Behandelter Abschnitt Hld 4,1
„Siehe, du bist schön, meine Freundin, siehe, du bist schön: Deine Augen sind Tauben hinter deinem Schleier. Dein Haar ist wie eine Herde Ziegen, die an den Abhängen des Gebirges Gilead lagern“ (Hld 4,1).
Als die blutflüssige Frau den Saum des Gewandes Jesu anrührte, strömte die Kraft, die in Ihm war, auf sie über (Mk 5). Der Finger des Glaubens berührte nicht nur das Kleid des Heilandes, sondern auch die geheimen Quellen Seines Herzens, die nur der Glaube zu erreichen vermag. Alle die Reichtümer dieses Herzens wurden dem Glauben erschlossen. Ihre Not wurde „alsbald“ und vollkommen gestillt. Der Quell ihres Blutes vertrocknete, und die Krankheit wich. „Sie merkte am Leib, dass sie von der Plage geheilt war.“ Dennoch kannte ihre Seele noch keinen Frieden, noch keine Ruhe, von Freude gar nicht zu reden. Sie fiel Jesus zu Füßen „voll Furcht und Zittern“.
Wie ist es möglich, fragen wir vielleicht, dass die wunderbare Kraft des hochgelobten Herrn von einem Gläubigen erfahren werden kann, ohne dass er Frieden besitzt? Es war so bei jener Frau, obwohl ihr Glaube groß war, und es ist heute so bei Tausenden der Erlösten des Herrn. Aber wie ist das möglich? Die Geschichte der Frau gibt uns, wie mir scheint, eine klare Antwort auf diese Frage. Obgleich sie alles empfangen hatte, was sie in ihrer Not brauchte, waren ihr doch die Gedanken Seines Herzens noch fremd geblieben. Und um ihr vollen Frieden in Seiner Gegenwart zu geben, musste der Herr ihr noch Sein Herz der Liebe offenbaren. Was ihr Not tat, war zu erfahren, was Er über sie dachte. Und das ist, was jeder Sünder braucht, um völlig glücklich zu sein. Das erste Anrühren des Glaubens sichert der Seele alles, was Er ist und was Er zu geben hat; aber volle Ruhe findet sie erst dann, wenn sie das Herz kennen lernt, das alles aufgab, um uns zu besitzen. Erst dann ruht sie glücklich und friedevoll in Seiner Liebe. O welch eine Gnade, Seine Gedanken über uns zu kennen, Seine Liebe zu uns zu genießen.
Doch siehe, mein Leser, wie diese Liebe sich jener armen Frau zuwendet. „Und er blickte umher, um die zu sehen, die dies getan hatte.“ Welch eine Liebe drückt sich in diesen Worten aus! Das Herz des Heilandes frohlockt; Er hat den Preis gewonnen! Die Werke Satans sind zerstört, Gott ist verherrlicht; die Gnade strahlt in ihrem himmlischen Glanz, und der Glaube triumphiert. Doch Sein Auge muss sie sehen, muss auf ihr ruhen. „Wer ist es, der dies getan hat?“ fragt Er. Mit welch einer Teilnahme ruht Sein Blick auf der zitternden Frau. Und dann offenbart Er ihr Sein Herz und füllt ihre Seele mit dem Frieden und der Freude Seines Heils. „Tochter“ – zärtlicher Ausdruck der Liebe und des nahen, innigen Verhältnisses – „dein Glaube hat dich geheilt; geh hin in Frieden und sei gesund von deiner Plage.“
Diese Gedanken drängen sich dem Schreiber unwillkürlich auf bei dem Sinnen über die ersten sieben Verse unseres Kapitels. Der Geliebte offenbart hier Seiner Geliebten in bemerkenswerter Weise Seine Gedanken über sie, über ihre fleckenlose Schönheit in Seinen Augen. Er sitzt gleichsam da und betrachtet mit inniger Freude jeden Zug Seiner lieblichen Braut; und dann redet Er zu ihr von Seiner sie bewundernden Liebe. „Du hast mir das Herz geraubt, meine Schwester, meine Braut.“ Ein solches Lob von menschlichen Lippen würde höchst verderblich sein; wenn es aber von Seinen Lippen kommt, vertieft es nur unsere Demut und macht uns Ihm ähnlicher. Es füllt die Seele mit einer stillen und friedevollen Freude, verbindet uns inniger mit Ihm und verwandelt uns mehr in Sein Bild.
