Der Hirte und die Schafe
Der Dienst des Herrn in Israel hatte eine zweifache Wirkung: Erstens stellte er das Volk auf die Probe, indem er dessen moralischen Zustand als Feind Gottes und dessen geistige Blindheit aufzeigte; zweitens brachte der Dienst des Herrn einen gottesfürchtigen und frommen Teil des Volkes ans Licht – „seine eigenen Schafe“ (Joh 10,3) –, den Er mit sich selbst verbunden hat und die von der schuldigen Nation öffentlich abgesondert sind.
Die erste Wirkung des Dienstes Jesu wurde in den vorhergehenden Kapiteln entfaltet. Im 5. Kapitel wird die Herrlichkeit seiner Person als Sohn Gottes vor den Juden verkündigt. Im 6. Kapitel werden seine Menschwerdung und sein Tod als das, was allein der Not und der Bedürftigkeit der Welt begegnen kann, aufgezeigt. Im 7. Kapitel nimmt der Dienst die zukünftige Stellung des Herrn als Mensch in der Herrlichkeit vorweg sowie das Herabkommen des Heiligen Geistes, was folgen würde. Im 8. und 9. Kapitel erfahren wir, wie das Volk durch die völlige Zurückweisung dieser Botschaften sein Gericht besiegelt. Sie weisen beides zurück: das Zeugnis seiner Rede (Joh 8) und das Zeugnis seiner Taten. Weil sie in ihrer Verantwortung völlig versagt haben, wird das Volk in seiner Blindheit gelassen, damit sie dem Gericht übergeben würden. Das Versagen des Menschen in seiner Verantwortung ist für Gott die Gelegenheit, seine Souveränität zu enthüllen, die trotz aller Sünden und Fehler des Menschen zum Segen der Menschen arbeitet und seinen Vorsatz der Liebe zur Erfüllung führt.
Wir dürfen also in diesem äußerst wichtigen 10. Kapitel Christi wahre Stellung und Werk im jüdischen Volk sehen im Hinblick auf die neuen Segnungen, die Gott für seine Schafe vorgesehen hat. Christus war nicht anwesend, um das Königreich wiederherzustellen; die Zeit des Tausendjährigen Reiches war noch nicht gekommen. Christus war gekommen, um seine Schafe zu sich zu ziehen und sie aus der jüdischen Herde herauszuführen, damit sie in die neuen Segnungen der christlichen Herde gebracht würden.
Joh 10,1: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer nicht durch die Tür in den Hof der Schafe eingeht, sondern woanders hinübersteigt, der ist ein Dieb und ein Räuber.
In den ersten fünf Versen werden die großen Wahrheiten des Kapitels in Form einer Allegorie gezeigt. Die historischen Veränderungen, welche gerade stattfanden, werden durch die Bilder des Hirten und seiner Schafe dargelegt. Bevor Christus kam, traten viele Männer auf, die die Führung des Volkes Gottes beanspruchten, jedoch nur, um sich selbst zu verherrlichen, wie Theudas, der sich rühmte, jemand zu sein, oder wie Judas von Galiläa, der „das Volk abtrünnig [machte] sich nach“ (Apg 5,36.37). Solche Männer hatten von Gott keine Autorität und gingen nicht durch die von Gott bestimmte Tür. Wie ein Dieb traten sie ein durch Stehlen und bereicherten sich selbst wie ein Räuber auf Kosten der Herde.