Behandelter Abschnitt Hab 1,1-4
Einleitung
Obwohl das Buch Habakuk eines der kürzesten Bücher des Alten Testaments ist, enthält die Prophezeiung Habakuks wichtige Wahrheiten, die niemand übersehen darf, der das Wort Gottes ehrfürchtig studiert. Trotz seiner Kürze wird im Neuen Testament direkter Bezug auf dieses Buch genommen oder mehrmals daraus zitiert.
Der große Apostel der Heiden hat eine besondere Vorliebe für dieses Buch und findet darin die inspirierte Autorität sowohl für die grundlegenden Lehren der Rechtfertigung durch Glauben als auch für die Gewissheit des Gerichtes, das über alle kommen wird, die das Zeugnis des Heiligen Geistes über den Herrn Jesus Christus ablehnen (vgl. Apg 13,40.41 mit Hab 1,5; und Röm 1,17; Gal 3,11; Heb 10,38 mit Hab 2,4). Offensichtlich besteht auch ein enger Zusammenhang zwischen Habakuk 3,17.18 und Philipper 4. Da wir uns diese Abschnitte im Verlauf unserer Betrachtung noch genauer ansehen werden, überspringen wir sie an dieser Stelle erst einmal.
Von Habakuk selbst ist wenig bekannt. Wie Johannes der Täufer ist auch Habakuk „die Stimme des Einen“, was er selbst jedoch nicht wusste. Allerdings wird seine Gemütsbewegung in seinem lebhaften und herzergreifenden prophetischen Gedicht lebendig geschildert. Die jüdische Tradition behauptet, dass er aus dem Stamm Simeon kam, und gewöhnlich wird angenommen, dass er ein Zeitgenosse von Jeremia gegen Ende des Dienstes dieses „weinenden Propheten“ war. Sein Buch scheint das auch zu beweisen, da es im Blick auf die noch bevorstehende Invasion der Chaldäer geschrieben ist. Es gibt keinen Anhalt für Habakuks Geburt oder Tod. Doch wird behauptet, dass er im Land blieb, als die siegreichen Heere Nebukadnezars die Masse des Volkes gefangen wegführten.
Das Buch ist in der Form eines Dialoges geschrieben, und seine Struktur ist außerordentlich einfach. Bedrückt darüber, dass im Volk Ungerechtigkeit und Missetaten vorherrschen, schüttet Habakuk sein Herz vor dem HERRN aus, der in seiner Gnade auf das Schreien seines Dieners antwortet. Eine Unterteilung ist leicht zu finden. Kapitel 1,1-4 ist die Klage des Propheten; die Verse 5 bis 11 sind die Antwort des Herrn darauf. Von Vers 12 bis 17 lesen wir den Einwand Habakuks. Der erste Vers im zweiten Kapitel steht für sich allein. Es gibt keine sofortige Antwort auf den Schrei, mit dem das vorherige Kapitel schließt. In den Versen 2 bis 4 geht der Herr weit über die Vorstellungen des Propheten hinaus, indem Er den Segen vorhersagt, den der Messias am Ende herbeiführen würde. Währenddessen „wird der Gerechte durch seinen Glauben leben“ (Hab 2,4). Die Antwort auf die Fragen in Kapitel 1 wird eigentlich in den Versen 5 bis 8 gegeben. Der Rest des Kapitels scheint prophetischer Dienst zu sein. Nachdem der Herr ihm das Ende mitgeteilt hat, gibt sein Diener das Wort des Herrn an vier Gruppen von Menschen weiter, die nicht in den Wegen Gottes gehen. Er spricht ein „Wehe“ aus über jede von ihnen: über den Habgierigen (Hab 2,9-11), den Ungerechten (Hab
2,12-14), den Maß- und Schamlosen (Hab 2,15-17) und den Götzendiener (Hab 2,18-20). Kapitel 3 beendet das Buch mit dem Gebet des Habakuk und ist einer der kostbarsten und erhabensten Abschnitte in den alttestamentlichen Schriften.
Die hauptsächliche Anwendung gilt natürlich Israel und Babylon in jenen dunklen Tagen, die dem Ende des Königs Josia folgten (der gleiche Zeitabschnitt wird im Hauptteil des Buches Jeremia behandelt). Dennoch enthält dieses Buch ernste und wichtige Prinzipien, die sich auf alle Nachfolger des Herrn zu allen Zeiten anwenden lassen. Da es „zu unserer Belehrung geschrieben“ ist (Röm 15,4), dürfen wir getrost über seine eindringlichen Kapitel nachsinnen, indem wir, wie der Prophet selbst, zuhören, „um zu sehen, was er mit [uns] reden wird und was [wir] erwidern sollen“ (Hab 2,1).