Nachdem Er der Braut in allgemeinen Ausdrücken versichert hat, dass sie „schön“ sei in Seinen Augen, zählt Er sieben verschiedene Eigenschaften auf, die Er mit Freuden betrachtet hat; und da jede einzelne Eigenschaft in sich selbst vollkommen ist, so erblickt Er in ihr die Vereinigung von Vollkommenheit und Schönheit: „Ganz schön bist du, meine Freundin, und kein Makel ist an dir“ (Hld 4,7). Die Genauigkeit, mit der der Herr sie betrachtet, beweist das unendliche Interesse, das Er an ihr nimmt. Die Zahl sieben erweckt zugleich den Gedanken an Fülle und Vollendung. Und dürfen wir uns darüber wundern? Der Gläubige ist in jeder Beziehung vollkommen in Christus, lieblich in Seiner Lieblichkeit. Christus hat alles, was von uns war, hinweg getan und uns alles gegeben, was von Ihm ist. Deshalb heißt es in Epheser 4 von uns: „ihr habt abgelegt den alten Menschen . . . und angezogen den neuen Menschen, der nach Gott geschaffen ist in wahrhaftiger Gerechtigkeit und Heiligkeit“ (Eph 4,22-24). – Doch werfen wir jetzt einen kurzen Blick auf die einzelnen Eigenschaften der Braut.
„Deine Augen sind Tauben hinter deinem Schleier.“ Die Taube war nach dem Gesetz ein reines Tier. Sie allein durfte von allem gefiederten Gevögel, auf dem Altar Gottes geopfert werden. Sie ist ein bekanntes Bild der Demut, der Reinheit und Harmlosigkeit. „Deine Augen sind Tauben.“ Das Auge wird oft in der Schrift zur Bezeichnung des geistlichen Lichts und Verständnisses gebraucht. „Wenn nun dein Auge einfältig ist, so wird dein ganzer Leib licht sein“ (Mt 6,22). Zugleich ist das Auge der Taube sehr scharf. Sie entdeckt ihren Schlag schon aus weitester Ferne. Wird sie fern von ihrer Heimat freigelassen, so steigt sie in die Luft empor, höher und höher, bis sie endlich kaum noch sichtbar ist; sie hält Umschau, und dann fliegt sie plötzlich geradeswegs und eiligst heimwärts.
O möchte auch unser Geistesauge ebenso scharf sein, damit wir, nachdem wir einmal den auferstandenen Herrn erschaut haben, alles, was dahinten ist, vergessen und uns ausstrecken nach dem, was vor uns liegt! Unser Ziel ist Christus in der Herrlichkeit droben; aber dieses Ziel muss geschaut werden, ehe man ihm zustreben kann. Der Apostel konnte sagen: „Eines aber tue ich: Vergessend was dahinten, und mich ausstreckend nach dem, was vorn ist, jage ich, das Ziel anschauend, hin zu dem Kampfpreis der Berufung Gottes nach oben in Christus Jesus“ (Phil 3). Können wir dasselbe sagen? Ist es wahr auch von uns? Wonach jagen wir? was ist unser Ziel? Der Herr gebe uns Gnade, diese Fragen mit Aufrichtigkeit zu beantworten.
„Dein Haar ist wie eine Herde Ziegen, die an den Abhängen des Gebirges Gilead lagern.“ Der Geliebte denkt bei diesem Vergleich vielleicht an das lange, glänzende Haar der Ziegen des Morgenlandes. Zugleich erscheinen diese dem beobachtenden Blick als eine Herde, eine gesammelte Schar, die auf den fetten Weiden des Gebirges Gilead lagert. Eine jede hat Überfluss, und sie alle zusammen bilden eine Herde. – Der Apostel Paulus sagt uns auch, dass das lange Haar der Schmuck der Frau sei; es ist ihr als ein Schleier gegeben (1Kor 11,15).
Könnte nicht ferner in den Worten des Geliebten ein Hinweis liegen auf das lange Haar des Nasiräers, das ein Bild der geistlichen Kraft war? Simsons große Stärke lag in seinen sieben Locken; sie waren das Symbol seines ungebrochenen Gelübdes, seiner Weihung für Gott. Jeder Gläubige ist seiner Stellung nach ein Nasiräer, und er sollte es auch in seinem praktischen Verhalten sein. Seine Kraft liegt in der Absonderung von allem, was die Natur zu nähren und zu erregen vermag. Solange Simsons Locken ungeschoren blieben, konnte der Feind ihn nicht bezwingen. Solange er das Geheimnis seiner Gemeinschaft mit Gott bewahrte, blieb der Geist in Kraft bei ihm. Aber wie schwer wird es einem Nasiräer, seine Locken in dem Schoß einer Delila zu bewahren. – Ach, dass die Finger einer Hure jemals die Locken eines Nasiräers Gottes berühren sollten! Lasst uns deshalb mit ernster Wachsamkeit und in stetem Gebet suchen, in Absonderung von der Welt, in Gemeinschaft mit Christus und in der Kraft des Geistes zu wandeln, damit wir niemals in Gefahr kommen, unser Gelübde zu brechen und das Geheimnis unserer Gemeinschaft zu verraten!