Behandelter Abschnitt Joh 18,1-40
Wir betrachteten dieses Evangelium der Reihe nach bis zum Schluss des 17. Kapitels und teilten es bis dahin in drei Hauptabschnitte ein. Der erste führte unseren Herrn Jesus Christus als den Sohn Gottes, den Fremdling vom Himmel, ein und zeigte uns Seine Aufnahme und Sein Wirken in der Welt. Der zweite stellte Ihn uns in Seinen Unterredungen und Auseinandersetzungen mit Israel vor. Im dritten Abschnitt sahen wir Ihn inmitten der Jünger, Seiner Auserwählten, die Er in den Geheimnissen Seines himmlischen Priestertums und in ihrer Stellung als Kinder des Vaters unterwies. Jetzt wollen wir den vierten und letzten Abschnitt betrachten, der uns die mit Seinem Tod und Seiner Auferstehung zusammenhängenden Ereignisse mitteilt. Möge diese Betrachtung des Wortes Gottes uns Licht schenken und unseren Herzen einen Geschmack Dessen verleihen, von dem dieses Wort redet!
Wenn wir, Geliebte, bei solchen Betrachtungen die Ordnung des Wortes Gottes entdecken und dahin geführt werden, seine Tiefen und Schönheiten zu bewundern, so sollten wir uns daran erinnern, dass es die Wahrheit ist, die wir vor allem betrachten müssen. Wenn wir das Wort „in großer Gewissheit“ aufnehmen, wird es sich in uns wirksam erweisen. Es nützt uns nichts, wenn es nicht „mit dem Glauben vermischt“ ist. Seine Kraft, zu erfreuen und zu reinigen, ist davon abhängig, dass es als die Wahrheit aufgenommen wird. Wenn wir die Schönheiten, Tiefen und Wunder des Wortes aufspüren und einander vorstellen, sollten wir öfter innehalten und zu unseren Seelen sagen wie der Engel zu dem überwältigten Apostel, der die lieblichen Gesichte schaute und die wunderbaren Offenbarungen hörte: „Dies sind die wahrhaftigen Worte Gottes“ (Off 19,9).
Der Abschnitt unseres Evangeliums, zu dem ich jetzt gelangt bin, zeigt unseren Herrn Jesus Christus in Seinen Leiden. Aber ich möchte bemerken, dass Seine Leiden Ihn in diesem Evangelium nicht beschäftigen. Von Anfang bis zu Ende steht Er über den Schmähungen des Volkes und der Verwerfung seitens der Welt. Wohl sehen wir Ihn in den anderen Evangelien, als das letzte Passah nahte, damit beschäftigt, dass Er das dafür auserwählte Lamm war, und hören Ihn zu den Jüngern sagen: „Ihr wisst, dass nach zwei Tagen das Passah ist, und der Sohn des Menschen wird überliefert, um gekreuzigt zu werden“ (Mt 26,2).
In unserem Evangelium hören wir nichts dergleichen. Er geht zur bestimmten Zeit nach Jerusalem, aber um inmitten einer auserwählten Familie Platz zu nehmen (Joh 12,1). Und auch später, als Er mit Seinen Jüngern allein ist, steht Er noch über Seinen Leiden und über der Welt. Er spricht nicht davon, dass die Juden Ihn den Nationen überliefern und diese Ihn kreuzigen würden, auch nicht davon, dass Er verspottet, gegeißelt und angespuckt werden würde, wie in den anderen Evangelien. Alles dieses wird übergangen. Die vielen Dinge, die der Sohn des Menschen von der Hand der Sünder erleiden sollte, bleiben hier unerwähnt. Vielmehr nimmt Er an, dass die Stunde „der Gewalt der Finsternis“ bereits vorüber ist, und sobald wir Ihn mit Seinen Auserwählten allein finden, nimmt Er Seinen Platz jenseits dieser Stunde ein (Joh 13,1). Gethsemane und Golgatha liegen hinter Ihm, und Er sieht Seine Stunde gekommen, nicht die des Gartens oder des Kreuzes, sondern die des Ölbergs, die Stunde Seiner Himmelfahrt. Unser Evangelist sagt: „Vor dem Fest des Passah aber, als Jesus wusste, dass seine Stunde gekommen war, dass er aus dieser Welt zu dem Vater hingehen sollte . . . “ Diese Worte zeigen uns deutlich, dass Sein Geist nicht mit Seinen Leiden beschäftigt war, sondern mit dem Himmel des Vaters, der jenseits der Leiden lag. Er breitet vor Seinen Jüngern nicht die Zeichen Seines Todes hier auf der Erde aus, sondern die Seines Lebens im Himmel, wie wir gesehen haben, denn Er wäscht nach dem Abendessen ihre Füße.