Dass Gott sich herabneigt, um das sehnsüchtige Schreien des Herzens seines Knechtes zu erhören, ist uns Ermutigung und Freude. Er beachtet das Rufen des Demütigen, aber „den Hochmütigen erkennt er von fern“ (Ps 138,6). „Er leitet die Sanftmütigen im Recht und lehrt die Sanftmütigen seinen Weg“ (Ps 25,9). Es steht außer Frage: Der vorrangige Grund dafür, dass wir im Allgemeinen so wenig Nutzen ziehen aus Gottes Wort, ist der erschreckende und vorherrschende Mangel an Selbstgericht und Zerbruch vor dem Herrn. Stolz, Hochmut und Selbstgenügsamkeit, die zu Überheblichkeit und wortreichem Streit führen, nehmen auf allen Seiten überhand, gepaart mit schwerer moralischer Laxheit und dem Unvermögen, die Dinge zu tun, die eben anders sind. Treue Unterordnung unter Gott und sein Wort kennt und schätzt man sehr wenig.
Im Großen und Ganzen haben wir vergessen, dass ein rechter moralischer Zustand vorhanden sein muss, um in die Dinge, die Gott betreffen, einzudringen, denn „geistliche Dinge werden geistlich beurteilt“ [1Kor 2,14]. Folglich sind fleischliche, selbstgefällige Christen oft solche, die ihren Mangel an echtem, geistgegebenem Dienst wieder wettmachen wollen, indem sie leere Binsenweisheiten und Ausdrücke (die an sich und in sich selbst zwar wahr und kostbar sind) empfangen oder ihnen zuhören. Routinemäßig gelernt, geben sie diese mechanisch und papageienartig weiter, anstatt auf Gott zu warten, bis seine Stimme in der Seele gehört wird und dadurch auf Herz und Gewissen der Hörer und des Redners zugleich wirkt.
In einer Zeit wie der unseren, wo „das viele Büchermachen kein Ende hat“ [Pred 12,12], ist es für jedermann mit durchschnittlicher Intelligenz einfach, eine ausreichende geistige Kenntnis der Wahrheiten der Schrift zu erwerben und diese dann in Gegenwart von weniger unterrichteten Menschen oder ungeistlichen Personen als ein Orakel göttlicher Weisheit vorzubringen. Aber in Wirklichkeit sieht das heilige Auge Gottes in all dem nichts als nur vergebliche Einbildung und Selbstgefälligkeit.
Die Wahrheit, die andere in tiefen geistlichen Übungen in der Schule Gottes gelernt haben, werden so an die bewundernde Menge von weltlichen Christen und Bekennern ohne Christus verkauft, die unfähig sind, das Wahre und Göttliche wahrzunehmen. Sie wird von Menschen verkauft, die selbst sehr wenig oder gar nichts wissen von der Kraft der Wahrheit in ihrer eigenen Seele und von der Unterwerfung unter Gott, die Hand in Hand geht mit den Lehren, die sie darlegen.
Das findet man besonders in Bezug auf die Lehren der Schrift über die Gemeinde. Wie viele reden heute wortgewandt von dem einen Leib und der Einheit des Geistes, haben aber offenbar kein echtes Interesse daran, weil sie diese Wahrheit in der Praxis verleugnen, indem sie sich mit unbiblischen und sektiererischen Systemen identifizieren. In diesen Systemen wird das Haupt der Versammlung praktisch abgelehnt und dem Heiligen Geist sein wahrer Platz verwehrt, während ein menschliches System von Klerus und Laien die göttliche Ordnung ersetzt, die in Gottes Buch niedergelegt ist!
Sicherlich kennen viele Menschen Jesus als ihren Retter und den Heiligen Geist als das Unterpfand ihres Erbes, aber sie haben nie gelernt, Christus als das eine Haupt der Gemeinde und den Heiligen Geist als die leitende Kraft in den Zusammenkünften wahrhaft anzuerkennen. Bei vielen ist das sicherlich das Ergebnis von Unwissenheit, und der große Hirte der Schafe wird den Mangel an Unterweisung und falscher Belehrung am Tag der Offenbarung berücksichtigen. An diesem Tag, der jetzt so nahe ist, „müssen wir alle vor dem Richterstuhl des Christus offenbar werden“ (2Kor 5,10). Aber wie viele von uns können diesen Einwand, dass sie unwissend waren, für sich geltend machen? Man rühmt sich seines Wissens, selbst wenn es kein entsprechendes Interesse an dem gegenwärtigen Zustand im Haus Gottes gibt und Weitherzigkeit und Unabhängigkeit an der Tagesordnung sind. Göttliche Übung fehlt traurigerweise, und das führt zur allgegenwärtigen Gleichgültigkeit gegenüber Christus und der Wahrheit.
In Habakuk sehen wir das ganze Gegenteil von alledem. Er war ein Mann, der tief ergriffen war von beidem: von dem Zustand seines Volkes – ja, seines eigenen Zustandes – und von Gottes Regierungswegen. Auch konnte er nicht ruhen, bis er die Gedanken des HERRN in allem hatte. Sein Buch ist deshalb von besonderem Wert in unserer verdorbenen, laodizeischen Zeit, die durch „hohe Wahrheit und niedrigen Wandel“ gekennzeichnet ist, wie jemand es bezeichnet hat. In eindringlicher Weise zeigt es die Wirkung geistlicher Empfindsamkeit (und die göttliche Antwort darauf) in einem Mann von gleichem Gemüt wie auch wir. Das werden wir in jedem Kapitel feststellen.
