Behandelter Abschnitt Joh 19,1-5
Dann nahm nun Pilatus Jesus und ließ ihn geißeln. Und die Soldaten flochten eine Krone aus Dornen und setzten sie auf sein Haupt und warfen ihm ein Purpurgewand um; und sie kamen auf ihn zu und sagten: Sei gegrüßt, König der Juden! Und sie schlugen ihm ins Angesicht. Und Pilatus ging wieder hinaus und spricht zu ihnen: Siehe, ich führe ihn zu euch heraus, damit ihr wisst, dass ich keinerlei Schuld an ihm finde. Jesus nun ging hinaus, die Dornenkrone und das Purpurgewand tragend. Und er spricht zu ihnen: Siehe, der Mensch! (19,1–5).
Hartherzigkeit und Beleidigung nahmen ihren Lauf, denn seine Stunde war gekommen. Pilatus nahm Jesus, den Herrn der Herrlichkeit, und geißelte Ihn; die Soldaten behandelten ihren sanftmütigen Gefangenen mit der gefühllosen Verachtung, die für jemanden, der sich nicht wehrte, selbstverständlich ist; und doch müssen wir bei den Juden auf einen extremen und unerbittlichen Hass blicken.
Der Römer durchschaute die Niedertracht des Volkes, die List und tödliche Bosheit der religiösen Oberhäupter; und er scheint zu der ungerechten Politik der Geißelung des Herrn gegriffen zu haben, gefolgt von dem erlaubten, wenn nicht vorgeschriebenen, Spott der Soldaten, als Mittel, die Juden zufriedenzustellen und Jesus gehen zu lassen. Entgegen der Wahrheit und Rechtschaffenheit wollte er ihre Gefühle gegen Jesus besänftigen, aber er wollte einen unschuldigen Mann retten, wenn möglich, ohne sich selbst zu schaden. So ist der Mensch in Autorität hier auf der Erde – zumindest, wenn es um Christus geht, oder sogar um die, die Christus angehören. Es war der Ort des Gerichts, aber die Bosheit war dort; und der Ort der Gerechtigkeit, aber die Ungerechtigkeit war dort. Es gab nicht einen Funken Gewissen in dem Richter, genauso wenig wie in den Anklägern oder in der Menge, die jetzt ganz mitgerissen wurde. Da war der Mensch von Satan verführt; und Gott war in keinem ihrer Gedanken. Pilatus hoffte wahrscheinlich, dass das klaglose Ertragen solch grausamer Verspottung und Geißelung vor ihren Augen die Menge und ihre Anführer vielleicht zum Mitleid bewegen würde, während die entlarvte Vergeblichkeit der königlichen Ansprüche Jesu natürlich ihre Verachtung wecken und so in beiderlei Hinsicht seinen eigenen Wunsch fördern würde, den Gefangenen zu entlassen, in dem er erklärtermaßen überhaupt keine Schuld sah. Aber nein! Alle müssen in ihrem wahren Gesicht erscheinen – Priester und Volk, Gelehrte und Ungelehrte, Zivilisten und Soldaten, Richter und Gefangene. Es war ihre Stunde und die Macht der Finsternis. Aber wenn der Mensch und der Satan da waren, so war es auch Gott, der sie alle moralisch richtete durch den, den sie verkannt hatten.
In dieser blinden und verstockten Menge glänzt der Römer, so ungerecht er auch war, im Vergleich zu den Juden aller Ränge, und als die Schwierigkeit wuchs, die Schuldlosen von ihrem auf Zerstörung ausgerichteten Willen zu befreien, sehen wir einen Mann, der trotz seiner selbst immer mehr von der unerklärlichen Würde dessen beeindruckt ist, der ihm ausgeliefert zu sein schien. An anderer Stelle lesen wir zwar von dem Traum seiner Frau, die zu ihm sandte, um ihn vor dem Richterstuhl zu warnen (Mt 27,19); aber hier ist es seine Person, mit seinem Schweigen und seinen Worten gleichermaßen, die den Wunsch verstärkten, Ihn von skrupellosen und mörderischen Widersachern zu befreien, die in den Augen des Pilatus immer verachtet wurden, aber nie so verachtenswert waren wie jetzt.
Das Bemühen des Pilatus war jedoch vergeblich. „Siehe, der Mensch!“ hatte weder das Mitleid noch die Verachtung zur Folge, die die Menge von ihrem Vorhaben abbringen sollte, sondern schürte vielmehr ihre Wut, indem sie erneut den Tod des Herrn forderte. In den Wegen Gottes wird Er nicht zulassen, dass Ungerechtigkeit gedeiht, am allerwenigsten dort, wo es um Christus geht. Der ungerechte Richter mochte den Herrn beschimpfen und beleidigen, in der Hoffnung, die Juden auf diese Weise zufriedenzustellen und sie von einem Ziel abzubringen, vor dem sich sogar seine strenge und gefühllose Gesinnung als nutzloses Verbrechen empörte. Aber Gott, der ihrer aller schreckliche Ungerechtigkeit verabscheute, lässt Satan sie alle in die Folgen ihres völligen Unglaubens und ihres gewohnheitsmäßig bösen Zustandes verstricken – taub für jede Warnung und blind für das vollste Zeugnis der moralischen Güte und göttlichen Herrlichkeit und vollkommenen Gnade in dem heiligen Leidenden vor ihnen. Wie der Richter seine Unschuld anerkannte, aber nichts für ihn riskieren wollte, so verpflichten und verdammen sich alle zu ihrem eigenen Verderben, indem sie über den kostbaren Eckstein und die sichere Grundlage stolpern wie über einen Stein, den die Bauleute verwerfen (Ps 118,22).