Vorwort
Namentlich aus dem von Alfred Roth bearbeiteten und herausgegebenen Andachtsbuch „Die Gnade ist erschienen" (Gotha 1923, P. Ott) ist der heimgegangene Zeuge Jesu Christi, Otto Stockmayer, mir näher bekannt und lieb geworden. Daher sagte ich zu, als der Verleger mich fragte, ob ich eine eingehende Durchsicht der vorhandenen Hausandachten von Schloss Hauptwil zum Zwecke der Drucklegung übernehmen wolle.
Die Arbeit werde einerseits nicht ganz einfach sein, andererseits doch auch Freude machen. Beides hat sich als zutreffend erwiesen. Nicht geringe Mühe machte die Sichtung und Ordnung des Stoffes, der handschriftlich, in Maschinenschrift und in älteren und neueren Abdrucken im Brüderboten vorlag. Leider fehlen Andachten über das letzte Kapitel des Matthäus ganz; über die Leidensgeschichte sind nur wenige da. Die Andachten über Lukas und Johannes werden erfreuliche Ergänzung bringen. Inhaltlich ist so gut wie nichts geändert; auch wiederholte Andachten über denselben Text sind wegen ihrer anderen Behandlung mit ausgenommen.
Das alles gebot die Rücksicht auf den Christuszeugen, der gestorben ist und noch lebt und zu uns redet. Diese Rücksicht hat mich sogar abgehalten, die mancherlei Fremdwörter zu verdeutschen. Bei der Arbeit und Mühe kam auch die Freude, und sie wuchs, je mehr ich mich in diese Andachten versenkte. Hier ist ein Mann des einen Buches, ein Schriftgelehrter von Gottes Gnaden, einer, der im demütigen Gehorsam Christi, im Gehorsam des Glaubens steht. Er hat seines neuen Lebens Losung voll ausgelebt, ausgewirkt: „Herr, ich vertraue dir!"
Die Überschriften stammen zum Teil von mir. Wo ich Liederworte wählte, geschah es, um die Leser an unseren reichen Liedersegen zu erinnern. Diese Erinnerung wolle man freundlich aufnehmen; ebenso die Bitte, bei den Andachten die Abschnitte immer in seinem Neuen Testament selbst zu lesen (sei es nun Luther, Schlachter oder Elberfelder Übersetzung). Die Beziehungen Stockmayers auf diese Übersetzungen wie auf den Grundtext selbst wolle man besonders beachten. Zur Förderung sei noch empfohlen „Das Neue Testament in die Sprache der Gegenwart übersetzt und kurz erläutert von Ludwig Albrecht (Gotha, P. Ott, 4. Auflage.).
In einer Besprechung einer anderen Stockmayerschen Schrift wird seine Bibelbehandlung eine „pneumatische" genannt, d. i. eine geistliche, geistgeleitete, geisterfüllte, „vom Kreuzesboden aus gesehen, nicht Milch, sondern starke Speise, aber als solche auch frisch und anregend, nahrhaft und schmackhaft". Möge solche Speise unser inneres Leben nähren, unseren Wandel im Geist stärken, dass wir schon in diesem armen Leben ewiges Leben haben, dass sein Geist, der „edle Führer", durch Dienen und Warten uns bringe „zu der heiligen Erhöhung, wo dem Lamm, das uns versöhnt, aller Himmel Loblied tönt!"
Bienstädt, im August 1925.
F. Götz.
Bei aller Zerrissenheit, Verwirrung und Not, die der glaubenswache Beobachter in der Gemeinde Gottes der Gegenwart mit Trauer wahrnimmt, ist es doch ein ermutigendes und erfreuliches Zeichen, dass die Schriften des teuren Zeugen Jesu Christi Otto Stockmayer von einem immer grösser werdenden Kreis von Gläubigen geschätzt und gelesen werden. Eine Würdigung des Mannes, seines Lebens und seiner Lehre wird Alfred Roth, der Herausgeber des Andachtsbuches: „Die Gnade ist erschienen", in diesem Jahre noch in einem besonderen Lebensbild bringen. Weiteres über die einzigartige Bedeutung, die Stockmayer für die Gemeinde Gottes hat, erübrigt sich deshalb an dieser Stelle.
