Behandelter Abschnitt Hld 1-2
Einleitung
Wir wollen ein Buch der Heiligen Schrift betrachten, das vermutlich viele von uns schon stark beschäftigt hat. Mag das moderne Denken sich auch erdreisten, gering von solch einem Buch zu sprechen, so ist es doch bemerkenswert, dass in den hebräischen Schriften nichts sonst eine so ausgeprägte Glaubwürdigkeit besitzt. Ihm fehlt nicht ein einziges grundlegendes Kennzeichen göttlicher Autorität – außer dem einen vielleicht, was man dagegen sagen könnte, dass es als eines der ganz wenigen Bücher der Bibel im Neuen Testament nicht zitiert wird. Aber deswegen brauchen wir nicht beunruhigt zu sein, und zwar aus dem einfachen Grunde: obwohl es nicht ausdrücklich angeführt wird, ist der Geist Gottes doch beständig mit seinen Grundgedanken beschäftigt.
Das erste Buch des Neuen Testaments spielt sehr deutlich auf den großen Gedanken des Hohenliedes an: die bräutliche Beziehung als das Zeichen oder Symbol der besonderen Liebe Christi zu Seinem Volke. Denn obwohl wir im Neuen Testament unzweifelhaft die Stellung von Kindern und die Liebe des Vaters finden, und obwohl wir da auch die Gestalt des Hirten und seine Sorge für die Schafe haben, wird dort doch auch gerade diese Beziehung zwischen Braut und Bräutigam aufgegriffen und durch den Heiligen Geist benutzt, um die Nähe und Innigkeit der Liebe des Herrn zu uns zu verdeutlichen. Und dies, denke ich, hat zu manchen Missverständnissen über dieses Buch geführt.
In jener Hast, die zu aller Zeit Mangel sowohl an Glauben als auch an geistlichem Verständnis kennzeichnet, hat man es als selbstverständlich angesehen, dass die Braut des Hohenliedes und die, von der der Apostel Paulus spricht, dieselbe ist – die Braut, die Johannes in der Offenbarung nennt. Aber es besteht keine Veranlassung, das zu folgern; ich will das zunächst erläutern, bevor ich auf das Buch selbst eingehe.
Wenn wir uns dem Evangelium nach Matthäus zuwenden, so finden wir im Neuen Testament die bräutliche Beziehung zum ersten Mal im 9. Kapitel vorgestellt; der Herr nimmt dort Seine Jünger gegen Fragen in Schutz, die durch Vorurteile der Pharisäer ausgelöst waren. Jesus sagt zu den Jüngern des Johannes, die sich mit dem Empfinden der Pharisäer einsmachten: „Können die Gefährten des Bräutigams trauern, so lange der Bräutigam bei ihnen ist?“ Nun, da haben wir eine deutliche Anspielung. Aber wo hören wir etwas vom Bräutigam? Er spielt auf etwas allgemein Bekanntes an; Er erklärt es nicht. Woher nahm Er den Ausdruck „Bräutigam“? Unzweifelhaft vom Hohenlied – dem Lied der Lieder.
Wir haben hier also zwar kein Zitat, wohl aber etwas, was meiner Ansicht nach sogar mehr ist als ein Zitat. Wir haben es als deutlich anerkannte Tatsache, als eine große Wahrheit, die den Juden durchaus geläufig war, und beachten wir es wohl, geliebte Freunde, mit dem Stempel des Sohnes Gottes darauf. Denn es ist nicht ein Name, den die Jünger des Johannes bei ihrem Gespräch mit Jesus benutzen, sondern der Herr Jesus Selbst wendet ihn ihnen gegenüber an. „Können die Gefährten des Bräutigams trauern“, sagt Er, „so lange der Bräutigam bei ihnen ist? Es werden aber Tage kommen, da der Bräutigam von ihnen genommen sein wird, und dann werden sie fasten.“
Ich denke, ihr spürt etwas von der einzigartigen Schönheit von der göttlichen Vollkommenheit gar nicht zu reden, die in diesen Worten liegt. Der Herr spricht nicht von der Braut. Er erwähnt nur die „Gefährten des Bräutigams“. Er wusste ja sehr wohl, dass Er im Begriff stand, eine andere einzuführen, die den Platz als Seine Braut einnehmen sollte. Aber hier ist davon keine Rede; denn zu dieser Zeit war unser Herr nur zu Israel gesandt, und es ging darum, ob das alte Volk Gottes Ihn annehmen würde. Hätten sie Ihn angenommen, würde Er der Bräutigam gewesen sein und sie die Braut.
Und es ist ganz klar, wie ich schon sagte, dass der Herr dies nicht auseinandersetzt wie etwas, was Er ihnen zum ersten Mal mitteilt, sondern wie etwas, womit sie vollkommen vertraut sein mussten, und das natürlich vom Wort Gottes her. Woher war es entnommen? Von dem Buch, aus dem ich heute Abend ein paar Verse gelesen habe.
Wenn wir nun zu einem späteren Teil dieses selben Evangeliums nach Matthäus übergehen, dem Gleichnis von den zehn Jungfrauen, das jeder Christ ja so gut kennt, was finden wir da? Das Königreich der Himmel wird zehn Jungfrauen verglichen. Es ist nicht die Braut, sondern es sind Jungfrauen, die mit ihren Lampen ausgingen, dem Bräutigam entgegen. Nun, da kann es keine Frage geben, dass der Bräutigam der Herr Jesus ist. Und ganz offensichtlich ist in diesem Gleichnis von den zehn Jungfrauen nicht die Braut der springende Punkt. J
ungfrauen sind es, die ausgehen, dem Bräutigam entgegen. Aber wo finden wir dann die Braut? Tiefes Schweigen. In der ersten Anspielung des Herrn auf den Bräutigam ist kein Hinweis auf die Braut. Er spricht von den „Söhnen des Brautgemachs“, aber kein Wort fällt über die Braut. Bemerkenswerte Stille! Das Natürlichste wäre doch gewesen, auch von der Braut zu sprechen; und das ist so natürlich, dass in einigen alten Manuskripten – in einem der allerältesten – von diesem Gleichnis der Schreiber auch in diesen Fehler verfallen ist. Er stellt das Königreich der Himmel vor, das zehn Jungfrauen gleich sei, die ihre Lampen nahmen und hinausgingen, dem Bräutigam und der Braut entgegen. Man hatte die Worte „und der Braut“ hinzugefügt, und ich brauche wohl nicht zu sagen, dass dazu nicht die geringste Befugnis bestand.
Nein, was ich zeigen möchte, ist die auffallende Weisheit des Herrn, kein Wort über die Braut zu sagen. Da ist der Bräutigam, dessen Ankunft bevorsteht. Und das ist das Entscheidende: Er ist im Begriff zu kommen. Es ist nicht eine Szene im Himmel; darum geht es hier nicht. Wir finden hier vielmehr, dass der Bräutigam kommen soll und dass diese Jungfrauen Ihm entgegengehen. Sie sind nicht die Braut Christi, die Er bald zu Sich nehmen wird; die zehn Jungfrauen konnten nicht ein Bild der Braut sein.
So ist es also klar, dass die Braut unerwähnt bleibt; sie tritt nicht in Erscheinung. Der Grund dafür ist nach meiner Meinung sehr ernst. Der Herr wusste sehr wohl, dass die Braut, mit der ihre Herzen von der Bildersprache des Alten Testaments her wohlvertraut waren, jetzt noch nicht Braut sein würde, dass die Braut treulos sein und den Bräutigam zu diesem Zeitpunkt abweisen würde. Die Braut erscheint daher in keiner Seiner Anspielungen. Es war ja nicht so, dass Er noch etwas zu lernen gehabt hätte. Er war nicht einer, der die Wahrheit nicht kannte; Er war eine göttliche Person. Er wusste, wie alles werden würde. Er konnte warten; aber selbst wenn Er wartete, und wenn es nur allzu klar war, dass die Juden Ihn völlig verwarfen und Er nun im Begriff stand, Sein Leben zu opfern – nicht als Bräutigam für die Braut zu kommen, sondern Sein Leben für Sünder zum Opfer zu geben, selbst dann sagt Er in diesem treffenden Gleichnis, einem Seiner letzten, kein Wort über die Braut. Von Anfang bis Ende erscheint die Braut nicht.
