Behandelter Abschnitt Röm 9-11
In den Kapiteln 9 bis 11 behandelt der Apostel eine ernste Schwierigkeit für jegliche Seele, insbesondere für einen Juden. Jeder muss schnell empfinden, dass diese Entfaltung der Gnade in Christus an Nichtjuden und Juden in gleicher Weise durch das Evangelium die besondere von Gott gegebene Stellung Israels sehr herabsetzt. Wenn die gute Botschaft Gottes zu allen Menschen hinausgeht und den Unterschied zwischen einem Juden und einem Heiden gänzlich auslöscht, was wird dann aus Gottes besonderen Verheißungen an Abraham und seinen Samen? Was ist mit seinen Worten, die Er ausgesprochen und den Vätern geschworen hat? Der Apostel zeigt mit erstaunlicher Kraft gleich am Anfang, dass er weit davon entfernt ist, die jüdischen Vorrechte gering zu achten. Er gibt eine Zusammenfassung derselben, wie kein Jude vorher, seitdem Israel eine Nation geworden ist, sie jemals abgefasst hat. Er stellt die einzigartigen Herrlichkeiten Israels entsprechend der Tiefe des Evangeliums, so wie er es kannte und predigte, vor. Schließlich geht es um jene göttliche Person, die jetzt als Gegenstand des Glaubens offenbart worden ist.
Weit davon entfernt, das zu leugnen oder zu verdunkeln, dessen die Juden sich rühmten, geht Paulus über ihre Vorstellungen hinaus - „welche Israeliten sind, deren die Sohnschaft ist und die Herrlichkeit und die Bündnisse und die Gesetzgebung und der Dienst und die Verheißungen; deren die Väter sind, und aus welchen, dem Fleische nach, der Christus ist, welcher über allem ist, Gott, gepriesen in Ewigkeit“ (V. 4-5). Letzteres war gerade die Wahrheit, welche jeder Jude als solcher leugnete.
Welche Blindheit! Gerade von ihrer krönenden Herrlichkeit wollten die Juden nichts hören. Welche Herrlichkeit ist so reichhaltig wie diejenige des Christus, wenn man sie richtig würdigt? Er war Gott über allem, gepriesen in Ewigkeit, sowie ihr Messias. Sie mochten Ihn, der in Niedrigkeit entsprechend der Voraussagen ihrer Propheten gekommen war, zurückweisen; es war indessen nutzlos zu leugnen, dass dieselben Propheten von seiner göttlichen Herrlichkeit Zeugnis ablegten. Er war Emmanuel, ja, Jahwe, der Gott Israels. Wenn Paulus also hier sein eigenes Empfinden für die jüdischen Vorrechte darlegt, so gab es keinen ungläubigen Juden, der sich bis zu einer solchen Wertschätzung derselben erheben konnte.
Um der aufgetretenen Frage entgegenzutreten, brachten die Juden die besonderen Verheißungen an Israel vor. Auf welcher Grundlage? Weil sie Söhne Abrahams waren! Doch wie kann dieses Argument standhalten, wirft Paulus ein, wenn wir berücksichtigen, dass Abraham einen weiteren Sohn hatte, der genauso sein Kind war wie Isaak? Was sagten sie von den Ismaelitern als Miterben? Davon wollten sie nichts hören. „Nein“, rufen sie aus, „in Isaaks Samen wurden wir Juden berufen!“ Das ist dann allerdings ein ganz anderer Grundsatz. Wenn der Segen ausschließlich auf Isaak beruht, geht es nicht um die Geburt des Samens, sondern um seine Berufung. Demnach macht die Berufung Gottes und nicht einfach die Geburt den wahren Unterschied aus.