Alle Seine Unterredungen mit Seinen Geliebten (Joh 14-16) bezeugen es. Immer wird vorausgesetzt, dass Sein Leiden beendet, Sein Lauf vollendet ist, dass Er wider den Fürsten der Welt gestanden und gesiegt hat, dass Er in des Vaters Liebe geblieben und alles reif für Seine Verherrlichung ist. Seine Worte zu ihnen gründeten sich darauf, und so befähigte Er sie zu überwinden, wie Er überwunden hatte. Anstatt ihnen von Seinen Leiden zu erzählen, ist es Sein Bemühen, sie in den ihren zu trösten. Er gab ihnen Frieden und die Verheißung des Sachwalters und der kommenden Herrlichkeit. Und wenn Er für einen Augenblick, gewissermaßen durch ihre Herzensstellung genötigt, davon spricht, dass sie alle Ihn in der kommenden Stunde allein lassen würden, so geschieht es doch nicht ohne die Gewissheit: „Und ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir“ (Joh 16,32). Ebenso lesen wir, dass Jesus, als Er Judas von den anderen absonderte, im Geist erschüttert war (Joh 13,21), aber sobald der Verräter hinausgegangen war, erhebt Er sich zu Seiner eigenen Größe und Erhabenheit und sagt: „Jetzt ist der Sohn des Menschen verherrlicht, und Gott ist verherrlicht in ihm.“ Wenn Seine Seele seufzt oder erschüttert wird, ist es nur für einen Augenblick und nur, um Ihn zu einem völligeren Anschauen der Herrlichkeit zu führen, die jenseits von allem lag.
Dasselbe finden wir, wenn Er in die tiefsten Schatten Seines einsamen Weges hinabsteigt. Sogar hier ist es Kraft, die Ihn hindurchgeleitet, und Herrlichkeit, die allezeit vor Ihm steht. Ob wir Ihn in diesem Evangelium in Mühen, im Leiden oder im Zeugnis sehen, immer steht Er in der Erhabenheit des Sohnes Gottes vor uns. Er geht voran in dem Bewusstsein Seiner Würde, Er nimmt den Kelch aus der Hand des Vaters und lässt Sein Leben von sich selbst.
Kapitel 18. Wir erinnern uns, dass wir den Herrn in Kapitel 17 als unseren Fürsprecher im himmlischen Heiligtum Seine Bitten vorbringen sahen. Von diesem Platz kommt Er jetzt herab, um der Macht der Finsternis zu begegnen. In jenem Kapitel war Sein Herz und Sein Auge erfüllt von der Herrlichkeit Seines Vaters, von Seiner eigenen Herrlichkeit und der Herrlichkeit der Kirche. Diese Herrlichkeiten vor Seinem Auge, kommt Er jetzt, um das Kreuz zu erdulden.