Und das ist für mich äußerst lehrreich, denn eines der Ziele des Evangeliums nach Matthäus ist, darzulegen, dass der Herr, ebenso wie Er der wahre und göttliche Messias, Emmanuel, war, als der wahre Emmanuel – der Messias – durch Israel verworfen werden würde. Von jetzt an liegt daher ein Schleier über Israel. Wie ungewöhnlich! Er erwähnt die Braut nicht einmal. Sie würde Ihn ja zurückweisen. Er sagt kein einziges Wort über sie. Er wendet sich dem zu, was Seinem eigenen Herzen nahe war, nicht der Schuld – dem strafwürdigen Unglauben derer, die den wiederkehrenden Bräutigam, der jetzt gegenwärtig war, hatten willkommen heißen sollen. Und selbst da bleibt Er der gegenwärtige Bräutigam. Aber Er spricht von uns, wirklich; denn es ist die Gesamtheit der Christen, die bekennende Christenheit, die Er mit den zehn Jungfrauen anspricht. Er wendet Sich nicht an den jüdischen Überrest, wie manche gemeint haben. In den zehn Jungfrauen finden wir in keiner Weise den jüdischen Überrest. Die zehn Jungfrauen sind ganz eindeutig christliche Bekenner, die ausgehen, dem Bräutigam entgegen. Das ist unsere Stellung; und sie charakterisieren daher die Christenheit.
Der Jude wird dort bleiben, wo er sich befindet und wird dort, wo er ist, von Gott gesegnet werden, wenn der Tag kommt, an dem die Juden gesegnet werden sollen. Der Bräutigam wird zu ihnen kommen, wenn ihr Herz verwandelt ist. Jene Wendung des Herzens wird geschehen, und der Schleier wird fortgenommen werden, wenn es sich dem Herrn zuwendet – das Herz von Israel, wie wir in 2Kor 3 lesen. Der Herr spricht hier klar von solchen, die „ausgehen“, und Er nennt einige töricht und andere klug. Beim jüdischen Überrest wird keiner töricht sein. „. . . die Verständigen aber werden es verstehen“ (Dan 12,10), und sie sind die Verständigen – jener jüdische Überrest der letzten Tage.
Was noch deutlicher zeigt, dass es nicht der jüdische Überrest ist, ist dies: sie haben Öl in ihren Gefäßen, während auf die Juden doch der Heilige Geist erst ausgegossen wird, nachdem ihre Beziehung zu Christus aufgerichtet und bestätigt ist. Wir haben den Heiligen Geist erhalten, nachdem Christus die Erde verlassen hatte. Sie werden den Heiligen Geist nicht empfangen, bevor Christus zurückkommt. Der Unterschied liegt also auf der Hand. Beachten wir auch, wie alles dies bekräftigt; denn sie schlafen alle ein. Der jüdische Überrest wird das nie tun. Von der Zeit an, da sie berufen wurden, werden sie durch unvergleichliche Trübsale und Drangsale gehen. Und in Zeiten der Trübsal legt man sich nicht schlafen, wohl aber in Zeiten der Ruhe. Das ist es, was wir im Christentum erleben. Es gab Zeiten der Ruhe und der Sorglosigkeit, und die Menschen schliefen ein. Und das finden wir hier – der Herr weckt sie schließlich auf.
Ich möchte das wiederholen, dass die zehn Jungfrauen die Christenheit darstellen, gut und böse, klug und töricht, und nicht die Gesamtheit der Juden. Die Braut wird nirgends gesehen. Sie wird nicht einmal erwähnt. Ich zweifle nicht, dass der zurückkehrende Bräutigam danach Seine Braut aufnehmen wird; aber die zehn Jungfrauen sind etwas völlig anderes; sie werden nicht als Braut gesehen, sondern als Gefolge, sozusagen als Brautzug. Es sind jene, die ausgehen, Ihm entgegen, und die dann mit Ihm zur Hochzeit eingehen. Aber dann muss ja jemand anders die Braut sein; und wenn wir fragen, wer diese Braut sein würde, wenn die Braut überhaupt genannt wäre, so antworte ich ohne Zögern – Die Braut des Hohenliedes ist – Jerusalem.
Wir brauchen es nicht seltsam zu finden, dass Jerusalem solch ein Name beigelegt werden sollte. Die Propheten greifen ihn auf, ebenso die Psalmen.
Der 45. Psalm weist eindeutig auf jene jüdische Braut hin. Sie ist die Königin. An jenem gesegneten Tage werden auch andere gesegnet werden; aber sie ist die eine, die „ganz herrlich drinnen“ ist. Und wir dürfen dies nicht für eine Herabsetzung der himmlischen Braut halten; denn ich bin völlig überzeugt, dass die klugen Jungfrauen aus Matthäus 25 zugleich die himmlische Braut darstellen. Kurz, wir müssen daran denken, dass die Braut nur ein Bild ist und dass es die Versammlung ist, die einen vertrauteren Platz im Himmel haben wird als irgendjemand sonst. Und Jerusalem – oder Zion, wenn wir wollen – wird auf der Erde einen besonderen Platz in der Nähe des Messias haben. Das Herz des Herrn ist wahrhaftig weit genug für Himmel und Erde. Er, Der sowohl Gott als auch Mensch ist, Er, Der sowohl das Haupt der Versammlung als auch der Juden ist – liebt sie beide jetzt und in Zukunft mit Seiner vollkommenen und inbrünstigen Liebe. Wie wir also im Alten Testament eine eindeutig gekennzeichnete Braut haben, die ohne allen Zweifel nicht die Versammlung ist, so haben wir im Neuen Testament eine Braut, die völlig geoffenbart ist. Und jene Braut ist ebenso eindeutig die Versammlung und nicht Jerusalem, wie es im Alten Testament Jerusalem ist und nicht die Versammlung.
Dies, denke ich, wird uns nicht unwesentlich helfen, das Hohelied richtig zu verstehen. Niemand soll nun aber meinen, dass das Hohelied deshalb weniger interessant wäre. Es geht ja auch nicht darum, was wir für interessant halten; wir sollten vielmehr nach der Wahrheit fragen und nach Gottes Gedanken. Wenn wir über Gottes Gedanken erst einmal zu einer festen Gewissheit gekommen sind, dann kann es nichts von tieferem Interesse geben. Und ich brauche kaum zu sagen, dass, wenn die Liebe Christi zu Seiner irdischen Braut schon so groß und zärtlich ist, es keine glückliche Schlussfolgerung wäre zu sagen, dass Seine Liebe zu Seiner himmlischen Braut geringer ist. Ich würde das Gegenteil meinen und dass wir deshalb durchaus berechtigt sind zu folgern, dass, die Liebe des Herrn größer ist als wir gedacht hatten –, dass der Herr auf Erden einen Gegenstand haben wird, der Ihm besonders wert ist und nahe steht, wie Er unzweifelhaft auch im Himmel solch einen Gegenstand haben wird. Und wenn wir jetzt Christus angehören, dann wird unser Verhältnis zu Ihm himmlischer Natur sein, und das ist es jetzt schon. Dies bedeutet nicht ich wiederhole es – die Heilige Schrift unseren Herzen zu entfremden, sondern es gibt uns vielmehr erst das wahre Verständnis für sie.
Ich könnte noch auf das Evangelium nach Johannes aufmerksam machen (Joh 3,29), um von daher denselben Beweis in Bezug auf die Gestalt des Bräutigams zu führen und infolgedessen auch auf die irdische Braut – denn die Versammlung war noch nicht geoffenbart, als der Herr dort sprach oder Johannes der Täufer von dem Herrn zeugte, aber ich möchte mich jetzt lieber auf die Worte des Herrn Selbst beschränken. Johannes der Täufer hat in seinen Worten ohne Zweifel das gleiche Gepräge wie der Herr Jesus, ich möchte nicht sagen göttlicher Eingebung. Nein, ich spreche von Ihm als von einer göttlichen Person. Er redete die Worte Gottes, und das Zeugnis Johannes des Täufers war so wahrhaftig, als ob Gott selbst gesprochen hätte. Aber dennoch müssen wir zwischen einem bloßen Instrument Gottes und Gottes eigenem Bild unterscheiden. Und das war der Herr Jesus.
Ich möchte nicht lediglich eine Reihe von Schriftstellen anführen, so, als ob dadurch die Wahrheit bekräftigt werden könnte. Ich hoffe, mich an solche zu wenden, die auch mit einer Stelle zufrieden wären, wenn es nur eine gäbe. Derjenige, der nach zwanzig Schriftstellen verlangt, glaubt ganz offensichtlich nicht einer einzigen. Derjenige, der meint, die Schrift sei deshalb zuverlässig, weil er die Beweise häuft, hat gewiss kein richtiges Empfinden von ihrer göttlichen Glaubwürdigkeit. Ich bin also ganz davon überzeugt, dass die Bücher des Alten Testaments, die Psalmen und Propheten von Zeit zu Zeit (ja, ich möchte sagen häufig) auf die Gestalt der Braut anspielen, als die Jerusalem eines
Tages erscheinen wird, und dass der Herr Selber im Neuen Testament diese große Wahrheit besiegelt. Und das ist umso bedeutsamer, als Jerusalem im Begriff stand, Ihn zu verwerfen. Wie gesegnet ist Sein Zeugnis! Obwohl der Herr hier also nicht von Jerusalem als der Braut spricht, spricht Er doch von Sich als dem Bräutigam. Er fehlte nicht in Seiner Liebe, wohl sie in ihrer.
Das ist die große Wahrheit, die ich daraus entnehme; und diese Wahrheit ist, um es noch einmal zu sagen, auf das Hohelied gegründet. Das Hohelied hat daher vollste göttliche Legitimation, und das nicht nur aus dem Grunde, weil es sich sozusagen im Herzen der Bibel befindet, noch, weil es stets unbestritten war noch auch, weil es in den allerersten Übersetzungen, die von der Heiligen Schrift gemacht wurden, enthalten ist. Ungleich den Apokryphen kann es nicht in Frage gestellt werden. Lange vor dem Erscheinen Christi wurde jenes Buch in die führenden Sprachen der Nationen übersetzt, so dass hinsichtlich seiner vollen göttlichen Autorität überhaupt kein Zweifel besteht. Zudem war es zu jener Zeit allgemein bekannt, so dass unser Herr Sich auf die Hauptfigur beziehen konnte, die, möchte ich sagen, für das ganze Buch steht; denn das ganze Buch ist der Liebe zwischen dem Bräutigam und der Braut gewidmet.
Natürlich weiß ich, dass Salomo der Schreiber ist. Manche haben ja geglaubt, er sei die Hauptperson. Es braucht unsere Gemüter jedoch nicht zu beschäftigen, was für historische Umstände Veranlassung zu diesem Buch gaben. Was wir erfahren, ist nicht die Gelegenheit, die es entstehen ließ, sondern die Wahrheit Gottes – das, was Gott für die Auferbauung der Heiligen aller Zeiten im Auge hatte und ganz besonders, wenn dieses Buch sich erfüllen wird. Denn ich bin überzeugt, es trägt einen weiteren bedeutenden Stempel göttlicher Wahrheit: die eigentliche Ausrichtung dieses Buches ist zukünftig; es hat sich noch nicht erfüllt.
Die Juden haben es als ein geschichtliches Sinnbild betrachtet – und da gingen sie an den Gedanken Gottes vorbei –, dass es die Liebe Jehovas zu Israel darstelle, als Er sie aus Ägypten führte. Sie wandten das Kommen der Braut und des Bräutigams aus der Wüste ganz natürlich auf Gott an, der Sein Volk aus dem Hause der Knechtschaft führte und im Angesicht der ganzen Welt zu Seinem Eigentumsvolk machte.
Aber das, geliebte Brüder, ist ganz offensichtlich nicht der Weg des Geistes Gottes – ein Buch zu schreiben, und das zu einer solchen Zeit, Vergangenem gewidmet, und dem, was doch gerade in Dunkel, Sünde und Verderben versank. Nein, das Wort Gottes hat als Ganzes und in allen seinen Teilen prophetischen Charakter selbst das 1. Buch Mose; und ich führe gerade das an; denn wenn es etwas gibt, was von Vergangenem spricht, dann doch wohl die Genesis. Aber das 1. Buch Mose konnte nicht schließen und konnte nicht einmal voranschreiten, ohne seine göttliche Sicht zu erweisen, ohne dass der Geist Gottes uns einen Blick in die Zukunft tun ließe.
Das mochte selbstverständlich in der Form eines Vorbildes geschehen; es kann den Charakter der Prophezeiung annehmen; wir finden beides. Ich weise nur darauf hin, um zu zeigen, dass das der Charakter der ganzen Schrift ist. Sie blickt vorwärts auf einen glanzvollen Tag. Sie wurzelt in der Vergangenheit, ohne Zweifel. Sie beschäftigt sich ganz deutlich mit der Gegenwart, aber ihr Ausblick geht stets in die Zukunft. Und das erstaunt uns nicht: Sie beginnt mit dem Verderben des ersten Menschen und blickt hin auf die Herrlichkeit des Zweiten. Das ist das große Ziel und der Charakter der ganzen Schrift.
So ist es auch mit dem „Lied der Lieder“, und da will ich nun kurz auf einige Punkte hinweisen; denn ich möchte es nur ganz allgemein betrachten. Ich behaupte nicht, mit allen Einzelheiten vertraut zu sein. Ich fürchte mich wirklich davor, anmaßend zu sprechen oder in irgendeiner Weise schöne Einzelheiten herauszugreifen, wie es viele tun, die zu der sog. allegorischen Interpretation neigen. Ich wiederhole, dass ich mich auf nichts einlassen möchte, was nicht von Gott ist. Es liegt mir am Herzen, über das zu sprechen, wovon ich weiß und fest glaube, dass es von Gott ist, und ich denke dabei an die großen und tiefen besonderen Kennzeichen dieses wundervollen Buches. Aber ich glaube, dass der Herr genug schenken wird, um den Kindern Gottes zu einer breiteren Schau, zu einem besseren Verständnis zu verhelfen – so dass sie mehr erhalten als bloße Einzelheiten, was ja nie der vorteilhafteste Weg ist, die Schrift zu betrachten. Wir wünschen sie als ganzes zu besitzen. Wenn wir den allgemeinen Plan – den Umriss der Landkarte – haben, können wir daran gehen, uns die Einzelheiten anzusehen. Aber das muss ich anderen überlassen. Ich beschränke mich im Augenblick auf einige Anregungen allgemeiner Art.
Ich habe gezeigt, dass das Hohelied von der irdischen Braut spricht und nicht von der himmlischen. Ich habe euch das vom Wort Gottes her bewiesen. Jetzt aber möchte ich, man kann sagen geistliche oder sittliche Gründe nennen, warum das Hohelied, mag es auch noch so lehrreich und wertvoll für unsere Seelen sein, doch nicht die Beziehung der himmlischen Braut, sondern vielmehr die der irdischen zum Gegenstand hat.
Der große Unterschied zwischen den beiden, den wir stets, wenn wir das Hohelied betrachten, im Auge behalten müssen, ist dieser: wir erscheinen als Braut zwischen dem ersten und dem zweiten Kommen Christi. So wird es nicht bei den Juden sein. Ihnen war offenbart worden, dass sie vor Seinem ersten Kommen die Braut sein sollten. Aber sie erkannten Ihn nicht an, sie verwarfen Ihn, sie verachteten Ihn; und deshalb nahmen sie, als Er wirklich kam, niemals die Stellung der Braut ein. Und der Herr ließ sie in ihrem Schweigen und der Härte ihres Unglaubens. Wenn Er jedoch wiederkommt, wird es nicht so sein.
Daraus folgt, dass es von ihnen aus gesehen einzig und allein eine Sache der Hoffnung ist, diese Beziehung aufzunehmen – es ist ausschließlich eine zukünftige Beziehung. Die Braut hier ist nicht mit dem Bräutigam vereint. Im Lauf der Betrachtung werde ich das aufzeigen und begründen. Dies ist von großer Tragweite; denn viele, die dies außer Acht ließen, haben die Gestalten und Bilder nach meinem Empfinden in sehr niedriger und ungeziemender Weise gedeutet. In seiner Reinheit ist das Lied vollkommen, aber die Reinheit des Liedes ist umso vollkommener, als die Braut noch nicht in ihre wahre Beziehung zum Bräutigam eingetreten ist. Die Sprache dieses Liedes finden wir nie auf die himmlische Braut angewandt.
Wenn wir nun die himmlische Braut betrachten, sehen wir da diesen wichtigen Unterschied, dass wir mit Christus in Verbindung treten nach Seinem ersten Kommen und vor Seinem zweiten. Demzufolge befinden wir uns in der eigentümlichsten Stellung, in der Seelen auf der Erde nur sein können: durch den Heiligen Geist sind wir schon jetzt mit Ihm vereinigt. Die Hochzeit im Himmel hat zwar noch nicht stattgefunden, denn das letzte Glied am Leib Christi fehlt noch. Aber dennoch sind wir Sein Leib. Wir stehen zu Christus in allernächster Beziehung. Wir werden als wirkliche Glieder Seines Leibes gesehen – nicht, dass wir es werden, wir sind es jetzt.
Das trifft auf die Braut hier keineswegs zu. Die Braut im Hohenliede, im Hohenlied Salomos, wartet auf Sein Kommen. Es ist keine Rede davon, dass ER bereits gekommen ist. Auch von so etwas wie Erlösung ist hier nicht die Rede. Wir finden nichts von der Kraft des Heiligen Geistes, die zu einem Leibe tauft, oder irgendetwas anderes, was als Grundlage für die Wahrheit von der Versammlung
Gottes dient. Nichts Derartiges. Wir stehen in einer gegenwärtigen, fest begründeten Beziehung zu Christus; und wir wissen das. Wir wissen auch, dass Seine Liebe uns so vollkommen gehört, dass Er selbst dann, wenn wir im Himmel sind, nicht mehr lieben wird. Der einzige Unterschied wird sein, dass wir uns Seiner Liebe vollkommen erfreuen werden. Aber, ich wiederhole wir sind schon Sein Leib; und Er behandelt uns dementsprechend. Christus liebte die Versammlung und gab Sich Selbst für uns. Und eben dieses Bild wird benutzt, um zu Männer und Frauen über ihre gegenseitigen Beziehungen zu sprechen Es ist daher klar, dass die Versammlung zu dem Herrn Jesus Christus in einer ganz besonderen Beziehung steht, besonders in der Weise, dass diese Beziehung schon jetzt fest besteht und die Versammlung demzufolge schon jetzt in dem Bewusstsein Seiner Liebe lebt, was die jüdische Braut nicht eher tun kann, als bis Er wirklich gekommen ist. Dann wird die Beziehung zwischen dem Bräutigam und der Braut, der irdischen Braut, hergestellt werden, aber nicht vorher.