Versuchten sie jetzt auf das Argument auszuweichen, dass die Berufung nicht nur den Vater, sondern auch die Mutter betraf? Das macht ihre Angelegenheit keine Spur besser. Denn wenn wir zur nächsten Generation übergehen, ist offensichtlich, dass die beiden Söhne Isaaks von derselben Mutter stammten; sie waren sogar Zwillinge. Was könnte sich mehr gleichen als die Geburt dieser beiden Knaben? Sicherlich, falls dasselbe irdische Band der Geburt Gemeinschaft im Segen bedingte und falls ein von Gott gegebenes Vorrecht auf der Abkunft von demselben Elternpaar beruhte, dann besaß niemand ein so offenkundiges Anrecht auf dieselben Segnungen mit Jakob wie Esau. Warum ließen sie einen solchen Anspruch nicht zu? War es nicht klar ersichtlich, dass Israel die Verheißung nicht aufgrund einer einfachen Beziehung nach dem Fleisch einnehmen konnte? Das Geburtsrecht von demselben Vater würde auf der einen Seite Ismael zulassen, das Geburtsrecht von beiden Elterteilen her auf der anderen den Segen auch Esau zusichern. Eine solche Grundlage ist augenscheinlich unhaltbar. Tatsächlich war, wie der Apostel schon vorher angedeutet hatte, die Berufung Gottes der wahre Standort Israels; und Gott ist frei, sobald es Ihm gefällt, andere Menschen in seinen Segen einzuführen. Damit wurde das Problem einfach zur Frage, ob Gott tatsächlich die Heiden berufen wollte und ob Er diese Absicht schon früher offenbart hatte.
Paulus begegnet ihrem stolzen Ausschließlichkeitsanspruch indessen auf eine andere Weise. Er zeigt, dass auf der Basis ihrer Verantwortlichkeit als Gottes Volk sie völlig zugrunde gerichtet waren. Wenn das erste Buch der Bibel darlegt, dass einzig und allein die Berufung Gottes Israel zu dem gemacht hat, was es ist, dann beweist das zweite genauso eindeutig, dass für das berufene Volk alles vorbei gewesen wäre ohne die Barmherzigkeit Gottes. Sie errichteten das goldene Kalb und verwarfen somit schon in der Wüste den wahren Gott, ihren Gott. Ging daraufhin der Ruf Gottes hinaus zu den Heiden? Gilt seine Barmherzigkeit nur dem schuldigen Israel? Gibt es keine Berufung, keine Barmherzigkeit Gottes für andere Menschen?
Daraufhin wendet sich der Apostel den unmittelbaren Beweisen zu. Zuerst zitiert er Hosea als Zeugen. Dieser frühe Prophet teilt Israel mit, dass an dem Ort, an dem zu ihnen gesagt wurde „Ihr seid nicht mein Volk“, sie „Söhne des lebendigen Gottes genannt werden“ sollen (V. 26). Die Namen „Jisreel“, „Lo-Ruchama“ und „Lo-Ammi“ waren für Israel von schrecklicher Bedeutung (Hos 1). Doch angesichts solch verheerender Umstände, sollte es nicht nur ein Volk, sondern sogar Söhne des lebendigen Gottes geben. Dann sollen auch Juda und Israel wieder als ein Volk unter einem Haupt versammelt sein. Die Anwendung dieser Verse aus dem Buch Hosea auf die Heiden ist einsichtiger als ihr Bezug zu den Juden. Vergleiche auch den Gebrauch, welchen Petrus von ihnen in seinem ersten Brief macht (Kap. 2,10).
Zuletzt stellt Paulus Jesaja vor, der zeigt, dass Israel seine Segnungen nicht als ganzes Volk bewahrt hat und dass darum nur ein Überrest errettet wird. So können wir also jene beiden gewichtigen Schlussfolgerungen nicht übersehen: Die Einführung solcher, die nicht zu Gottes Volk gehören, als Gottes Söhne sowie das Gericht und die Vernichtung der großen Masse seines unbezweifelbaren Volkes. Nur ein Überrest von ihnen wird errettet werden. So behandelt der Apostel die beiden großen Gesichtspunkte, die er den Juden aus ihren eigenen Schriften darlegen wollte. Darüber hinaus gab es, wie Paulus im Folgenden nachdrücklich betont, die gewichtigsten Gründe für Gottes Handeln. Gott ist zwar gnädig, aber auch heilig; Er ist treu, aber auch gerecht. Der Apostel bezieht sich auf Jesaja, um zu zeigen, dass Gott „in Zion einen Stein des Anstoßes“ legen wollte. Diesen legt Er in Zion - nicht unter den Heiden, sondern in dem geehrten Mittelpunkt des Staatswesens Israels. Dort sollte ein Stein des Anstoßes gefunden werden. Was war dieser Stein? Natürlich kaum das Gesetz, denn dieses war Israels Stolz. Was war er also? Es kann nur eine zufriedenstellende Antwort geben. Der Stein des Anstoßes ist ihr verachteter und verworfener Messias. In Ihm liegt der Schlüssel zu ihren Schwierigkeiten. Allein dieser ist eine ausreichende Erklärung für das kommende Verderben der Juden und Gottes ernste Warnungen an sie.