In einem der anderen Evangelien nimmt Er das Kreuz auf sich, nachdem Er in Gethsemane die Stärkung durch den Engel empfangen hatte. Diese Szene finden wir hier nicht, denn dort haben wir den Weg des Sohnes des Menschen durch den Vorgeschmack Seines Todes, als Seine Seele sehr betrübt war bis zum Tod, mit der Stärkung von Gott, die Ihm ein Engel brachte. Aber hier steigt der Sohn Gottes gleichsam vom Himmel herab, um dem Kreuz zu begegnen, und Er schreitet durch die ganze Stunde der Macht der Finsternis in der Kraft des Sohnes Gottes. Er sucht keine Gesellschaft. In den anderen Evangelien nimmt Er Petrus, Jakobus und Johannes beiseite, um vielleicht ihr Mitgefühl zu erwecken, damit sie eine Stunde mit Ihm wachen möchten. Aber hier lesen wir nichts davon, Er geht allein durch die Leiden.
Die Jünger gehen wohl mit Ihm in den Garten, aber sie bedürfen dort Seines Schutzes, und Er erwartet und verlangt kein Mitgefühl von ihnen. „Wenn ihr nun mich sucht, so lasst diese gehen!“ Kein Engel stärkt ihn und ebenso stehen auch die Jünger nicht Seinetwegen bei Ihm. Er kommt von Seinem Platz aus der Höhe als der Sohn Gottes herab, um, soweit der Mensch in Frage kommt, allein nach Golgatha zu gehen. Obwohl Sein jetziger Weg zum Kreuz ging, war es nichtsdestoweniger der Weg des Sohnes Gottes. Die Einsamkeit des Fremdlings vom Himmel wird hier hervorgehoben, wie auch in allen anderen Teilen dieses Evangeliums.
Lasst mich hinzufügen - ein Gedanke, der mich sehr tröstet -, dass in Gott eine Größe ist, deren Bewusstsein wir sehr in unseren Herzen pflegen sollten; es gibt in Ihm keine Enge. Der Psalmist scheint sich in Psalm 36 diesem Gedanken hinzugeben. Alles was er dort in Gott sieht, sieht er in hervorragender, göttlicher Größe. Gottes Güte reicht an die Himmel, Seine Treue bis zu den Wolken. Seine Gerechtigkeit ist gleich den Bergen Gottes, und Seine Gerichte sind eine große Tiefe. Seine Fürsorge ist so groß, dass sowohl Tiere als Menschen ihr Gegenstand sind, Seine Güte so köstlich, dass Menschenkinder Zuflucht nehmen zu dem Schatten Seiner Flügel. Sein Haus ist mit allem Guten gefüllt, dass Sein Volk reichlich von der Fettigkeit Seines Hauses trinkt, und Seine Wonnen für sie sind so reichlich, dass sie sie trinken wie aus einem Strom. Das ist die Größe und Herrlichkeit in Gott, und nicht nur in Ihm selbst, sondern auch in Seinen Wegen und Seinen Handlungen mit uns. Das ist eine gesegnete Wahrheit für uns, Geliebte, denn unsere Sünden werden im Sinn dieser Größe gerichtet.
Die Sünde ist gewiss „überaus sündig“. Der geringste Fleck und Schmutz in Gottes Schöpfung ist abscheulich in den Augen des Glaubens, der naturgemäß mit der Herrlichkeit Gottes misst. Ein kleines Loch in der Mauer genügte, um dem Propheten große Gräuel zu zeigen (Hes 8). Aber wie erscheinen sie, neben die Größe der Gnade Gottes gestellt? Wo bleibt dann die karmesinrote Sünde der Ehebrecherin, wo die Sünde der samaritischen Frau, über die sozusagen schon Gras gewachsen war? Sie mochten gesucht, aber sie konnten nicht gefunden werden. Sie verschwanden in der Gegenwart der Gnade, deren heller Schein neben ihnen aufleuchtete. Überströmende Gnade tat für immer die Schande hinweg. Gott, der die Inseln emporhebt wie ein Stäubchen und die Wasser misst mit Seiner hohlen Hand (Jes 40,12), trägt unsere Sünden weit fort „in ein ödes Land“ (3Mo 16,22).