Wenn wir das nicht sehen, laufen wir Gefahr, dass uns das Hohelied nicht zum Segen ist. Ich will nur auf eines hinweisen: die Herzensübungen, die die Braut durchmacht. Sie hat eine Vision des Bräutigams; aber Er verschwindet. Sie steht nicht auf, um die Tür zu öffnen, und schon ist Er fort. Ist das beim Herrn der Fall? Zieht der Herr Jesus Sich je zurück? Oder kann der Herr Sein Angesicht vor uns verbergen? Nein, niemals. Wir mögen von Ihm weichen, aber darum geht es im Hohenlied nicht. Da zieht Er Sich zurück. Und ich bin überzeugt, dass das in dem Handeln des Herrn mit der Versammlung oder mit dem Heiligen, mit dem Einzelnen, nie der Fall ist. Ganz bestimmt zieht sich der Herr jetzt niemals von einem Heiligen zurück. Und wir sehen wohl, welche Bedeutung dies hat; denn mancher könnte das Hohelied lesen, ohne diesen Unterschied wahrzunehmen, dass während wir viel mit der jüdischen Braut gemeinsam haben, da doch wesentliche Unterschiede sind. Das zeigt sich besonders in dem, was ich eben erwähnte, und es ist klar, dass wir unsere eigene Beziehung falsch sehen würden. Wir würden Gottes unumschränkter Macht etwas zur Last legen (wie die Menschen es in jedem Fall wirklich tun), was nur an unserem eigenen Unglauben liegt. Und so würden wir Ihm die Schuld geben, anstatt uns selbst, die wir allein dafür verantwortlich sind. Denn die Sorglosigkeit der Braut ist hier ohne Zweifel der Anlass.
Im Hohenliede geht es in Wahrheit nicht um das Aufrichten einer solchen Beziehung. Alles lebt aus der Erwartung. Man sieht daraus, welch ein Missverständnis es ist, hier von dem Geheimnis einer Liebesbeziehung reden zu wollen; die war noch gar nicht errichtet. Es geht nicht darum, anderen öffentlich zu zeigen, was zu einem festen Verhältnis gehört. Nein; das Hohelied hat ein äußerst hohes und wertvolles Ziel. Der Herr bereitet die Braut zu im Blick auf ihre Verbindung mit Ihm. Der Herr lässt sie Ihn kennen lernen, da sie doch denken mochte, Er könne sie nicht lieben und liebe sie nicht. Der Herr ist es, der hier in Seiner vollkommenen Gnade mit dem schuldigen Jerusalem handelt. Er gibt ihr zu verstehen, dass Er, der über sie weinte, sie lieben werde, dass Er, der nicht nur Seine Tränen, sondern Sein Blut für sie vergoss (denn Er starb ja für diese Nation, Joh 11,52), dass jener gesegnete Erretter durch Seinen eigenen Geist in ihren Herzen wirken würde, um sie für Seine Liebe passend zu machen, um sie zu bilden und sie durch die Vollkommenheit Seiner Liebe fähig zu machen, Ihn zu lieben. Das ist das große Thema und Ziel des Hohenliedes.
Daher liegt die ganze Schönheit in der Liebe, die Christus (nicht ihr gegenüber) zum Ausdruck bringt, und der Liebe, die Christus in ihrem Herzen bildet, bevor noch die Beziehung errichtet ist. Bei uns liegt die Sache ganz anders. Wir werden als die ärmsten Sünder aufgenommen, wir werden bekehrt; wir werden als Kinder Gottes zu Gott gebracht; und wir erwachen zu dem wunderbaren Bewusstsein, dass wir der Leib Christi sind, Seine Braut und dass wir nun in der denkbar innigsten Beziehung zu dem Herrn Jesus stehen. Überwältigende Gnade! Alles beherrschende Gnade, und sonst nichts. Bei der Braut im Hohenliede ist es nicht so. Sie wusste sehr wohl, dass sie die Braut sein sollte. Von den Propheten und den Psalmen her wusste sie nur zu gut, dass das die Stellung war, die sie eigentlich einnehmen sollte. „Ach, wir haben gesündigt, wir haben Ihn zurückgewiesen, ja verachtet. Waren nicht wir es, die Ihn fortschickten? Wird Er je wieder auf uns blicken?“ Das ist ihre Frage; und diese Frage wird im Hohenlied beantwortet. Der Herr gibt ihnen die Antwort; denn es ist der Herr: es ist ihr Gott Jehova, aber auch ihr eigener Messias.
Und hier muss ich einen besonderen Charakterzug erklären, der nicht immer beachtet wird. Salomo schrieb die Sprüche; Salomo schrieb den Prediger; Salomo schrieb auch das Hohelied. In den Sprüchen verwendet er gewöhnlich das Wort „Jehova“. Ich wüsste nicht, dass der Ausdruck „Gott“ als Gott mehr als einmal im ganzen Buch der Sprüche erscheint (Spr 25,2); man könnte allerdings auch Sprüche 2,5.17; 3,4; 30,5.9 anführen. Auf jeden Fall sehen wir, dass er für jenes Buch nicht charakteristisch ist. Der charakteristische Ausdruck in den Sprüchen ist durchlaufend „Jehova“; und der Grund dafür ist eindeutig. Es ist die Weisheit, die Jehova für ein Volk bereithält, das in einer festen Beziehung zu Ihm steht. Deshalb wird dort stets der Name „Jehova“ verwendet.
Von demselben Schreiber stammt der Prediger; und es ist bemerkenswert, dass „Jehova“ im Prediger nie erscheint. Ich erinnere mich jedenfalls nicht. Es ist nicht das charakteristische Wort. In der Regel finden wir dort „Gott“. Ich will nicht behaupten, dass wir im Prediger nie „Jehova“ finden; auf alle Fälle ist es jedoch nicht kennzeichnend. Und wir müssen daran denken, dass, wie man sagt, die Ausnahme die Regel bestätigt; und solch eine Ausnahme, die die Regel bestätigt, ist immer besonders bedeutsam. Sie stellt eine überraschende Wahrheit erst recht ins Licht, indem man erkennt, wie sie vom Normalfall abweicht.
Dann haben wir noch ein weiteres Buch von Salomo, und da finden wir weder „Jehova“ noch „Gott“. gewiss hat das seinen besonderen Grund, nachdem alles von demselben Schreiber stammt; es ist ja nicht so, dass einiges von ihm inspiriert ist und einiges nicht. Wir lesen von Salomo, dass er, waren es nicht 1 005 Lieder schrieb. Jedenfalls war es eine große Anzahl. Uns sind nicht alle diese Gesänge überliefert worden. Wir haben das Hohelied dieses Buch. Wir sehen also, dass selbst da, wo die Schreiber inspiriert waren, Gott nicht alles, was sie schrieben, auf die Nachwelt kommen ließ, sondern nur das, was für den Plan und den Zweck der Bibel wesentlich war. Alles Übrige mochte völlig wahr und gut sein; aber Gott bewahrte nur das, was Seinem Ziel, das Er mit der Bibel verfolgte, diente. Denn es war ebenso sehr Gottes Absicht, dass die Bibel vollständig sein sollte, wie dass es in ihr nichts Überflüssiges gäbe. Die Bibel ist vollkommen. Und ein Kapitel mehr als für die Absicht Gottes notwendig, hätte die Bibel verdorben. Kein Wort ist zuviel. Auf der anderen Seite ist aber auch kein Wort zu wenig. Nichts ist verloren gegangen; Gott hat genau das aufbewahrt, was notwendig war.
Ihr werdet wohl alle von der Torheit des deutschen Unglaubens gehört haben. Ich spreche, so traurig es ist, von der Untreue der Theologen. Vermutlich wisst ihr auch alle von der Verheerung, die dadurch angerichtet wurde, wie sie mit ihren Gedanken an die Bibel herangehen. Da sie manchmal „Gott“ lesen und dann wieder „Jehova“, folgern sie, dass die Bücher von zwei verschiedenen Menschen geschrieben sein müssten zwei Schreiber unterschiedliche Gegenstände in verschiedenen Jahrhunderten, unterschiedliche Länder, andere Menschen. Hier haben wir die Lösung des Problems: Die Bücher, die ich erwähnte, wurden von ein und derselben Person geschrieben. In dem einen lesen wir von „Jehova“, im anderen von „Gott“, im dritten weder von dem einen noch von dem anderen. Warum? Die Absicht ist völlig klar: Nach dem Titel „Das Lied der Lieder, von Salomo“ heißen die einleitenden Worte: „ER küsse mich“. Ich brauche nicht zu sagen, dass dies so unendlich viel besser ist als irgendetwas, was vorgeschlagen werden könnte. Würde es dasselbe sein, wenn da stände: „Jehova küsse mich“? Jedes erneuerte Herz würde so etwas von sich weisen. Wir empfinden alle: das wäre unpassend. Würde es denn recht sein zu sagen: „Gott küsse mich“? Ganz sicher nicht. „ER küsse mich. . . “ wie schön!
Kapitel 1+2
„Er küsse mich mit den Küssen seines Mundes, denn deine Liebe ist besser als Wein“ (Vers 2). War er nicht Jehova und Gott? Ganz gewiss, aber er ist auch Mensch, er ist ihr eigener Messias. Und so erkennen wir die Schönheit dieser Worte. Das ist umso auffallender, als sie nicht sagt: „Der Messias küsse mich“, sondern etwas viel passenderes, geziemenderes. Für die Liebe gibt es nur einen Gegenstand. Wie sie der Seine, so war Er der ihrige. Darum gerade geht es hier, und sie braucht nicht zu sagen, wer Er ist. Liegt darin nicht die ganze Schönheit? „Er küsse mich“. Es mochte auf der Erde noch so viele geben – für sie war da nur Einer, und das war Der, den sie so beleidigt hatte, abgelehnt, zurückgewiesen und verworfen hatte. „Er küsse mich“. Das ist ihr Empfinden, und ist es nicht überflüssig, zu sagen, wen sie damit meint? Im Himmel und auf Erden wünscht sie nichts als Ihn. „Er küsse mich mit den Küssen seines Mundes“.
Das ist zweifellos ein Ausdruck zärtlichster Liebe, und doch – das ist ja gerade ihr Problem. Konnte sie das nicht wünschen? Sehnlichst begehrte sie es; aber der Gedanke ließ sie nicht los, es verloren zu haben. Sie dachte, es könne nicht sein. Wenn Er doch nur antworten würde! Wie wundervoll aber doch auch wiederum: ja, das Herz von Israel muss sich wenden, und der Herr wartet darauf. Er ist entschlossen, Jerusalem zu segnen, und Er wird es tun. Seine verborgene Gnade wird wirksam sein. Aber sie muss erst das Wort sprechen, wie er (verworfen und sich hier unter Seine Verwerfung beugend) in demselben Evangelium, das ich schon anführte, dem Evangelium nach Matthäus, sagt: „. . . bis ihr sprechet. . . “ (Mt 23,39).
Er ließ das Haus öde und nannte es „euer Haus“. Es ist nicht mehr „das Haus meines Vaters“ (Joh 2,16), noch das Haus Jehovas (Mt 21,13). Indem er vom Tempel spricht, sagt er vielmehr: „. . . euer Haus wird euch öde gelassen“, und Er fügt hinzu: „Ihr werdet mich von jetzt an nicht sehen, bis ihr sprechet: Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn“ (Mt 23,38). Das ist der „Er“; Er ist der Einzige; Er kommt im Namen des Herrn. Aber noch gilt: „. . . bis ihr sprechet . . . “ Was, sie – die Juden, die im Begriff standen, Ihn zu kreuzigen? Genau die. „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun“. Und hier ist die Antwort darauf. Die Gnade ist nicht ohne Wirkung geblieben. Wie lange hatten sie auf Ihn gewartet! Aber nun ist die Zeit gekommen, die festgesetzte Zeit, um Zion zu segnen – Gottes bestimmte Zeit. Und da Seine Diener an ihren Steinen Gefallen finden und selbst der Schutt in ihren Augen kostbar ist (Ps 102), wünscht ihr Herz, dass die Beziehung, die verloren schien, nun gefestigt werde. Wenn sie Ihn doch nur haben könnte! Aber sie hatte Ihn ja abgewiesen. Dies ist nun das einleitende Wort.
Der Wunsch ihres Herzens ist, der Messias möge ihr Seine Liebe zeigen – Er, dem sie so viel Verachtung und Hass entgegengebracht hatte. „. . . denn deine Liebe ist besser als Wein. Lieblich an Geruch sind deine Salben, ein ausgegossenes Salböl ist dein Name“. Hier wird es ganz klar, dass es nicht um Salomo geht noch um irgendeine geschichtliche Tatsache, die zur Entstehung geführt hat. Nur von Einem ist die Rede – niemand als dieser Eine konnte ihr völliges Genüge schenken. Ein größerer als Salomo ist hier. „Ein ausgegossenes Salböl ist dein Name; darum lieben dich die Jungfrauen“, sagt sie. Es kann nichts Heiligeres geben, nichts Reineres, als die Zuneigung derjenigen, die auf diese Weise dem Wunsch ihres Herzens Ausdruck gibt, dass Er ihr doch nur Seine Liebe zeigen möchte. „Darum lieben dich die Jungfrauen“. Wen meint sie mit den „Jungfrauen“? Jene, die durch die Verdorbenheit jener Zeit nicht berührt worden waren. Dieses „Hohelied“ kann nur dem Herz der Gottesfürchtigen in Israel entspringen, denn sie werden das wahre Israel sein. Sie werden die wahre Braut bilden, wenn der Tag kommt, wo sich dies erfüllt, in einer Zeit äußerster Verdorbenheit und ausgesprochenen Abfalls.
Und das ist es gerade, was sie jetzt schätzen gelernt hat. Es wird andere geben, die genau so bezeichnet werden. Wir sehen das in der Offenbarung. Im 14. Kapitel jenes abschließenden Buches z. B (wo wir eine Szene aus den letzten Tagen haben, nachdem die Versammlung, die himmlische Braut also, in den Himmel entrückt ist; denn Gottes Segnungen sind nicht zu Ende). finden wir bestimmte Personen, 144 000 auf dem Berg Zion; und wie werden sie beschrieben? Als solche, die sich nicht befleckt haben, also genau so, wie die Braut sie hier schildert – „. . . darum lieben dich die Jungfrauen“. Es sind jene, die durch den Götzendienst und die Gottlosigkeit jener Zeit nicht verunreinigt waren. Und es ist ihre Freude, dass sie darin nicht allein steht – neben Jerusalem wird es noch andere geben – die Gottesfürchtigen unter den Juden werden an jenem Tage nicht die einzigen sein. Ich zweifle allerdings nicht, dass sie besonders ins Auge fallen werden; und der Herr wird über sie wachen und sie segnen. Einige von ihnen werden sogar sterben. In jener Zeit werden einige von ihnen um der Wahrheit willen ihr Blut vergießen. Aber ganz offensichtlich werden sie Gefährten haben.
Es werden also die Aufrichtigen da sein – jene, die sie „die Jungfrauen“ nennt. Sie beschreibt uns nicht das, was wir jetzt wissen. Wir sprechen nicht in dieser Weise. Es scheint, dass die irdische Braut über die Jungfrauen sprechen kann und über die Aufrechten, die nicht zu ihr gehören. Warum? Weil die himmlische Braut nun alle Frommen auf Erden umfasst. Der Unterschied ist also deutlich. An jenem Tage wird es einen besonderen Gegenstand geben, aber nicht nur einen einzigen. Die himmlische Braut dagegen besteht jetzt aus allen, die des Christus sind. Sie alle bilden einen Leib. Das ist dann durchaus nicht der Fall. Ich erwähne dies besonders, um unsere Herzen für die eigentliche Bedeutung dieses wunderbaren Buches offen zu halten. „Ziehe mich, wir werden dir nachlaufen“. Hier also wiederum: „Ziehe mich, wir werden dir nachlaufen“. Sie ist in keiner Weise eifersüchtig, dass auch andere Gegenstände Seiner Liebe sind. Sie selbst wird ohne Zweifel einen besonderen Platz haben; aber sie freut sich, dass auch andere, die von der Gottlosigkeit der Welt unberührt geblieben sind, in Seinen Augen kostbar sind. Und das werden sie auch sein; aber die Versammlung hätte das nie sagen können. Die Versammlung konnte nicht auf die Juden oder Mohammedaner blicken und von ihnen als den Rechtschaffenen sprechen oder den Jungfrauen, die den Herrn Jesus lieben; denn tatsächlich sind sie auch nicht rechtschaffen und lieben Ihn auch nicht. Die Lage der Dinge ist also völlig anders.
