Behandelter Abschnitt Joh 6,1-71
Eine neue Szene öffnet sich hier vor unseren Blicken. Es war Passah, aber Israel hatte die Gnade Gottes, die sich in der Passahzeit zeigte, missachtet. Sie hatten die Lektion Ägyptens und der Wüste noch zu lernen, und der Herr wollte sie, obwohl sie ihn schon so oft provoziert hatten, noch einmal in geduldiger Liebe belehren.
Dementsprechend gab Er der Volksmenge an einem öden Ort zu essen, indem Er so die Gnade und Macht Dessen offenbart, der ihre Väter vierzig Jahre lang in einer anderen Wüste gespeist hatte. Die Jünger wundern sich ungläubig wie Mose und sprechen gleichsam: „Soll Kleinvieh und Rindvieh für sie geschlachtet werden, dass es für sie ausreiche?“ Aber Seine Hand ist nicht zu kurz. Er speist sie, und dies weckt Eifer in der Volksmenge, so dass sie ihn gewaltsam zum König machen wollen. Aber der Herr wollte das Königtum nicht aus der Hand solchen Eifers nehmen, der nicht der Ursprung des Reiches des Sohnes des Menschen sein konnte.
Die großen Tiere in Daniel 7,3 mochten ihre Reiche von den Winden nehmen, die auf das große Meer losbrachen, aber Jesus konnte das nicht. Das war hier nicht Seine Mutter, die Ihn krönte am Tag Seiner Vermählung (Hld 3,11), es war für Sein Ohr auch nicht der laute Zuruf des Volkes, den Schlussstein herauszubringen (Sach 4,7), noch ein Zeichen dafür, dass Sein Volk voller Willigkeit war am Tag Seiner Macht (Ps 110,3). Es würde vielmehr eine Berufung auf den Thron Israels sein aus wenig besseren Motiven als es vor alters die Berufung Sauls gewesen war. Sein Königtum würde die Frucht eines hitzigen Begehrens des Volkes gewesen sein, wie dasjenige Sauls die Frucht ihres aufrührerischen Herzens gewesen war. Aber das konnte nicht sein. Und zudem: ehe der Herr Seinen Sitz auf dem Berg Zion einnehmen konnte, musste Er erst auf einen einsamen Berg steigen, und ehe das Volk ins Reich eingehen konnte, musste es erst zu dem stürmischen See hinabgehen.
Diese Dinge werden hier wie in einem Spiegel gezeigt. Der Herr wird eine Weile auf dem Berg gesehen, während sie den Angriff des Windes und der Wellen aushalten. Aber zur rechten Zeit steigt Er von Seiner Höhe herab, bringt den Sturm zur Ruhe und führt sie in den ersehnten Hafen. Und so wird es bald sein. Er wird in Macht vom Himmel kommen, zu welchem Er jetzt aufgefahren ist, um die bedrängten Seinigen zu befreien. Dann werden sie „seine Wunderwerke in der Tiefe“ sehen und Ihn „wegen seiner Güte“ preisen und wegen „seiner Wundertaten an den Menschenkindern“ (Ps 107,23-32)10.
Der Herr konnte nichts anderes tun, als sich von dieser Gunst des Volkes zurückziehen. Als himmlischer Fremdling konnte er in seiner Seele nur eine vollständige Trennung von diesen Dingen empfinden.
Er zieht sich zurück und beginnt am folgenden Tag ein völlig anderes Werk. Er offenbart das Geheimnis des wahren Passah und des Manna in der Wüste, ein Geheimnis, das sie noch zu lernen hatten.
Sie mussten noch die Kraft des Kreuzes, des wahren Passah, erfahren, das von Ägypten, von der Knechtschaft des Fleisches und von dem Urteil des Gesetzes befreit, und das den Sünder befähigt zu sagen: „Ich bin mit Christus gekreuzigt, und nicht mehr lebe ich“. Der Lohn der Sünde ist der Tod, und am Kreuz fand die Sünde ihren Lohn. Der Tod bekam sein Recht, und das Gesetz konnte mit seiner eigenen Rechtfertigung zum Thron Gottes zurückkehren, denn es hatte seine Aufgabe erfüllt.
Christus war gestorben, und zwar für uns gestorben. Dies ist das wahre Passah, die Macht der Erlösung. In seinem Schutz verlassen wir Ägypten, den Ort der Knechtschaft, und kommen mit dem Sohn Gottes in die Wüste, um dort mit dem Manna gespeist zu werden und um von jedem Wort, das aus dem Mund Gottes hervorgeht, zu leben.
Obwohl diese beiden Dinge in mancher Hinsicht verschieden sind, scheint der Herr in Seiner Rede die Geheimnisse des Passah und des Manna miteinander zu verbinden. Es war zur Zeit des Passahs, als Er zu ihnen über das Manna sprach. Denn beides gehörte zu dem gleichen Israel und zu demselben Leben. Das Blut des Passahlammes zur Erlösung befand sich an dem Türsturz, während das Lamm im Haus gegessen wurde. Der Israelit war in lebendiger Gemeinschaft mit dem, was ihm Sicherheit gab. Und dies war für ihn der Beginn des Lebens; in seiner Kraft schritt er voran, um das Manna in der Wüste zu essen.
Aber Israel, wie wir es hier finden, war noch nicht aus der Knechtschaft Ägyptens zu den Weidegründen Gottes in der Wüste gelangt. Sie bewiesen, dass sie dieses Leben noch nicht kannten, und dass sie in Wirklichkeit bis jetzt weder das Passah gefeiert, noch von dem Manna gegessen hatten. Sie murrten über Ihn. Ihre Gedanken waren zu sehr von Mose erfüllt. „Brot aus dem Himmel gab er ihnen zu essen“, sagten sie. Aber ehe sie wirklich von dem Manna essen konnten, mussten sie die Wege der Liebe betreten und in die Gedanken des Vaters, und nicht in diejenigen von Mose, eingehen. Denn Liebe ist es, die uns zum Kreuz führt.
Mose gab ihnen niemals dieses Brot, denn das Gesetz bereitete niemals ein Fest. Es ist die Liebe, die das tut, und die Liebe muss ergriffen werden, während wir auf dem Fest sind. Das ist der Grund, warum so wenige Gäste da sind; denn der Mensch hat harte Gedanken über Gott und stolze Gedanken über sich selbst. Wenn wir aber ein Fest feiern wollen, müssen wir über Gott gute Gedanken und demütige, selbstverleugnende über uns selbst haben. Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn auf Grund der Erlösung, Gemeinschaft mit Gott in Liebe ist Leben. Israel aber hatte diese Gemeinschaft nicht. Sie stoßen Ihn von sich und wenden sich in ihren Herzen nach Ägypten zurück, und sie sterben in der Wüste. Nur ein Überrest nährt sich von den „Worten des ewigen Lebens“ und lebt, ein Überrest, der um sich her nur eine unfruchtbare Öde sieht, die ohne Ihn kein Brot hervorbringt, ein „dürres und durstiges Land“ von einem Ende zum anderen, bis auf den Felsen, der ihnen „nachfolgte“. Diese sagen zu Ihm: „Zu wem sollen wir gehen?“
Woher kommt dieser Überrest? „Nach Wahl der Gnade“, wie der Herr hier weiter lehrt, indem Er uns die Wirksamkeit des Vaters in dem Geheimnis unseres Lebens zeigt, dass Er es ist, der alle, die zu Ihm kommen, dem Sohn gibt und zum Sohn zieht. Sein Lehren und Sein Ziehen bilden die verborgenen Kanäle, durch welche uns dieses Leben erreicht. „Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte ewigen Lebens; und wir haben geglaubt und erkannt, dass Du der Heilige Gottes bist.“ Dies ist der Glaube und die Sprache des auserwählten Überrestes, der, aus Ägypten kommend, durch den Glauben an den Sohn Gottes lebt, und zwar an den gekreuzigten Sohn Gottes; denn unser Leben ist gegründet auf Seinen Tod und auf den Glauben, der sich von diesem Tod nährt. Nur wer Christus als den Gekreuzigten annimmt, empfängt Leben. Nicht Seine Tugenden sind es, Seine Lehren, Sein Beispiel oder etwas dergleichen, sondern Sein Tod ist es, Sein Fleisch und Blut, von dem wir uns nähren müssen. Einzig und allein Sein Tod vollendete, was alles andere weder tat noch tun konnte.
Der gepriesene Herr starb, gab den Geist auf und übergab das Leben, das Er hatte, und das von Ihm zu nehmen niemand berechtigt war. Aber in dem Augenblick, als dieses vollbracht war, kamen Ergebnisse hervor, die Sein ganzes Leben niemals hätte hervorbringen können. Erst dann, nicht früher, zerriss der Vorhang des Tempels, zerbarsten die Felsen und taten sich die Gräber auf, Himmel, Erde und Hölle fühlten eine Macht, die ihnen vorher unbekannt war. Das Leben Jesu, Seine Wohltaten an dem Menschen, Seine Unterwürfigkeit unter Gott, der Wohlgeruch Seiner fleckenlosen menschlichen Natur, die Heiligkeit Seiner Geburt von einer Jungfrau, nichts von diesem allem und auch nicht dieses alles zusammen, nichts in Ihm und an Ihm, von Ihm und durch Ihn, nichts anderes als die Hingabe Seines Lebens hätte den Vorhang zerreißen oder die Gräber auftun können. Der Abstand von Gott wäre erhalten geblieben, die Hölle wäre nicht besiegt und der, welcher die Macht des Todes hatte, wäre nicht zunichte gemacht worden. Das Blut Christi hat vollbracht, was nichts anderes vollbringen konnte. Über Ihn, der so gepredigt und uns vor Augen gestellt wird, ist nur noch zu sagen: „Wer den Sohn hat, hat das Leben.“
Dies lässt mich noch ein wenig bei einem Gegenstand verweilen, der mit unserem Leben, von dem dieses Kapitel spricht, eng verknüpft ist. Unter dem Gesetz mussten alle geschlachteten Tiere an den Eingang der Stiftshütte gebracht werden (3Mo 17). Dadurch wurde zum Ausdruck gebracht, dass das Leben zu Gott zurückgekehrt und nicht in der Macht des Menschen war. Unter dem Gesetz Blut zu essen würde den Versuch bedeutet haben, das Leben in die eigene Gewalt zurückzubringen, einen Versuch, durch den Menschen das zu erreichen, was er selbst verwirkt hatte. Aber jetzt, in der Zeit der Gnade, hat sich diese Vorschrift geändert. Sein Blut muss gegessen werden. „Wenn ihr nicht das Fleisch des Sohnes des Menschen esst und sein Blut trinkt, so habt ihr kein Leben in euch selbst.“ Denn das Leben, das zu Gott zurückgekehrt war, hat Gott gegeben, um Sühnung zu tun. Das Blut des Neuen Testamentes wurde vergossen zur Vergebung der Sünden, und durch dieses Blut wird den Sündern jetzt Leben in dem Sohn Gottes gegeben. „In ihm war Leben.“ Er kam von Gott und brachte uns das Leben. „Wer den Sohn hat, hat das Leben.“ Und wir werden aufgefordert und gebeten, das Leben von Ihm anzunehmen.
Wahrlich, wir können sagen, dass unser Gott auf diese Weise unsere Annehmlichkeit und Sicherheit vor Ihm so vollkommen gemacht hat, dass es bei uns entweder purer Ungehorsam ist, wenn wir das Leben von Ihm als Seine Gabe nicht annehmen, oder aber Hochmut und Anmaßung des Herzens, wenn wir es durch unsere eigenen Werke glauben erlangen zu können. Welch ein Beweis der Liebe zu unseren Seelen! Wir sind ungehorsam, wenn wir uns nicht retten lassen. Der Tod ist sowohl der Feind Gottes als auch des Menschen, und wir verbinden uns mit dem Feind Gottes, wenn wir das Leben von dem Sohn nicht annehmen. „Ihr wollt nicht zu mir kommen, damit ihr Leben habt“, sagt Er in Johannes 5,40. Wenn Er gerade in unserem Kapitel von gewissen Personen gefragt wird: „Was sollen wir tun, um die Werke Gottes zu wirken?“, hat Er nur die eine Antwort: „Dies ist das Werk Gottes, dass ihr an den glaubt, den er gesandt hat.“ Der einzige Akt des Gehorsams, den der gepriesene Gott von einem Sünder verlangt, und die einzige Sache, die ein Sünder, bevor er versöhnt ist, tun kann, um Ihm zu gefallen, ist, dass er glaubt und das Leben als die Gabe Gottes durch Seinen Sohn annimmt.
Das ist wunderbar und herrlich geoffenbarte Gnade. Die Verordnung, dass kein Blut gegessen werden durfte, war wie das flammende Schwert der Cherubim im Garten Eden. Beides, jenes Schwert und diese Verordnung, sagte dem Sünder, dass es keine Wiederherstellung des verwirkten Lebens auf der Grundlage irgendwelcher eigenen Anstrengungen gab. Adams Glaube entfaltete sich hier in lieblicher Weise. Er versuchte nicht, das Schwert zurückzuschieben, als ob er dadurch den Baum des Lebens wiedergewinnen könnte, sondern er nahm durch die Gnade das Leben von Gott und die Gabe in Gnade. Er glaubte der Verheißung über den Samen der Frau, und in diesem Glauben nannte er seine Frau „die Mutter aller Lebendigen“. Er nahm das Leben als die Gabe Gottes durch Christus und suchte es nicht in Werken des Gesetzes oder angesichts des flammenden Schwertes.
Das ganze Geheimnis von dem Leben des Sünders wird so schon von Anfang an sogar in dem Glauben Adams vorgebildet und in diesem Kapitel in gesegneter Weise in der Rede unseres Herrn an das Volk enthüllt. Dieses Leben beginnt mit der Macht der Erlösung, mit dem in Ägypten geschlachteten Passahlamm und dem Manna in der Wüste. Aber unser Kapitel zeigt uns, dass Israel dem noch fremd gegenüberstand, und dass sie die Lektion Ägyptens und der Wüste noch nicht gelernt hatten, die auf der Kenntnis der Erlösung und des Lebens in Christus Jesus beruht.
10 In den entsprechenden Stellen in Matthäus und Markus lesen wir, dass der Herr auf den Berg steigt, um zu beten. Das wird hier nicht erwähnt. Tatsächlich wird der Herr Jesus im Johannesevangelium nicht im Gebet gezeigt, außer in Johannes 17, wo das Gebet aber vielmehr Fürbitte ist. Das entspricht völlig dem Charakter unseres Evangeliums.↩︎