Einleitung
Der Apostel Paulus schrieb diesen Brief, um den Gläubigen in Rom das Evangelium bekanntzumachen, das er unter den Heiden predigte. Zur Zeit der Abfassung des Briefes war er noch nicht in Rom gewesen und kannte daher nicht alle Gläubigen dort – obwohl er in Kapitel 16 einige namentlich erwähnt, die er kannte. Da dies der Fall war, hatte Paulus Grund zu der Annahme, dass die Gläubigen in Rom vielleicht nicht das vollständige Evangelium kannten, das er predigte und das er „mein Evangelium“ nennt (Röm 2,16; 16,25). Deshalb führt er sie in diesem Brief systematisch ein in die Einzelheiten des Evangeliums, das er predigte. Es war ihm ein Anliegen, diese Gläubigen in der grundlegenden Wahrheit des Evangeliums zu verankern (Röm 1,11).
Die Hauptabschnitte des Römerbriefes
Paulus sagte zu Timotheus, dass der „Arbeiter“, der die Wahrheit lehren und dabei sich „Gott als bewährt“ darstellen möchte, „das Wort der Wahrheit recht teilen“ muss (2Tim 2,15). In Gottes Wort gibt es also Einteilungen, die wir zur Kenntnis nehmen müssen, wenn wir die Schrift richtig verstehen wollen. Den Römerbrief kann man in drei Abschnitte und in eine Reihe von Unterabschnitten einteilen. Unser Ziel ist es daher, diese Unterteilungen und den Grund für ihr Vorhandensein festzustellen und auf diese Weise diejenigen zu unterrichten, die nach einem besseren Verständnis der Wahrheit des Evangeliums suchen. Diese Hauptabschnitte sind:
Römer 1-8: lehrmäßig
Römer 9-11: dispensational
Römer 12-15: praktisch
Römer 16 ist ein Empfehlungsschreiben, das dem Brief als Ergänzung oder Anhang beigefügt wurde und den Gläubigen in Rom zur gleichen Zeit wie der eigentliche Brief zugestellt wurde. In gewissem Sinne könnte man sagen, dass der Römerbrief aus zwei Briefen besteht.
Die Entwicklung der Wahrheit in den Paulusbriefen
In den Lehrbriefen des Paulus gibt es eine klare Abfolge von Wahrheiten im Zusammenhang mit unserer Einsmachung in Christus. tot gekreuzigt begraben tot gekreuzigt Römer auferweckt lebendig gemacht begraben tot sitzend auferweckt lebendig gemacht ––––––
Galater ––––––
Kolosser
–––––– ––––––
Epheser
Der Galaterbrief geht nur so weit, dass wir uns mit dem „gekreuzigten“ und „toten“ Christus einsmachen (Gal 2,19.20). Der Römerbrief geht noch einen Schritt weiter und sieht den Gläubigen mit Christus „begraben“ (Röm 6,4). Der Kolosserbrief sieht den Gläubigen auf einer noch höheren Ebene: Wir sind nicht nur tot und begraben, sondern auch „mitlebendig gemacht“ und „auferweckt“ mit Ihm (Kol 2,13). Der Epheserbrief stellt Christus nicht einmal als „gekreuzigt“, „tot“ oder „begraben“ dar. Er sieht den Gläubigen auf der höchsten Ebene mit Christus auf der anderen Seite des Todes: als „lebendig gemacht“, „auferweckt“ und in Ihm „sitzend“ in den himmlischen Örtern (Eph 2,6).
Zwei Sichtweisen des fleischlichen Menschen in den Paulusbriefen
Der gefallene Zustand des Menschen wird in den Paulusbriefen auf zwei verschiedene Arten betrachtet:
Der Kolosser- und der Epheserbrief betrachten den Menschen als tot in seinen Sünden (Eph 2,1-3; Kol 2,13).
Der Römer- und der Galaterbrief betrachten den Menschen als lebendig in seinen Sünden (Röm 1,32; Gal 1,4).
Im Römerbrief wird Christus selbst als der Lebendige auf Erden betrachtet, der aus dem Samen Davids nach dem Fleisch stammt und zum Sohn Gottes erklärt wird (Röm 1,3.4). Im Kolosserbrief und im Epheserbrief hingegen wird Christus als tot betrachtet, und die Macht Gottes wurde auf Ihn angewandt, indem Er Ihn aus den Toten auferweckt und zur Rechten Gottes gesetzt hat (Eph 1,19-21).
Das Heilmittel für den zweifach gefallenen Zustand des Menschen findet sich in Christus auf zweierlei Weise: in seinem Tod und in seiner Auferstehung. Nach dem Menschenbild der Römer lebte der Mensch auf der Erde als schuldiger Sünder vor Gott. Er ist so sehr von der Unordnung seiner Sünden betroffen und steht unter der Herrschaft seiner sündigen Natur, dass er seinen sündigen Lebenswandel nicht beenden kann. Gottes Art und Weise, ihn von seinem Zustand zu befreien, ist, ihn zu töten. Dies ist die Linie der Wahrheit, die im Römerbrief entwickelt wird. Der Tod Christi (und unsere Einsmachung mit Ihm) wird als Heilmittel für diesen Zustand ins Spiel gebracht. Christus ist gestorben und hat sein Blut vergossen (Röm 3,25; 4,25; 5,6-8), um die Sünden des Gläubigen zu tilgen, aber auch, um dem Sünder vor Gott ein Ende zu setzen und so seine Verbindung mit dem Zustand, in dem er lebt, zu lösen (Röm 6,1-11; Gal 2,20).
Der Epheserbrief sieht den Menschen als tot in Übertretungen und Sünden (Eph 2,1), und das Heilmittel für ihn liegt in der Kraft Gottes, die Christus aus den Toten auferweckt hat (Eph 1,19-21) und die ihn zusammen mit Christus lebendig macht (Eph 2,5). So wird er aus dem Zustand des Todes befreit, in dem er festgehalten wurde.
Zwei Positionen des Christen im Römer- und Epheserbrief
Christen werden gegenwärtig in zwei verschiedenen Positionen gesehen:
Im Römerbrief wird der Gläubige als jemand betrachtet, der auf der Erde lebt und darauf wartet, dass der Herr kommt, um ihn in den Himmel zu holen (Röm 8,11.25; 13,11).
Im Epheserbrief wird der Gläubige als in den himmlischen Örtern in Christus sitzend betrachtet, und die Ankunft des Herrn (die Entrückung) wird nicht erwähnt (Eph 2,5.6).
Kapitel 1
Einleitender Gruß (V. 1-17)
Als Paulus diesen Brief schrieb, war er noch nicht in Rom gewesen, und daher nahm er sich etwas mehr Zeit als sonst in seinen Briefen, um sich den Gläubigen dort vorzustellen.
Röm 1,1: Paulus, Knecht Christi Jesu, berufener Apostel, abgesondert zum Evangelium Gottes …
Ein „Knecht“ Christi bedeutet mehr, als an den Herrn Jesus Christus gläubig zu sein. Es ist eine persönliche Übung im Leben eines Gläubigen, der sich freiwillig der Sache Christi in dieser Welt hingeben und so sein Diener werden will. Der Herr befiehlt niemand, sein Knecht zu sein; alle, die sich zu Knechten machen, tun dies aus eigenem Willen. Diese Seelenübung ergibt sich aus der Erkenntnis, dass wir „um einen Preis erkauft worden“ sind (1Kor 6,20; 7,22.23). Wenn wir den Preis unserer Erlösung bedenken – dass Christus in Liebe und Erbarmen bereitwillig unseren Platz unter dem Gericht Gottes eingenommen hat, um uns zu retten –, wird unser Herz tief bewegt, und unsere Antwort darauf ist, dass wir Christus unser Leben (unsere Zeit und Energie) geben als sein Diener. Paulus bezeichnet sich als ein „Knecht Christi Jesu“. Damit will er ausdrücken, dass er diese Übung durchlaufen und sich vorbehaltlos der Herrschaft Christi unterstellt hat, um im Dienst Christi auf jede von Ihm gewünschte Weise eingesetzt zu werden. So stellt er sich den Römern als jemand vor, der Christus völlig „abgesondert [ausgeliefert]“ war.
In der englischen King-James-Bibel (KJV) heißt es: „Knecht Jesu Christi“, aber einige Übersetzungen geben es als „Knecht Christi Jesu“ wieder, was wir für richtig halten. Dies ist von Bedeutung. Wenn Paulus „Jesus Christus“ sagt – wobei er seinen menschlichen Namen („Jesus“) vor seinem Titel („Christus“ = der Gesalbte) verwendet –, bezieht er sich in der Regel auf sein Kommen in die Welt, um den Willen Gottes zu tun und die Erlösung zu vollbringen. Wenn Paulus hingegen „Christus Jesus“ sagt (und seinen Titel vor seinen Namen als Mensch setzt), bezieht er sich darauf, dass Er die Erlösung vollendet hat und auferstanden und aufgefahren ist und als verherrlichter Mensch zur Rechten Gottes sitzt. Es ist interessant, zu sehen, dass Petrus sich als Knecht und Apostel „Jesu Christi“ bezeichnet (1Pet 1,1; 2Pet 1,1), während Paulus sich als Knecht und Apostel „Christi Jesu“ sieht. Das liegt daran, dass Petrus den Herrn kennenlernte und von Ihm berufen wurde, als der Herr bei seinem ersten Kommen in die Welt kam, während Paulus den Herrn kennenlernte, als der Herr ein verherrlichter Mensch in der Höhe war, und von Ihm als solcher berufen wurde.
Weil die Gläubigen in Rom seiner Meinung nach etwas über seine persönliche Geschichte mit dem Herrn wissen sollten, erwähnt Paulus in Vers 1 zwei Ereignisse, die sich in seinem Leben zugetragen hatten. Erstens ist er ein „berufener Apostel“. Seine Berufung geschah auf dem
Weg nach Damaskus, als er sich dem Herrn im Glauben unterwarf (Apg 9,1-6). In der KJV heißt es: „berufen, ein Apostel zu sein“. Die Worte „zu sein“ sind kursiv gedruckt, was darauf hinweist, dass sie nicht im griechischen Text stehen, sondern von den Übersetzern hinzugefügt wurden, um die Lesbarkeit des Textes zu erleichtern. Leider sind diese Worte, auch wenn sie gut gemeint sind, irreführend und implizieren, dass Paulus nach seiner Errettung ein bestimmtes religiöses Verfahren durchlaufen musste, um ein Apostel zu werden. Dies erinnert an die in der Kirche seit Jahrhunderten vorherrschende Vorstellung von einem Klerus, wonach jemand eine Ausbildung auf einem theologischen Seminar erhält und anschließend zum „Amt“ geweiht wird. Der Text sollte jedoch lauten: „berufener Apostel“ oder „ein Apostel durch Berufung“. Das bedeutet, dass er sein Apostelamt in dem Moment erhielt, als er dem Ruf des Evangeliums gehorchte und gerettet wurde.
Der zweite Punkt, den Paulus erwähnt, ist, dass er „abgesondert wurde zum Evangelium Gottes“. Dies geschah etwa zehn Jahre später in Antiochia, als der Geist Gottes sagte: „Sondert mir nun Barnabas und Saulus zu dem Werk aus, zu dem ich sie berufen habe“ (Apg 13,2). Paulus erhielt also sein Apostelamt in dem Moment, als er gerettet wurde, aber er wurde erst später vom Herrn gesandt, um das Werk eines Apostels zu tun. Das bedeutet: Obwohl er ein Apostel war und sich als Knecht Christi unter seine Herrschaft gestellt hatte, brauchte er Zeit, um in den Dingen Gottes zu wachsen und zu reifen, bevor er in diesem Werk eingesetzt werden konnte. Dieser Prozess des geistlichen Wachstums und der Reife ist bei jedem Bekehrten notwendig (2Pet 3,18).
Das Wort „Evangelium“ bedeutet „gute Nachricht“ oder „frohe Botschaft“. Die Botschaft des Evangeliums ist also die frohe Botschaft Gottes an die Menschen. Sie ist eine gute Nachricht, weil sie das gnadenvolle Handeln Gottes gegenüber den Menschen verkündet, das deren Segen sucht (Gnade ist die unverdiente Gunst Gottes gegenüber dem Menschen.). Indem Paulus sagt, dass das Evangelium „von Gott“ ist, weist er darauf hin, dass Gott die Quelle dieser guten Nachricht ist. Alles entspringt seinem liebenden Herzen; Er hat den Heilsplan gezeichnet und ihn in Gnade zu den Menschen gebracht.
Das „Evangelium Gottes“, das Paulus verkündete, besteht aus zwei Teilen. Er unterscheidet sie an anderer Stelle als
„das Evangelium der Gnade Gottes“ (Apg 20,24) und
„das Evangelium der Herrlichkeit des seligen Gottes“ (1Tim 1,11; 2Kor 4,4).
Das Evangelium der Gnade Gottes betont das Kommen Christi in diese Welt, um die Erlösung zu vollbringen; es konzentriert sich auf die herablassende Gnade Gottes, die herabkommt, um den Menschen in seiner Not zu begegnen durch das, was Christus am Kreuz vollbracht hat. Das Evangelium der Herrlichkeit Gottes betont, dass Christus in den Himmel als verherrlichter Mensch aufgefahren ist. Diesen letzten Aspekt nennt Paulus „mein Evangelium“. Ihm wurden besondere Offenbarungen zuteil über die Stellung und den gegenwärtigen Anteil des Gläubigen in Christus, dem verherrlichten Menschen zur Rechten Gottes (Gal 1,11.12). Paulus predigte und lehrte beide Aspekte des Evangeliums Gottes. In der Apostelgeschichte sehen wir ihn, wie er den Sündern das Evangelium der Gnade Gottes predigt (Apg 20,24), aber im Römerbrief sehen wir ihn, wie er die Gläubigen das Evangelium lehrt.