Ich wiederhole, dass, wenn sich dies erfüllt, die Verhältnisse anders sein werden. Dies wird uns zum Verständnis der wahren Bedeutung des Hohenliedes verhelfen. Wir sehen hier eigentlich das Herz der jüdischen Braut, das sich dem Messias-Bräutigam zuwendet, bevor er kommt – ihr Herz in der Zubereitung für Sein Kommen. So ist es ein großer Irrtum, anzunehmen, dass der Jude sich erst bekehrt, wenn Christus in Herrlichkeit erscheint. Nein. An jenem Tag wird sie angenommen werden, wird die bräutliche Beziehung endgültig. Jener Tag ist noch zukünftig, er ist noch nicht da. Wir werden sehen, dass dieser Tag erst noch kommen muss. Die Schatten werden verschwinden; aber im ganzen Hohenlied ist der Tag noch nicht angebrochen; die Schatten sind noch nicht gewichen.
Doch die Zeit kommt. Sie war sich dessen vollkommen bewusst; der Herr macht es ihr bewusst. Er ist es, der es sie wissen lässt. jetzt ist der Tag noch nicht da. Sie bereitet sich für Ihn und für diesen Zeitpunkt. Das ist es, was wir hier finden. „Ziehe mich“, sagt sie dann; „wir werden dir nachlaufen. Der König hat mich in seine Gemächer geführt: wir wollen frohlocken und deiner uns freuen, wollen deine Liebe preisen mehr als Wein! Sie lieben dich in Aufrichtigkeit.“ Sie nimmt vorweg, was sie hofft, aber sie befindet sich noch nicht dort. Ihr Glaubensauge erblickt es; aber wir dürfen keinesfalls vergessen, dass die Hochzeit noch nicht stattgefunden hat. Sie ist ausersehen, Braut zu sein; und an ihrer Ausdrucksweise erkennt man, wie es ihr immer klarer wird, dass sie Braut sein und den Platz der Braut einnehmen wird – mehr und mehr ergreift sie davon Besitz, dass sie wirklich die Braut ist. Noch ist es nicht so weit. Das ist das Thema des Buches – die Braut wird für die Hochzeit zubereitet.
Nun wendet sie sich etwas anderem zu: sich selbst, und da hat sie eine andere Geschichte zu erzählen. „Ich bin schwarz“, sagt sie – das erste Wort, das sie über sich selbst sagt. „Ich bin schwarz, aber anmutig.“ Sie ist dessen eingedenk, was das Gesetz bewirkt hat. Sie leugnet nicht den Fluch des Gesetzes; ihr erstes Wort gilt ihrer eigenen Schande. Sie erkennt damit an, wie wenig sie dem Einen ähnlich ist, den sie begehrt. Er ist ganz und gar schön; sie jedoch ist schwarz, wenn sie auch hinzufügen kann „anmutig“. Das bedeutet, dass sie zugibt, durch und durch der Gnade zu bedürfen. Sie erkennt an, völlig von der Gnade des Herrn abhängig zu sein; und das schafft eine Verbindung zu der Sprache der Psalmen. Zwei Dinge sind es, die die Frommen in Israel kennzeichnen und die wir in den Psalmen finden. Das erste ist das Bewusstsein, Gnade nötig zu haben; das andere das tiefe Verlangen nach Gerechtigkeit, der wirklichen Lauterkeit des Herzens. Aus dieser Aufrichtigkeit heraus verlassen sie sich ganz auf Sein Erbarmen. Das findet man beständig. Gnade und Rechtschaffenheit gehen stets Hand in Hand; Israels erstes Wort jedoch ist Gnade. Gottes erstes Wort im Blick auf sie, wenn ich so sagen darf, ist ihre Lauterkeit, ihres jedoch Seine Gnade. Und das haben wir hier. Sie beschreibt sich selbst als „schwarz“. Sie gibt es zu. Es ist wirkliche Lauterkeit des Herzens; aber im Vertrauen auf Seine Gnade kann sie doch sagen: „Ich bin schwarz, aber anmutig.“
Wenn wir den 25. und 26. Psalm nehmen, finden wir genau das gleiche. In Psalm 25 bekennen die Frommen jener Tage ihre Sünden; und wie heißt das große Wort, das sie über sich selber sagen? „Um deines Namens willen, Jehova, wirst du ja vergeben meine Ungerechtigkeit“, warum? „denn sie ist groß“ (Vers 11). Wie wunderbar, das zu Gott zu sagen. Zu Menschen konnten sie so nicht sprechen. Wenn ein Angeklagter den Richter, der ihn verhört, bitten würde, ihm seine Ungerechtigkeit zu vergeben, weil sie groß sei, dann wäre gewiss der ganze Gerichtshof starr vor Staunen über die Vermessenheit dieses Mannes. Aber was vor der Welt und den Menschen als Anmaßung erscheint, ist nichts anderes als Vertrauen und Glauben. Und das ist genau das, was Gott in einer wiedergeborenen Seele bewirkt: Lauterkeit des Herzens, indem sie ihre Sünden anerkennt und bekennt. Das bedeutet dann nicht nur ein Gereinigtwerden von Sünden, sondern auch von aller Ungerechtigkeit. Denn das ist etwas anderes. Es ist ganz klar ein Werk, das in der Seele geschieht. Alle Schuld wird von ihr weggenommen. Da ist kein Verbergen von Sünde, sondern Lauterkeit, aber eine Lauterkeit, hervorgerufen durch das Vertrauen auf Gottes Gnade.
Und was hatte im 25. Psalm Vertrauen in diese Gnade geweckt? Was war denn vorangegangen? Der 22. Psalm. Es gibt eine Ordnung in diesen Dingen. Wir dürfen nicht glauben, die Psalmen seien einfach so an ihre Stelle gepurzelt. Gott hat ihnen ebenso gut ihren Platz gegeben, wie sie durch Ihn inspiriert sind. Sie mögen in noch so ferner Zeit geschrieben worden sein, und ich glaube ganz und gar nicht, dass sie in der Reihenfolge geschrieben wurden, in der sie jetzt vorliegen. Sie sind in ebenso göttlicher Weise angeordnet, wie die Worte göttlich sind, aus denen sie bestehen. Man kann nicht die Stellung eines einzigen Psalms ändern, ohne zugleich die Wahrheit zu zerstören. Es würde sein, als ob man ein Blatt von einer überaus schönen Pflanze risse, so dass für jeden, der eine Vorstellung von der eigentlichen Gestalt der Pflanze hat oder davon, wie sie nach Gottes Gedanken sein sollte, eine empfindliche Lücke zurückbliebe.
Nun, das sehen wir hier. Die Gnade Gottes, die Christus gab, damit er am Kreuz litt, öffnet ihnen das Herz, so dass sie ihre Sünden bekennen; und sie können sagen. „Um deines Namens willen, Jehova, wirst du ja vergeben meine Ungerechtigkeit; denn sie ist groß“ (Ps 25,11). Ja, das ist wirklich der Grund. Weil die Ungerechtigkeit so groß ist, ist solch ein Opfer notwendig; und im Blick auf solch ein Opfer kann man nicht um Nachsicht bitten, weil die Sünde gering war, sondern im Gegenteil um Vergebung, weil sie so groß war. Im 26. Psalm dann stellt derselbe Geist Christi, der dazu bringt, die Sünde zu bekennen, sich auf den Boden absoluter Lauterkeit. „Ich habe die Versammlung der Übeltäter gehasst, und bei Gesetzlosen saß ich nicht. Ich wasche in Unschuld mein Hände und umgehe deinen Altar, Jehova“ (Verse 5 und 6). Diese Dinge gehören zusammen.
Sie war also „schwarz, aber anmutig“. Ich zweifle jedoch nicht, dass die Schwärze sich auch noch auf etwas anderes bezieht, dass es nicht nur die Schwärze des Versagens, des Zukurzkommens, der Sünde ist, sondern auch die Schwärze des Leidens. Der Herr jedenfalls wird es so empfinden. An jenem Tage wird der Herr sagen: „Von der Hand Jehovas hat sie Zwiefältiges empfangen für alle ihre Sünden“ (Jes 40,2). Sie hat zu viel gelitten. Ich gestatte nicht, dass sie noch länger leidet. Sie hat doppelt so viel gelitten, wie sie hätte leiden sollen.
Der Herr wird Sich an jenem Tage des Rechtsfalles des armen, schuldigen Jerusalem annehmen und wird nicht zulassen, dass sie weiterhin leidet. Ob es nun ihr eigener Fehler war oder die grausame Verfolgung, die sie als gerechte Strafe für ihre Sünden erduldete – sie bekennt, dass dies ihr Zustand sei: schwarz, aber durch die Gnade anmutig. „Ich bin schwarz, aber anmutig, Töchter Jerusalems, wie die Zelte Kedars“, was wohl ein Bild des ersteren ist, während die „Zeltbehänge Salomos“ in all ihrer Schönheit für das zweite stehen. „Sehet mich nicht an, weil ich schwärzlich bin, weil die Sonne mich verbrannt hat“. Und das bestätigt doch, wie mir scheint, den Gedanken, dass die sengende Hitze der Heimsuchung mit zu ihrer Schwärze beigetragen hat. „Meiner Mutter Söhne zürnten mir, bestellten mich zur Hüterin der Weinberge; meinen eigenen Weinberg habe ich nicht gehütet“.
Jerusalem hatte hochfliegende Gedanken. Die Juden sollten tatsächlich Führer der Blinden und Lehrer der Unwissenden sein. Sie hätten ein Zeugnis sein sollen, aber sie waren es nicht. Sie hätten ein Zeugnis Gottes sein sollen für jede Nation, jeden Stamm, jede Sprache. Aber ach, weit davon entfernt, ihren Auftrag gegenüber aller Welt zu erfüllen und ein Segen für jedes Volk unter der Sonne zu sein, wie ja zu Abraham gesagt worden war, dass in ihm alle Geschlechter der Erde gesegnet werden sollten (1. Mose 12,3), hatten sie nicht einmal ihren eigenen Weinberg gehütet. Sie bewahrten nicht einmal ihre eigenen Segnungen; und noch viel weniger waren sie ein Licht für alle Welt.
Das ist es, denke ich, was sie jetzt einsieht. „Sage mir an, du“ ihr Herz wendet sich jetzt, nachdem sie zu den Töchtern Jerusalems gesprochen hat, dem Gegenstand ihrer Liebe zu. „Sage mir an, du, den meine Seele liebt“ denn das ist das Große, was sich jetzt zeigt „du, den meine Seele liebt“. Wirklich, sie liebt den Messias, und der Geist Gottes legt ihr diese Worte in den Mund; und sie wird sie an jenem Tage aufgreifen. Sie wird sie zu ihren eigenen machen. Diese Zuneigungen werden tatsächlich in ihr gewirkt werden. Wie gnädig von dem Herrn! Nicht ihre Werke sind entscheidend, sondern ihr Glaube. Es ist von ihr keine Anmaßung; Seine Gnade ist es, die sie diese so zu Herzen gehenden Worte sagen lässt. Hosea 2,14 bezieht sich wohl etwa auf die gleiche Zeit. So wendet sie sich an Ihn. „Sage mir an, du, den meine Seele liebt, wo weidest du,“ sie möchte Ihn gern finden „wo lässt du lagern am Mittag? denn warum sollte ich wie eine Verschleierte sein bei den Herden deiner Genossen“? So wie sie dieses Verhältnis zu Ihm ersehnte und auch, dass Er Seine Liebe zu ihr zeigen möge, so wünscht sie sich auch einem solchen Verhältnis gemäß zu benehmen. Lange Zeit war sie unter den Nationen umhergeirrt. Götzenbildern war sie nachgegangen, hatte anderen Göttern nachgehurt, wie die Propheten es so ernst und streng, aber wahrheitsgetreu beschreiben. Nun schlug ihr Herz für ihn allein – für Ihn, den ihre Seele liebte.
Und dann folgt die Antwort. „Wenn du es nicht weißt, du Schönste unter den Frauen, so geh hinaus, den Spuren der Herde nach“. Das war das Richtige. Es ging jetzt darum, den Wegen des Wortes Gottes zu folgen: „geh hinaus, den Spuren der Herde nach“ – jenen, die den Weg vorangegangen waren, den Schafen Jehovas. „. . . und weide deine Zicklein bei den Wohnungen der Hirten“. Halte das Zeugnis des Wortes Gottes fest, das, was Gott in Seinem Wort gab – folge jenen, die Gott hier auf Erden als Hirten Seiner Herde erweckt hat. Bevor sie also weiß, dass Sein Herz sich ihr zugewandt hat, wird sie darauf hingewiesen, sich an Sein Wort zu klammern bevor sie Seine Liebe erfährt. Aber die Antwort kommt von Ihm Selbst. Sie richtet sich danach, zweifellos. Das wird vorausgesetzt. Sie ist jetzt dem Wort unterworfen; und dies wunderbar ermutigende Wort sagt ihr der Bräutigam. „Einem Rosse an des Pharaos Prachtwagen vergleiche ich dich, meine Freundin. Anmutig sind deine Wangen in den Kettchen, dein Hals in den Schnüren.
Wir wollen dir goldene Kettchen machen mit Punkten von Silber“. Dies scheint mir das erste Wort des Bräutigams zu sein; aber es reicht noch nicht an das heran, was er ihr sagen möchte. Aber sie versteht, und die Antwort ihres Herzens lässt nicht auf sich warten. „Während der König an seiner Tafel war“ – wir sehen, sie nennt Ihn bei Seinem richtigen Namen. Sie spricht von Ihm als dem König. Sie kennt den Charakter ihrer Beziehung zu Ihm. Stehen auch wir so zu Christus? Sprechen wir jetzt von dem König? Ich habe schon gehört, dass man Ihm diesen Namen gab. Ich glaube, dass diese Gewohnheit noch nicht abgeschafft ist, selbst nicht unter Christen, von dem Herrn Jesus als unserem König zu sprechen. Wir pflegten zu singen – und vermutlich sahen wir damals darin nichts Verkehrtes: „Unser König, Priester und Prophet“.
So spricht die Schrift nicht von Ihm. Nie nennt sie Ihn unseren König – nicht einmal in der Offenbarung, wo es vielleicht so aussehen könnte. Da sollte es statt „König der Heiligen“ besser „König der Nationen“ heißen (Off 15,3). Darüber besteht kein Zweifel. Aber hier spricht sie von Ihm nicht als dem König der Nationen, sondern sagt „der König“. In welcher Weise blickt sie auf Ihn? Er ist für sie der König des Volkes Gottes, der König Israels. Das steht offenbar vor ihrem inneren Auge. „Während der König an seiner Tafel war“ – er ist noch nicht da – „gab meine Narde ihren Duft“. Sie wusste, dass der Herr in ihrer Seele gewirkt hatte, und sie weist es nicht von sich. Sie kann mit gutem Gewissen so sprechen und mit einem Herzen voller Vertrauen darauf, dass die göttliche Gnade Frucht in ihr gewirkt hatte.
Nun spricht sie von dem, was er ihr bedeutete. „Mein Geliebter ist mir ein Bündel Myrrhe, das zwischen meinen Brüsten ruht“. Dies ist nur ein Ausdruck ihrer Zuneigung – nichts, was man als ungeziemend ansehen könnte, wenn es sich nur um eine tatsächlich bestehende Beziehung handelte. Die Beziehung ist noch nicht errichtet. Noch ist es nicht so weit. Aber sie gibt ihrer vollkommenen Freude an einem, der sie liebt, Ausdruck. „Eine Zypertraube ist mir mein Geliebter, in den Weinbergen von Engedi“.
Beachten wir, wie dieser Ausdruck der Liebe zu Ihm den Herrn zu einer Antwort drängt! „Siehe, du bist schön, meine Freundin“! Es ist nicht so, dass Er nun gekommen ist; tatsächlich ist Er noch nicht gekommen. Aber Gott sorgt dafür, dass ebenso wie ihr Herz diese Worte aufnimmt und seine Zuneigung zum Messias ausspricht, sie erfährt, wie Er sie liebt. Was sagt er über sie? Welche Gnade! Nicht: „Ich liebe dich“, sondern: „Siehe, du bist schön, meine Freundin“. So sieht das Auge der Liebe sie, mag vielleicht auch kein anderes Auge in der Welt das in ihr sehen. Ich glaube, dass zu jener Zeit der Überrest sehr gottesfürchtig sein wird und dass sie auch wirklich leiden – leiden um ihres Glaubens willen. Aber dies ist Seine Sprache, und wie gesegnet ist sie! Wie anders würden die Worte klingen, wenn sie nicht von Ihm kämen! „Siehe, du bist schön, meine Freundin, siehe, du bist schön, deine Augen sind Tauben“ gewiss ein Bild der Bescheidenheit von der, die nun bald Seine Braut sein sollte. Und ihre Antwort ist: „Siehe, du bist schön, mein Geliebter, ja, holdselig; ja, unser Lager ist frisches Grün. Die Balken unserer Behausung sind Zedern, unser Getäfel Zypressen“. Es ist also nicht nur ein Zelt, das man wieder abbrechen kann. Sie blickt nach einer festen Behausung aus, wenn der König kommt und sie als die Seine erkennt. Sie wartet auf den Augenblick, wo alles in jener gefestigten Beziehung zu Ihm steht und hier auf Erden alles zu Gottes Ehre dient.
Bevor ich schließe, will ich nur noch ein paar Worte zum nächsten Kapitel sagen. „Ich bin eine Rose“ oder wahrscheinlicher Narzisse, nicht direkt Rose. Die Rose erscheint in der Schrift nur an zwei Stellen, und, obwohl manche das als Schock empfinden werden, nehme ich an, dass beide Male hier und in Jesaja 35,1: „Die Steppe wird . . . aufblühen wie eine Rose“ wohl eher eine Narzisse gemeint ist. Wie dem auch sei, die Frage hat keine große Bedeutung. Aber ich halte Narzisse für passender, zumal die Braut selbst hier spricht. Wie wir wissen, überragt die Rose alle anderen Blumen an Schönheit und Wohlgeruch, und ich kann mir nicht denken, dass sie solch eine Sprache wählen wollte. Ich könnte wohl verstehen, wenn Er sie so nennen würde.