Diese Gedanken ermutigen unsere Herzen. Unser Gott will, dass wir Ihn in Seiner Größe kennen. Betrachtet man die Sünde allein, so ist der kleinste Fleck ein Ungeheuer, stellt man aber Seine Gnade daneben, so verschwindet sie. Dieser Ausdruck göttlicher Gnade kommt durch das ganze Evangelium hindurch in Jesus zum Vorschein. Überall sehen wir das Bild und die moralische Größe des Sohnes Gottes, auch wenn wir Ihn in Mühen und Leiden sehen.
Dies jedoch nur nebenbei! Wir folgten unserem Herrn über den Bach Kidron. Dieser Ort muss für Ihn ein Platz heiliger und bewegender Erinnerungen gewesen sein. Denn hier war es, wo einst David mit seinem Freund Ittai, mit Zadok und der Bundeslade Halt gemacht hatte, als er aus Furcht vor Absalom aus Jerusalem floh. Über diesen selben Bach und denselben Weg zum Ölberg hinauf war der König Israels weinend gegangen, das Haupt bedeckt und barfuss, während sein Ratgeber Ahitophel ihn unterdessen seinen Feinden verriet (2Sam 15). Jesus hatte oftmals, wie wir wissen, Seine Zuflucht dahin genommen und sich fraglos dieser Ereignisse erinnert. Aber wir haben hier in dieser Zeit den Sohn Gottes vor uns, weniger den Sohn Davids. Der Bach wird überschritten und der Garten betreten, nicht unter Tränen und auch ohne die Bundeslade. Aber es offenbart sich jetzt mehr als die Lade in all ihrer Herrlichkeit und Stärke.
Der Herr tritt der grausamen Schar der Diener und Soldaten mit den Worten entgegen: „Wen sucht ihr?“ Er redet sie an in der Ruhe des Himmels, die Er besaß, und Er tritt hervor in der Macht des Himmels, indem Er sagt: „Ich bin es.“ Sie weichen zurück und fallen zu Boden; niemand konnte Ihm Sein Leben nehmen. Er musste ihnen sogar ihre Beute zeigen, denn alle ihre Leuchten und Fackeln waren nicht imstande, Ihn ausfindig zu machen. Jede Phase Seines Weges bestimmte Er selbst, denn Er gab Sein Leben von sich selbst. Die, welche Sein „Fleisch fressen“ wollten, mussten „straucheln und fallen“ (Ps 27,2). Die Seinen Schaden suchten, mussten zurückweichen und in Verwirrung geraten. Das Feuer war bereit, den Obersten und seine Fünfzig zu verzehren (2Kön 1). Hätte der Sohn Gottes es gewollt, so wäre der Feind auf dem Boden liegen geblieben. Aber Er war nicht gekommen, um das Leben des Menschen zu zerstören, sondern um es zu erretten, und deshalb wollte Er Sein eigenes Leben hingeben. Die Herrlichkeit, die alle Macht des Feindes verwirrte, lag gleichsam in dem Krug verborgen, und Er wollte sie noch darin verborgen lassen.
Jetzt sang Er im Geist den 27. Psalm. Der Herr war Sein Licht und Sein Heil, vor wem sollte Er sich fürchten? Er hatte soeben Gottes Herrlichkeit im Heiligtum geschaut, wie wir im 17. Kapitel sahen, und Sein Verlangen war, wie bei dem Psalmisten, im Haus des Herrn auf immerdar zu wohnen.
Gewiss war es ein „Tag des Übels“, aber im Geist war „sein Haupt erhöht über seine Feinde“, und bald sollte Er „Opfer des Jubelschalls in seinem Zelte opfern“ und dem Herrn „Psalmen singen“ (Ps 27,1-6).