Schon lange bestand nun der Wunsch und die Absicht, alle Stockmayerschen Schriften, die schon erschienenen und die noch nicht veröffentlichten, unter der Bezeichnung: „Gesammelte Schriften" in einer Reihe von Bänden einheitlich und sorgfältig ausgestattet erscheinen zu lassen. Band 1 und 2 machen in diesem Jahre mit dem Evangelium Matthäus und Lukas den Anfang. Folgen werden, so Gott will, im nächsten Jahr das Evangelium Johannes und die Apostelgeschichte, und so nach und nach alle erschienenen Schriften.
Möchte des Herrn Segen auch auf dieser Veröffentlichung ruhen, wie das bei dem gesprochenen Wort in so reichem Masse der Fall war.
Gotha, im August 1925.
Der Verleger.
Aus der Vorgeschichte Jesu
Es ist nicht leicht, etwas auf die Vorgeschichte unseres Herrn und Heilandes einzugehen. Der Herr muss dazu besondere Gnade geben. Wenn ich es tue, so ist es in der tiefen Überzeugung, dass da Schätze und Tiefen der Offenbarung liegen, die erst noch aufgegraben werden muffen, die uns aber nur enthüllt werden, wenn wir unsere Schuhe ausziehen und uns im Blute Christi reinigen von aller Befleckung des Fleisches und des Geistes. Es ist mir diesen Morgen eine Vergleichung aufgestiegen zwischen Schöpfung und Erlösung in dem Sinne.
Als Gott die Erde nicht eigentlich schuf, sondern sie wiederherzustellen begann aus dem chaotischen, wüsten Zustande, in den sie hineingeschleudert worden war durch den Fall ihres Fürsten, des Teufels, hat Gott von dieser verwüsteten, in Trümmer liegenden Erde, die natürlich der Engelfürst in seinen Fall hinuntergezogen, einen Erdenkloss genommen von diesem Erdball, der der Schauplatz des Falles geworden war. Aus diesem Erdball hat er einen Menschen gebildet und ihm dann von oben, aus ihm selbst seinen Odem eingehaucht, und somit gehörte der Mensch nach der einen Seite seines Wesens hin — nämlich nach der leiblichen — noch diesem alten Erdball an, nach seinem Lebenshauch und Geistesleben aber der oberen Welt. Nun hatte er die Macht und Aufgabe, die Welt, die Erde, die der Herr schon neu gebaut hatte, als Herrscher und Fürst der Erde durch Gehorsam gegen Gottes Wort endgültig zu Gott zurückzubringen.
Ein Erdenball kann keinen Widerstand machen, und auch ein Stern, selbst ein Stern erster Grösse, hat keinen sittlichen Wert es kommt alles darauf an, in welchen Dienst Erdenball oder Stern tritt, und wenn Adam unbedingt gehorcht hätte, wenn er sich vertrauend an Gottes Wort gehalten hätte, so hätte er damit den ganzen, wunderbar paradiesischen Erdball endgültig unter Gottes Einfluss zurückgebracht, er selbst unter Gottes Einfluss zurücktretend und ihm alles zuführend, wie der zweite Adam ihm alles zurückführen und zu Füssen legen wird. Etwas Paralleles finden wir nun in der entscheidenden Stunde, wo der zweite Adam auf den Plan tritt.
War der erste Adam aus einem Erdenball gebaut, aber mit Lebensodem von oben, so finden wir diese gleiche, doppelte Natur in unserem Herrn und Heiland, als es sich um die Erlösung und Wiederbringung der Erde und der ganzen Menschheit zu ihrem Gott und Schöpfer handelte. Es sind das ja zarte und heilige Dinge, und man rührt sie nur vor dem Angesichte Gottes an, aber es liegen darin Tiefen von hoher Bedeutung. Unser Herr und Heiland hatte auch eine doppelte Natur. Er war aus dem Geiste gezeugt er war der Heilige Gottes —, zugleich aber, und das dürfen wir nicht übersehen, war sein Leib gebaut mit dem Blute, wenn auch der reinsten Jungfrau, die sich Gott ersehen konnte, so doch mit dem Blute einer gefallenen Evastochter.