Die Narzisse ist in keiner Weise der Rose vergleichbar, und gewiss wird die Braut nicht mehr scheinen wollen, als sie ist. So spricht sie von sich selber als einer Narzisse Sarons, einer Lilie der Täler. Sie nimmt einen bescheidenen Platz ein; jedenfalls ist es kein auffallender. Bald wird sie in eine glanzvolle Stellung erhoben werden. Bis jetzt war sie lediglich eine Lilie der Täler. Ich denke, dass auch dies den Gedanken bestätigt, dass hier nicht eine „Rose“ Sarons gemeint ist eine sehr ins Auge fallende Blume sondern eine von zurückgezogenem Charakter.
Dann folgt Seine Antwort: „Wie eine Lilie inmitten der Dornen“ Er greift ihr Wort über die Lilie auf „eine Lilie inmitten der Dornen“ damit vergleicht er die anderen. Sie ist umgeben von dem, was Ihm feindlich gegenübersteht und Ihn hasst, was, wenn Er kommt, dem Feuer übergeben wird. Wie eine Lilie inmitten der Dornen, so ist meine Freundin inmitten der Töchter“. Das ist die Antwort des Bräutigams, und so fährt sie fort: „Wie ein Apfelbaum (bzw. Zitronenbaum) unter den Bäumen des Waldes, so ist mein Geliebter inmitten der Söhne; ich habe mich mit Wonne in seinen Schatten gesetzt, und seine Frucht ist meinem Gaumen süß. Er hat mich in das Haus des Weines geführt, und sein Panier über mir ist die Liebe. Stärket mich mit Traubenkuchen, erquicket mich mit Äpfeln, denn ich bin krank vor Liebe! – Seine Linke ist unter meinem Haupte, und seine Rechte umfasst mich“. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Er gekommen war. Es ist die Liebe und die Gnade, die Er ihr erzeigt hat – so empfindet sie Seine Liebe zu ihr schon jetzt, obwohl sie wünschte, dass alles schon Seinem Wort gemäß eingetroffen wäre.
Und nun erscheint ein wichtiger Hauptgedanke für das Verständnis des Hohenliedes. „Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems, bei den Gazellen oder bei den Hindinnen des Feldes, dass ihr nicht wecket noch aufwecket die Liebe, bis es ihr gefällt“! Dies lesen wir im Hohenlied mehrere Male, und ich denke, das ist die vollkommene Antwort für jene, die meinen, es sei nichts als eine Reihe kleiner Lieder, die ohne irgendeine Ordnung aneinandergereiht wurden. So ist es nämlich nicht. Wir finden eine vollkommene Ordnung, und nicht nur einen inneren Zusammenhang, sondern sogar ein Vorwärtsschreiten.
Wir werden sehen, dass diese Ermahnung dreimal gegeben wird (dann ist da noch eine ähnliche Stelle, die man als vierte ansehen könnte, die aber doch etwas anders ist). Sie erscheint hier im zweiten Kapitel, dann im 3. Kapitel und wieder im 5.; von daher ist es also klar, dass hier eine bestimmte Ordnung herrscht. Und es bestätigt auch eine andere Sache, die ich schon erwähnte: dass der Herr hier als noch nicht mit ihr vermählt gesehen wird. Es geht hier um den Bräutigam und die erwählte Braut. Der Ausdruck „Braut“ wird natürlich verwendet; aber wir dürfen nicht glauben, dass die Hochzeit schon stattgefunden habe.
Die Braut wartet vielmehr darauf, dass sie in ihr endgültiges Verhältnis zum Bräutigam eingeführt wird. Sie hat das Bewusstsein, dass der Herr voller Gnade auf sie blickt; ihr Herz sehnt sich natürlich danach. „Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems, bei den Gazellen oder bei den Hindinnen des Feldes“ sie nennt gerade diese, denke ich, weil das wohl die geräuschempfindlichsten Tiere sind; im Nu sind sie aufgeschreckt. Sie wünscht, dass nichts Ihn stören möge, dass Er in jener Liebe ruhen möge, die Er ihr zugedacht hat. Denn es ist ein wunderbarer Gedanke, dass der Herr in Seiner Liebe zu Jerusalem ruhen will. Ich beziehe mich auf das letzte Kapitel von Zephanja, und meine Absicht dabei ist, die verborgenen Verbindungen aufzuzeigen, die zwischen dem Hohenlied und dem übrigen Wort Gottes bestehen. Ich habe auf die Psalmen hingewiesen; hier möchte ich die Propheten anführen. Der Heilige Geist hat nur eine Absicht. Er soll in Seiner Liebe ruhen; und wem gegenüber gebraucht Er jenen Ausdruck? Sind wir es? Nein, Jerusalem. Das finden wir ganz klar in Zephanja 3.
Was folgt? „Horch, mein Geliebter! siehe, da kommt er“ – aber er ist noch nicht da; Er ist auf dem Wege. Und sie weiß das. „Siehe, da kommt er“. Berge und Hügel mögen zwischen ihnen liegen, aber was bedeutet das für Ihn? Mein Geliebter gleicht einer Gazelle oder einem Jungen der Hirsche“. Daher machen Ihm die Schwierigkeiten nichts aus. „Siehe, da steht er hinter unserer Mauer, schaut durch die Fenster, blickt durch die Gitter“. Ihr Herz ist es wohl, das hier Sein Kommen schon vorwegnimmt, so dass sie sogar Seine Stimme hört. Sie sagt nicht nur: „Die Stimme meines Geliebten“, sondern „Mein Geliebter hob an und sprach zu mir: Mache dich auf, meine Freundin“ das sollte ihr Herz mit Vertrauen in Seine Liebe füllen „Mache dich auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm! Denn siehe, der Winter ist vorbei“ – der lange Winter für Israel „der Regen ist vorüber, er ist dahin. Die Blumen erscheinen im Lande, die Zeit des Gesanges ist gekommen, und die Stimme der Turteltaube lässt sich hören in unserem Lande. Der Feigenbaum rötet seine Feigen“ hier finden wir das Gleichnis vom Feigenbaum, auf das sich der Herr in Matthäus 24 bezieht „und die Weinstöcke sind in der Blüte, geben Duft. Mache dich auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm“!
Dann bittet er sie, Ihn ihre Stimme hören zu lassen. Das war Sein Gedanke über sie und Sein Wunsch, dass sie Seine Liebe zu ihr kennen möge. „Lass mich deine Stimme hören; denn deine Stimme ist süß und deine Gestalt anmutig“. Auch Er wünscht, dass das, was hindern könnte, entfernt wird. Er wünscht in Seinem Garten Frucht zu sehen; denn wenn Er zu den Seinen kommt, tritt Er nicht nur die Herrschaft über Sein Volk an, sondern der ganze Schauplatz ist Sein. Und Er sieht darauf, dass doch bald alles passend und würdig für Sein Kommen ist. So mahnt er: „Fanget uns die Füchse, die kleinen Füchse, welche die Weinberge verderben; denn unsere Weinberge sind in der Blüte“!
Und nun erscheint ein anderes Schlüsselwort des Hohenliedes. „Mein Geliebter ist mein“. Das ist ihre Antwort. „Mein Geliebter ist mein“. Das ist der erste Gedanke. Sie nimmt Ihn so recht in ihre Seele auf. Es ist noch nicht die Hochzeit. Aber sie hört Seine Stimme, und er hat sie getröstet und ihr Vertrauen in Seine Liebe geschenkt. „Mein Geliebter ist mein“, sagt sie, „und ich bin Sein“. Sie denkt sich völlig hinein, und ihre Seele wird dadurch für die Hochzeit zubereitet. „Mein Geliebter ist mein, und ich bin sein, der unter den Lilien weidet“. Es ist nicht so, ich wiederhole es, dass er Seinen Platz auf dem Thron schon eingenommen hätte. Er weidet unter den Lilien. „Bis der Tag sich kühlt“. Das ist noch nicht der strahlende Tag; der Tag ist noch nicht da. Es ist noch nicht „die Sonne der Gerechtigkeit . . . mit Heilung in ihren Flügeln“; das steht noch aus. „Bis der Tag sich kühlt“, sagt sie, „und die Schatten fliehen, wende dich, sei, mein Geliebter, gleich einer Gazelle oder einem Jungen der Hirsche auf den zerklüfteten Bergen“! Aber hier möchte ich zunächst abbrechen. So der Herr will, werde ich den Faden wieder aufnehmen und auf alle Fälle einen allgemeinen Überblick über dieses wunderbare kleine Buch des Wortes Gottes geben.