So stand Er in dieser Stunde vor Seinen Feinden, und Er hätte Heerscharen von ihnen gegenüberstehen können. Aber Er wollte den Kelch aus der Hand des Vaters nehmen und Sein Leben für die Kirche geben. Die bei Ihm waren, wurden jetzt in ihrem Eigensinn ein Ärgernis für Ihn. Sein Reich war noch nicht von dieser Welt, und deshalb sollten Seine Diener nicht kämpfen. Petrus zog sein Schwert und hätte die Szene zu einer rein menschlichen Kraftprobe gemacht, aber das durfte nicht sein. Gewiss hätte der Sohn Gottes widerstehen können; Er hätte die Lade Gottes sein können, vor der alle Feinde fielen. Aber wie sollte dann die Schrift erfüllt werden? Er überlässt sich lieber den Händen Seiner Feinde: „Die Schar nun und der Oberste und die Diener der Juden nahmen Jesus fest und banden ihn.“
Wir folgen dem Herrn weiter auf Seinem Weg als Sohn Gottes und Herr vom Himmel. Ob wir Ihn bei den Dienern oder bei dem Hohenpriester oder vor Pilatus sehen, überall beobachten wir den heiligen Abstand zwischen Ihm und allem um Ihn her. Sie mochten mit Ihm handeln, wie es ihnen beliebte, es berührte Ihn nicht. Er ist nicht darauf bedacht, alle ihre Fragen zu beantworten; Er durchschreitet alles in Einsamkeit. Wir hören hier nichts davon, dass die Töchter Jerusalems Ihm ihre Teilnahme bezeugen oder sie die Seine empfangen. Auch teilt kein sterbender Räuber diese Stunde mit Ihm. Er schreitet allein auf diesem öden Weg. Petrus wird auf dem Weg der Gottlosen gefunden; er wärmt sich unter ihnen, als hätte er nichts anderes als nur ihre Hilfsquellen. Ein anderer Jünger, vielleicht Johannes selbst, nimmt seinen Platz als Bekannter des Hohenpriesters ein und erlangt daraus Vorteile. Alles das war ein Absinken in die menschliche Natur, indem sie den Sohn Gottes allein ließen, wie Er ihnen vorausgesagt hatte: „Ihr werdet mich allein lassen; und ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir.“
Sein Pfad ist ohne jeden Makel. „Gott aber sei wahrhaftig, jeder Mensch aber Lügner“ (Röm 3,4). So ist Jesus ohne Fehler, während alle um Ihn her fehlen. Er wurde „gerechtfertigt im Geist“. Er brauchte keinen Schritt zurückzugehen und kein Wort zu widerrufen. Er konnte sich in jeder Sache rechtfertigen und sogar Seine Ankläger tadeln, beispielsweise als Er sagte: „Wenn ich übel geredet habe, so gib Zeugnis von dem Übel; wenn aber recht, was schlägst du mich?“ Ein Paulus musste in einer ähnlichen Lage sein Wort zurücknehmen: „Ich wusste nicht, Brüder, dass er Hoherpriester ist“ (Apg 23,5).
Aus der Hand des Hohenpriesters kommt der Herr in die Hand des römischen Statthalters. Und jetzt öffnet sich vor unseren Blicken eine Szene voll ernster Mahnung für uns alle, Geliebte, die zugleich in völligem Einklang mit dem Charakter unseres Evangeliums steht.
Es ist augenscheinlich, dass Pilatus während dieser Szene das Volk zu beruhigen und Jesus von den Bosheiten der Juden zu befreien wünschte. Es scheint auch, dass er von Anfang an ein Empfinden für das Besondere dieses Gefangenen hatte. Das Schweigen Jesu trug diesen besonderen Charakter, so dass wir lesen: „Der Statthalter verwunderte sich sehr“ (Mk 15,5). In der Tat, welche göttliche Anziehungskraft musste jeder Schritt Seines Lebens, den Er unter den Menschen tat, für die Umgebung haben! In welchem Zustand müssen auch die Augen, Ohren und Herzen der Menschen gewesen sein, die das alles nicht unterschieden und bemerkten!
Der erste Eindruck des Statthalters wurde bestätigt und bestärkt durch alles, was sich im Verlauf dieser Szene ereignete: der Traum seiner Frau, die offensichtliche Bosheit der Juden und vor allem dieser gerechte, schuldlose Gefangene, der, obwohl Er in Schmach und Leiden war, darauf beharrte, dass Er Gottes Sohn wäre. Alles das bestürmte sein Gewissen. Aber die Welt im Herzen des Pilatus war stärker als die Regungen seines Gewissens. Gewiss, der Ruf seines Gewissens war laut und vernehmlich, aber die Stimme der Welt gewann die Oberhand, und er ging den Weg der Welt, obgleich er überführt war. Hätte er die Welt für sich behalten können, hätte er auch Jesus gern behalten. Er gibt den Juden klar zu verstehen, dass er keine Furcht vor Jesus habe und dass Jesus in ihm keinerlei Sorge hinsichtlich der Interessen seines Herrn, des Kaisers, hervorrufen könne. Aber sie bestanden darauf, dass Jesus sich selbst zum König gemacht hätte und dass Pilatus, wenn er diesen Menschen losgäbe, nicht mehr des Kaisers Freund sein könnte. Das gab den Ausschlag.
Dies zeigt uns, dass es für die Seele keine andere Sicherheit gibt als jenen Glauben, der die Welt überwindet. Pilatus wünschte nicht, wie die Juden, Jesus umzubringen, aber die Freundschaft des Kaisers durfte nicht aufs Spiel gesetzt werden. Die Obersten Israels hatten einst befürchtet, dass, wenn man diesen Menschen so gewähren ließe, die Römer kommen und sowohl ihren Ort als auch ihre Nation wegnehmen würden (Joh 11,48), aber Pilatus fürchtet jetzt, die Freundschaft derselben Welt in der Person des römischen Kaisers zu verlieren. So verband die Welt ihn und die Juden in der Kreuzigung des Herrn der Herrlichkeit, wie geschrieben steht: „In Wahrheit versammelten sich gegen deinen heiligen Knecht Jesus, den du gesalbt hast, sowohl Herodes als auch Pontius Pilatus mit den Nationen und den Völkern Israels“ (Apg 4,27).
Ich wiederhole, Pilatus hätte Jesus gerettet, wenn er gleichzeitig seinen Ruf als Freund des Kaisers hätte retten können. Deshalb trat er jetzt in das Prätorium und fragte Jesus: „Bist du der König der Juden?“ Als die Juden Ihn dem Pilatus übergaben unter der Beschuldigung, Er mache sich selbst zum König (Lk 23,2), hätte Pilatus gern beides getan, Jesus gerettet und sich vor Schaden bewahrt, wenn er nur Jesus zum Verzicht auf Seine königlichen Ansprüche hätte bewegen können. In dieser Absicht scheint er jetzt in das Prätorium zu gehen (Joh 18,33). Aber die Welt im Herzen des Pilatus kannte Jesus nicht, wie geschrieben steht: „Die Welt kannte ihn nicht“ (Joh 1,10; 1Joh 3,1). Pilatus sollte jetzt sehen, dass der Gott dieser Welt in Jesus keinen Platz hatte. „Jesus antwortete ihm: Sagst du dies von dir selbst, oder haben dir andere von mir gesagt?“ Unser Herr wollte durch diese Frage von Pilatus selbst hören, wo die Quelle der Anklage gegen Ihn lag, ob Seine Ansprüche als König der Juden von Pilatus als Schutzherr der kaiserlichen Rechte in Judäa oder nur auf Grund der Beschuldigungen der Juden abgelehnt wurden.
Davon hing, möchte ich sagen, zum gegenwärtigen Zeitpunkt alles ab. Die weise Absicht des Herrn, der Frage diese Richtung zu geben, ist offensichtlich. Hätte Pilatus gesagt, er wäre besorgt um die römischen Interessen, so hätte ihn der Herr auf Sein ganzes Leben und Seinen Dienst hinweisen können, um zu beweisen, dass an Ihm keine Schuld zu finden war. Hatte Er doch gelehrt, dass man dem Kaiser geben solle, was des Kaisers ist. Er hatte sich allein auf den Berg zurückgezogen, als Er erkannte, dass die Volksmenge Ihn gewaltsam zum König machen wollte (Joh 6,15).
Sein Kampf galt nicht Rom. Als Er kam, fand Er den Kaiser in Judäa vor, und Er hatte niemals sein Recht, dort zu sein, in Frage gestellt. Vielmehr erkannte Er jederzeit diesen Anspruch an und nahm den Platz der Nation ein, deren eigenes Land wegen ihres Ungehorsams gleichsam das Siegel und die Unterschrift des Kaisers trug. Gewiss hatte die Verachtung der Hoheit des Herrn den Heiden den Weg nach Jerusalem gebahnt, aber Jerusalem war gegenwärtig der Platz der Nationen, und der Herr rechtete keineswegs mit ihnen darüber. Nur wiederhergestellter Glaube und Gehorsam Gott gegenüber konnte rechtmäßig diesen Anspruch der Nationen aufheben. Der Herr hatte deshalb keine Auseinandersetzung mit Rom, und Pilatus würde eine dementsprechende Antwort erhalten haben, wenn die Anklage von ihm als dem Vertreter Roms erhoben worden wäre. Aber so war es nicht. Pilatus antwortete: „Bin ich etwa ein Jude? Deine Nation und die Hohenpriester haben dich mir überliefert; was hast du getan?“
Diese Antwort von Pilatus erbrachte den vollgültigen Beweis der Schuld Israels. Durch den Mund dessen, der zu jener Zeit die Macht der Welt repräsentierte, wurde festgestellt, dass Israel seinen König verleugnet und sich selbst in die Hand eines anderen verkauft hatte. So standen im Augenblick die Dinge um Jesus. Und das erhob Ihn sofort über die Erde, außerhalb der Welt. Israel hatte Ihn verworfen, und deshalb war Sein Königtum nicht von hier. Denn Zion ist der zuvorbestimmte Sitz der Herrschaft des Königs der ganzen Erde, aber der Unglaube der Tochter Zion hielt den König von ihr fern.
Als der Herr von den Lippen des Römers dieses Zeugnis hörte, konnte Er als der verworfene König nur den gegenwärtigen Verlust dieses Thrones anerkennen. „Jesus antwortete: Mein Reich ist nicht von dieser Welt; wenn mein Reich von dieser Welt wäre, hätten meine Diener gekämpft, damit ich den Juden nicht überliefert würde; jetzt aber ist mein Reich nicht von hier.“ Er hatte keine Kriegswaffen, wenn Israel Ihn zurückwies. Jetzt wurde auf Seiner Tenne nicht gedroschen, denn Israel ist Sein Dreschschlitten, um die Berge zu dreschen (Jes 41,15; Mich 4,13; Jer 11,20); aber Israel verwarf Ihn. Der Messias wird das Haus Juda, und nur das allein, zu Seinem „Prachtpferd im Kampf“ machen (Sach 10,3), aber weil Juda im Unglauben war, hatte Er nichts, um „des Bogens Blitze, Schild und Schwert und Krieg“ zu zerbrechen (Ps 76,4). Sein Reich konnte nicht „von dieser Welt“, nicht „von hier“ sein. Er hatte keine Diener, die kämpfen konnten, damit Er nicht Seinen Feinden überliefert würde.
Dieser gegenwärtige Verlust Seines Reiches macht jedoch Seinen Anspruch darauf nicht ungültig; denn wenn der Herr auch den augenblicklichen Verlust des Reiches anerkennt, so tut Er es doch in einer Form, die Seinen Anspruch darauf klar zum Ausdruck bringt, so dass Pilatus sofort fragt: „Also bist du doch ein König?“ Auf diese Frage hin hat Er das „gute Bekenntnis bezeugt“ (1Tim 6,13).