Diese Sachen legt die Schrift einfach hin, so dass man darüber weggehen kann — man kann aber auch von Gott einen Schritt eingeführt werden in die Tiefen, die da verborgen liegen. In jener Zeit, als so viel von Gethsemane gesprochen wurde, ist mir die Frage aufgestiegen, ob dieser Kampf, diese noch unaufgeklärte Szene in Gethsemane, nicht organisch mit dieser Tatsache zusammenhängt, dass der Teufel immer noch wenigstens bis zu einem gewissen Grade ein Recht hatte an den Leib, der mit dem Blute einer gefallenen Evastochter gebaut war und darum den Herrn bis in sein Seelenleben dem Tode so nahe bringen konnte. Hat er doch selbst gerufen: „Meine Seele ist betrübt bis in den Tod." Und der endgültige Sieg ist dadurch gewonnen worden, dass der Herr die Rechte des Feindes in keiner Weise angetastet hat, sondern einfach an den Vater, an den Willen Gottes appellierte: „Dein Wille geschehe!" Wie kann ich die Erlösung der Menschheit vollbringen, wenn ich sterben muss, und doch, wenn ich sterben soll, beuge ich mich auch hierin unter deinen Vaterwillen!
Es gilt, dem Teufel nicht in eigener Kraft widerstehen, sondern an den Vater appellieren, alles in seine Hand legen und damit in der Selbstverleugnung und Selbstentäusserung ausharren bis ans Ende. Er schwitzte Blut, und dieses Blut hat er von der Maria geerbt — das gehörte noch der Erde an —; es gibt heissblütige und kaltblütige Leute, und das Blut, das in unseren Adern fliesst, macht sehr viel aus in unserer eigenen Entwickelung — dieses Blut, das in unseres Heilandes Adern floss, hat nie massgebend in seiner Entwickelung sein können. Er war aus dem Geiste gezeugt und ist in die Abhängigkeit des Geistes getreten, und das Wort seines Vaters im Himmel war ihm allein massgebend. Da war und blieb er gedeckt gegen irgendwelche, wenn auch nur keimartige Form von Sünde, für die aber in der leiblichen Konstitution des Gottmenschen ein Anhaltspunkt gewesen wäre.
Die Versuchung wäre nicht wie beim ersten Adam rein nur von aussen gekommen. Unser Heiland war nicht nur gebaut aus dem Erdenkloss eines gefallenen Planeten, sondern, wie gesagt, sein Leib war gebaut mit dem Blute einer gefallenen Evastochter. In diesen Tiefen hat Gottes Erbarmen eingesetzt und den Zweikampf weitergeführt auf Rechtsboden. Mit Recht und Gerechtigkeit muss der Feind besiegt werden, mit Recht und Gerechtigkeit muss die Menschheit erlöst werden, und in alle Ewigkeit wird der Feind kein Wort sagen können gegen solche Erlösung. Das erklärt uns dann, wie er, vom Geiste gezeugt, von Anfang an sich hingezogen fühlte zur Muttermilch des Wortes Gottes, wie er schon als zwölfjähriger Knabe zu Hause war im Worte Gottes. Er hat seiner Mutter damals auf ihren leisen Vorwurf über sein Zurückbleiben geantwortet: „Wusstet ihr nicht, dass ich sein muss in den Dingen meines Vaters?" Wie konntet ihr mich anderswo suchen?
Ich musste sein in den Dingen meines Vaters, im Worte Gottes. Aus dem Geiste gezeugt, mit dem Worte sich nährend. Nahrung der Geistgezeugten ist das Wort. Wir sind mit dem Blute eines unschuldigen, unbefleckten Lammes erkauft — und was das heisst, das wird dereinst die Ewigkeit offenbaren —, als mit dem Blute des Lammes Erkaufte haben wir nur noch eine Heimat, nämlich die Geisteswelt des Wortes Gottes, und soweit wir in diese eindringen, verliert unsere Konstitution, unsere besondere natürliche Anlage, Lebensfähigkeit; sie stirbt ab.
Wir hören nie auf, einen Sündenleib zu haben, solange wir hienieden sind, aber die obere Welt gewinnt in uns je länger, je mehr die Oberhand, und soweit wir uns ans Wort halten und dem Geiste gehorchen, soweit wir im Blute des Lammes Gewaschene, Geistgezeugte sind, soweit sind wir gegen jeden Ausbruch unserer sündlichen Natur gedekt, sei es nun im Gebiete des Fleisches und fleischlicher Unreinheit, im Gebiete der Phantasie oder des Stolzes, des Selbstbewusstseins oder irgendeinem anderen Gebiete. Wer will sagen, ob die Befleckung auf der einen oder die Torheit auf der anderen Seite grösser ist? Wie dem auch sei, wir sind gedeckt als Geistgezeugte, als Kinder des Gehorsams, und in diesen Linien erstarkend, gewinnt die neue, göttliche Natur Raum, und die alte verliert je länger, je mehr Boden. Und nun, welche Einfalt in dieser Adamstochter in ihrer verhältnismässigen Hoheit und Reinheit, eine reife Frucht vergangener Geschlechter, die Frucht des Glaubens der harrenden Väter!
