwärtigen bösen Zeitlauf. „Sie sind nicht von der Welt“, sagt Christus, „gleichwie ich nicht von der Welt bin.“2 Die Stellung Christi in der Auferstehung ist die Beschreibung unserer Stellung, als in Ihm betrachtet. Die Stunden ruhigen, stillen Nachsinnens der Seele in Gemeinschaft mit der Person des erhöhten Herrn sind die lieblichsten Augenblicke in ihrer Geschichte. Man kann sie finden im Krankenzimmer, in ländlicher Stille oder selbst im Mittelpunkt des geschäftlichen Lebens dieser Welt. Alles hängt von dem Zustand des Herzens ab. Allein zu sein, und doch nicht allein, wie gesegnet ist das.
Doch warum heißt das kostbare kleine Buch, mit dem wir uns beschäftigen, „das Lied der Lieder“? Eben weil es von Salomo, oder besser von Christus handelt, der zu Seiner Zeit König in Jerusalem sein wird in wahrer salomonischer Herrlichkeit. Nach demselben Grundsatz wird Er „König der Könige und Herr der Herren“ genannt. Ihm gebührt der Vorrang in allen Dingen. Es gibt viele liebliche Lieder in der Schrift. Mose, Mirjam und ihre Mägde, Debora und David, alle sangen in lieblicher Weise von der Güte des Herrn. Von Salomo selbst wird gesagt: „seiner Lieder waren tausend und fünf“ (1Kön 5,12); aber nur dieses eine nennt er „das Lied der Lieder“. Es übertraf sie alle bei weitem. Es ist der melodische Gesang von Herzen, die mit heiliger Liebe erfüllt sind und die ihre höchste Freude finden an jenem vollen und freien Ausdruck der Liebe: „Wir lieben, weil er uns zuerst geliebt hat.“3 O möchten wir fähig sein, zu allen Zeiten das Lied von der Liebe des Heilands zu singen, mit dem Herzen und auch mit dem Verstande.