Pilatus hätte keine Ursache gehabt, das Missfallen seines Herrn oder den Tumult des Volkes zu fürchten, er hätte furchtlos seinem Willen folgen und seinen Gefangenen losgeben können, wenn der hochgelobte Bekenner Sein Wort geändert und Seine Ansprüche auf das Königtum zurückgezogen hätte. Aber Jesus antwortete: „Du sagst es, dass ich ein König bin.“ Es gab kein Zurückziehen Seines Anspruches. Hierin bestand Sein gutes Bekenntnis vor Pontius Pilatus. Obwohl die Seinigen Ihn nicht annahmen, gehörte Er ihnen doch; obwohl die Welt Ihn nicht kannte, ward sie doch durch Ihn, und obwohl die Weingärtner Ihn hinauswarfen, war Er doch der Erbe des Weinbergs. Er war gesalbt für den Thron Zions, obwohl Seine Bürger nicht wollten, dass Er über sie herrschte, und Er musste durch Sein gutes Bekenntnis Seinen Anspruch darauf völlig erweisen, und zwar vor der ganzen Macht der Welt. Mochten auch alle Waffen dieser Macht gegen Ihn gerichtet sein, es musste getan werden. Herodes und ganz Jerusalem waren einst in Bewegung geraten, als sie hörten, dass der König der Juden geboren wäre, und Herodes hatte das Kindlein umzubringen getrachtet. Mag auch jetzt die ganze Welt sich erregen und ihre bewaffnete Macht gegen Ihn richten, Er muss Gottes Beschluss verkünden: „Habe ich doch meinen König eingesetzt auf Zion, meinem heiligen Berg!“ (Ps 2,6). Sein Recht musste bezeugt werden, auch in der Gegenwart des unrechtmäßigen Machthabers und gerade in der Stunde seiner Macht.
Nun kommen wir zu weiteren Offenbarungen. Nachdem das gute Bekenntnis bezeugt war, schickte der Herr sich an, andere Teile des göttlichen Ratschlusses zu enthüllen. Nach dem Er Seinen Anspruch auf das Reich angesichts der Welt in bestimmtester Weise kundgetan hatte, war Er bereit, Seinen gegenwärtigen Charakter und Dienst zu bezeugen. „Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich der Wahrheit Zeugnis gebe. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört meine Stimme“ (Joh 18,37).
Der Unglaube der Nation hinderte Ihn für eine Zeit an dem Besitz des Reiches, aber dadurch wurden die Ratschlüsse Gottes nicht aufgehoben. War Er doch in die Welt gekommen, um gegenwärtig ein anderes Werk zu tun, als den Thron Israels zu besteigen. Er war gekommen, um der Wahrheit Zeugnis zu geben, und unser Evangelium zeigt den Herrn gerade in diesem Dienst. Gleich zu Beginn wird gesagt: „Der eingeborene Sohn, der im Schoß des Vaters ist, der hat ihn kundgemacht.“ Er war in die Welt gekommen, um sagen zu können: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“, und um uns ein Verständnis zu geben, „damit wir den Wahrhaftigen erkennen“ (1Joh 5,20). Er hatte den Namen des Vaters denen geoffenbart, die Ihm aus der Welt gegeben worden waren, und dies ist dasselbe wie der Wahrheit Zeugnis geben (Joh 8,26.27). Jeder, der aus der Wahrheit war, hörte Seine Stimme, wie Er zu Pilatus sagt. Seine Schafe hatten sie gehört, während andere nicht glaubten, weil sie nicht Seine Schafe waren. Jeder, der aus Gott war, hörte sie; andere hörten sie nicht, weil sie nicht aus Gott waren (Joh 8,47).
Darin bestand der gegenwärtige Dienst des Herrn, während Israel im Unglauben war. Obwohl Er König der Juden und als solcher König der ganzen Erde war, konnte Er Sein Reich noch nicht in Besitz nehmen, weil Sein Anrecht darauf von Seinem Volk geleugnet wurde. Er musste einen anderen Dienst aufnehmen, und den Charakter dieses Dienstes, wie er uns in dem ganzen Evangelium vorgestellt wird, offenbart Er hier dem Pilatus.