Alles wirkliche Harren gleicht einem Samen und bereitet die Frucht vor. Ich sage, welche wunderbare Einfalt liegt in dem Benehmen dieser Jungfrau, schon in in der Frage: „Wie soll das zugehen?" Was soll aus mir werden, soll ich das Höchste, was eine Jungfrau haben kann, hergeben müssen — meine Keuschheit — und was wird die Welt dazu sagen? Man darf Gott alle seine Bedenken darlegen. Der Glaube ist nachher nur um so echter und siegreicher, und Gott geht gern auf alles ein, wenn es im rechten Geiste zu ihm gebracht wird — nur nicht im Geiste des Widerstandes, sondern mit der Bitte, dass er über die Schwierigkeiten hinweghelfen möge. Das war wahrlich keine geringe Schwierigkeit — Maria zitterte, sobald der Herr sie aber beruhigte, war sie beruhigt. „Mir geschehe, was du gesagt hast!" Das war ein Opfer, denn wie das zugehen und was Joseph sagen werde, das wusste sie nicht. Sie musste das ihrem Gott überlassen, und was wir Gott überlassen, dafür übernimmt er die Sorge, dafür tritt er ein. Es war, wie Elisabeth später sagte: „Selig bist du, die du geglaubet hast!" Glauben heisst, sich Gott anvertrauen.
„Gebenedeite unter den Weibern!" sie hat Gott geglaubt, hat sich Gott auch für das Schwerste überlassen. Das war die Mutter unseres Herrn, aber eine Evastochter, der es nicht möglich war, sich auf dieser Geisteshöhe zu erhalten. Sie war eben auch eine, die zuerst erlöst werden musste mit dem Blute ihres Sohnes, des Sohnes Gottes, und dessen äussere Abstammung von ihr musste notwendigerweise zurücktreten gegen das grosse Werk der Erlösung, das er nur vollbringen konnte, weil er auch Menschensohn war. Wie unmöglich es der Mutter unseres Herrn war, das festzuhalten, das sieht man da und dort und vielleicht nirgends mehr als an dem bedeutsamen Ereignis im Leben des zwölfjährigen Jesu, an diesem merkwürdigen, die Vergangenheit des Knaben beleuchtenden Ereignis in Jerusalem.
Der Knabe zeigte damals, dass er in einer Weise im Worte Gottes zu Hause war, dass die Eltern hätten wissen können, dass man diesen Knaben nirgends anders zu suchen brauchte als da, wo das Wort Gottes gelesen und betrachtet wurde. „Wusstet ihr nicht, dass ich sein muss in den Dingen, die meines Vaters sind?" Er war aus dem Geiste gezeugt — das Wort war seine Heimat, und weil er nie aus dieser Heimat wich, deswegen konnte die andere irdische Seite seiner Natur nie zu Worte kommen; sie war gedeckt durch die Macht des Wortes, des Geistes und unbedingten Gehorsams. Man hat nicht zwei Heimaten — «m der einen willen verleugnet man die andere. Durch den Geist hatte unser Heiland Macht, dies zu tun.
Das Wort Gottes trägt alle Dinge, und das Wort Gottes war auch die einzige Waffe, mit der sich auch der dreissigjährige Mann gewehrt hat; das schützte ihn, darin lebte er — da konnte nichts von aussen und nichts aus der adamitischen Natur Stammende irgendwie auf den Plan treten. Und, Geschwister, das hat er vollbracht und durchgeführt bis nach Gethsemane, auch wenn er den Vater nicht mehr verstand. Damit, dass er das durchgeführt hat, hat er eine vollkommene Erlösung geschaffen für uns, uns vollkommene Deckung erworben, vollkommene Reinigung, vollkommene Neuanschaffung — ein Geistesleben aus der oberen Welt, siegreich über alles, was wir von Mutterleibe mit in die Welt gebracht haben und womit wir diese traurige Erbschaft bereichert haben aus eigener Schuld. Von diesem allen reinigt uns das Blut des unschuldigen, unbefleckten Lammes und deckt uns, wo der Geist mit jedem Tage mehr Raum bekommt und wir hineinwachsen in die Mannesstatur Jesu Christi.