Kapitel 1
Die Verwirrung des Propheten
In den ersten Versen des ersten Kapitels wird uns die tiefe Bewegung der Seele des Propheten vorgestellt, die er aufgrund des gefallenen Zustandes des Volkes Juda empfand. Dieses Volk stand seinem Herzen nahe, nicht nur, weil sie sein Volk waren, sondern auch, weil er sich dessen bewusst war, dass sie Gottes besonderes Kleinod waren, das nun so durch Sünde beschmutzt und geschädigt war.
Hab 1,1-4: 1 Der Ausspruch, den Habakuk, der Prophet, geschaut hat. 2 Wie lange, HERR, habe ich gerufen, und du hörst nicht! Ich schreie zu dir: „Gewalttat!“, und du rettest nicht. 3 Warum lässt du mich Unheil sehen und schaust Mühsal an? Und Verwüstung und Gewalttat sind vor mir, und Streit entsteht, und Hader erhebt sich. 4 Darum wird das Gesetz kraftlos, und das Recht kommt niemals hervor; denn der Gesetzlose umzingelt den Gerechten: Darum kommt das Recht verdreht hervor.
Durch ein paar anschauliche Zeichenstriche zeigt Habakuk wie von Meisterhand die verschiedenen Übel, die die unglückliche Nation plagen. Es macht ihm deshalb auch keine Freude, die Sünden derer aufzuzeigen, die er so innig liebt. Vor dem Ohr Gottes, nicht vor dem von Menschen, schüttet er seine Klage aus. Lange Zeit ruft er schon zu Gott. Und jetzt, überwältigt von dem Gefühl der Hoffnungslosigkeit auf Wiederherstellung, bittet er den HERRN inständig mit Worten, die erfüllt sind von tiefer Seelenqual und Unruhe. Könnte es sein, dass sein Gebet nicht erhört bleibt? Und wenn nicht, wie lange muss er flehen, bis der Herr zeigt, dass Er gehört hat und dabei ist einzugreifen?
Er fühlte, so wie viele andere vor ihm, dass es besser wäre, das Unheil nicht zu sehen, als es zu sehen und damit beschwert zu sein, ohne eine Lösung finden zu können für den Zustand, der seine empfindsame Seele so bedrängt.
In dem gegenwärtigen Durcheinander der Christenheit besteht die große Gefahr, dass jemand, der fähig ist, die Dinge im Licht des Wortes Gottes zu sehen, ähnlich bekümmert ist. Einige sind sich des gefallenen Zustandes der Versammlung und der unheiligen Einflüsse auf die Versammlung zwar bewusst, stehen dem allen aber dennoch äußerst gleichgültig gegenüber. Dadurch offenbaren sie, dass sie kein Herz haben für die Herrlichkeit Gottes und das Wohl der Heiligen. Andere, deren Augen geöffnet und deren Gewissen durch den Heiligen Geist geübt sind, stehen in der Gefahr, angesichts der wachsenden Macht des „Geheimnisses der Gesetzlosigkeit“ [2Thes 2,7] übermäßig bedrückt und entmutigt zu sein. Sie bemerken schnell, wenn Christus entehrt und wenn von der Wahrheit sowohl zur Rechten als auch zur Linken abgewichen wird. Der scheinbar vorherrschende unabänderliche und schmerzliche Zustand bedrückt sie in ihrem Geist.
Natürlich liegen beide falsch. Keine geübte Seele kann oder sollte wirklich gleichgültig sein. Aber es braucht auch niemand entmutigt zu sein, denn alles ist vorausgesagt worden und wird auch eintreffen. Das war bei Israel so, das ist auch mit der Gemeinde so. Kein menschliches Versagen kann die Vorsätze Gottes vereiteln.
Was Juda betrifft: Die größte Gefahr kam durch den Zank und Streitgeist, der im Volk vorherrschte und Nährboden für Verderben und Gewalt war. Das Ergebnis: Das Gesetz wurde nicht beachtet und das Recht gebeugt. Die Bösen waren in hohen Stellungen, und von ihnen gingen verdrehte Verordnungen aus.
Es gab ganz sicher Grund genug, seine Seele vor Gott zu beugen; nicht als jemand, der das Recht hatte, über andere ein Urteil zu fällen, sondern als jemand, der Teil war von dem, was so entsetzlich fehlgeschlagen war. Hier finden wir Habakuk. Er gehörte zu denen, die über die Abscheulichkeiten seufzten und weinten, die in der einst heiligen Stadt geschahen.
Und der Herr ignoriert den Schrei seines Dieners nicht. Er antwortet ihm und erzählt ihm von der Züchtigung, die Er zur Erziehung seines ungehorsamen Volkes geplant hat: